Naomi Alderman: "Die Gabe"
Aus dem Englischen von Sabine Thiele
Heyne-Verlag, München 2018
480 Seiten, 16,99 Euro
Das Patriarchat hat ausgedient
Nichts für zarte Männerseelen: In Naomi Aldermans "Die Gabe" haben Frauen die Macht übernommen und üben sie brutal und ganz und gar "unweiblich" aus. Den Machtstrukturen der realen Welt werde so ein Spiegel vorgehalten, meint unser Rezensent: klug und augenöffnend.
Frauen sind undiplomatisch, brutal und gehen auf dem Weg zur Macht über Leichen. Frauen bilden Seilschaften. Frauen nehmen sich Männer, wenn sie sich danach fühlen. Frauen denken Sätze wie: "Die Fähigkeit, Schmerzen zuzufügen, ist eine ganz besondere Art von Reichtum."
Das Patriarchat hat ausgedient in Naomi Aldermans Roman "Die Gabe". Nicht weil sich die Gesellschaft bewegt hat. Nein, Männer sind immer noch Schweine. Sondern weil die britische Autorin Frauen Superkräfte verleiht. Ihnen wächst ein neues Organ am Schlüsselbein. Der sogenannte "Strang" erlaubt es, Elektroschocks per Hand zu verteilen - mal anregend, mal tödlich. Das Phänomen breitet sich aus und Männer weltweit finden sich plötzlich auf Platz zwei der Nahrungskette wieder.
Macht macht korrupt
Wer sich in Stoßrichtung, dystopischer Kraft und gelegentlichem Humor an Margaret Atwood erinnert fühlt, liegt richtig. Alderman wird von der Meisterin der Dystopie protegiert und hat ihr ihren aktuellen Roman gewidmet. Doch Alderman, die Tochter eines jüdischen Historikers, hat sich in der Vergangenheit immer wieder den Themen Religion und Frauenrechten zugewandt. Und auch ihr vierter Roman ist ein bissiger Kommentar auf die politischen, religösen und sozialen Zustände unserer Zeit. Aber "Die Gabe" ist kein militantes, feministisches Manifest. Es ist ein smartes Gedankenexperiment, das als euphorische Revolution beginnt und in einer Horrorshow endet. Denn natürlich wird alles gründlich schiefgehen. Wenn Alderman ihren Lesern etwas mitgeben will, dann eines: Macht macht korrupt, ganz egal ob XX- oder XY-Chromsomen.
Aldermans liebevoll gezeichnetes Personal ist fast ausschließlich weiblich. Da ist Allie, eine traumatisierte Waise, die sich zur Anführerin einer neuen Weltreligion aufschwingt und sich daran macht, die Menschheitsgeschichte - eine Geschichte der männlichen Dominanz, umzuschreiben. Da ist Roxy, die mächtige Tochter eines Gangsters. Und da ist Margot, eine US-Politikerin mit hervorragenden Beziehungen zum Militär.
Der Mann als Schwachstelle
Zu den größten Schwächen des Romans zählt die einzige männliche Hauptfigur. Der Nigerianer Tunde wird zum Chronisten der Revolution. Er dokumentiert Demos in Saudi-Arabien, wo Frauen genüßlich Jeeps per Handauflegen schmelzen lassen. Er beschreibt, wie Frauen einen Staat in Osteuropa unter ihre Kontrolle bringen. Und er interviewt abgehängte, wütende, männliche Terrorzellen. Aber wie der junge Mann vom unbekannten Videoblogger zum international anerkannten Journalisten aufsteigt, vom schüchternen Jungen zum schlagfertigen Reporter wird, ist dermaßen unplausibel, dass man sich fragt – form follows function - ob der Mann hier bewusst als Schwachstelle konstruiert wurde.
Der Schlagkraft des Romans tut das glücklicherweise keinen Abbruch. Alderman macht aus einer interessanten Idee ein kluges Buch. Sie verkehrt die Vorzeichen, erschafft eine neue Diktatur des Stärkeren und hält so den aktuellen Machtstrukturen den Zerrspiegel der Science-Fiction vor. Das ist erschreckend augenöffnend. Selbst für progressive Exemplare des männlichen Geschlechts.