Natalie Amiri: "Afghanistan"

Zwischen Wut und Resignation

05:39 Minuten
Das Cover des Buchs "Afghanistan" von Natalie Amiri
© Aufbau Verlag

Natalie Amiri

Afghanistan. Unbesiegter VerliererAufbau Verlag, Berlin 2022

255 Seiten

22,00 Euro

Von Martin Gerner |
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Nach der Machtübernahme der Taliban analysiert Natalie Amiri die Gründe für das Scheitern des Westens im längsten Krieg des 21. Jahrhunderts. Die ARD-Journalistin sprach auch mit vielen afghanischen Frauen auf der Suche nach Auswegen für die Zukunft.
Wer von der vielfach ausgezeichneten Journalistin Natalie Amiri eine ausführliche persönliche Kommentierung Afghanistans erwartet, wird enttäuscht sein. Stattdessen lässt sie in ihrem Buch zahlreiche Afghanen und Afghaninnen selbst zu Wort kommen: Fachleute, Prominente und mehr oder weniger zufällige Begegnungen entlang ihrer Recherche durch mehrere Provinzen.
Eine Momentaufnahme, so die Autorin, 100 Tage nach Rückkehr der Taliban. Wut und Konsternation von Jung und Alt werden spürbar, die bisweilen tief sitzende Scham der Menschen über das eigene Land. Aber auch die Kritik an den Geberländern ist greifbar.

Zwei Handys für die Kontrollen

Eigene Urteile und Einordnungen der Autorin gibt es nur zögerlich und im Ansatz. Amiri verpackt mutmaßliche Erkenntnisse vor allem säuberlich in Zitaten. Macht sie sich diese auch zu eigen? Man kann das vermuten, schlussendlich bleibt es offen. Da ist Amiri ganz Journalistin. Urteile und Beschreibungen der aktuellen Lage kleidet sie regelmäßig in Worte afghanischer Gesprächspartner, wie hier:
„Seit die Taliban die Straßen kontrollieren und überall zu dritt, viert, fünft und sechst mit US-Waffen, Helmen und Handschellen stehen, verlangen sie auch nach Handys und checken Chatverläufe. Wenn sie sich mit einer Sache gut auskennen, dann mit Handys. Sie hatten genug Zeit, sich die letzten Jahre damit zu beschäftigen, in den Bergen. Sie hatten nichts außer das Internet, deshalb beherrschen sie es so gut. Wer es sich leisten kann, der hat zwei Handys. Ein ‚sauberes‘ für die Taliban-Kontrollen und eines, das man versteckt.“
Ein Jahr nach dem überhasteten, traumatischen Abzug des Westens vom Flughafen in Kabul möchte der Leser wissen, wie und warum es zum Desaster kam. Die Bilder der Menschen, die sich in Verzweiflung an Militärmaschinen hefteten, sind Teil unseres medialen Welt-Gedächtnisses geworden. „Es waren nie 300.000 Soldaten im Einsatz“, schreibt Amiri zu einer häufigen Fehleinschätzung. „Während die amerikanische Regierung der Öffentlichkeit vorgaukelte, die afghanische Armee würde große Fortschritte machen, lief es in Wahrheit gar nicht gut.“

Kein regelmäßiger Sold für die Armee

Das Vorgaukeln einer überlebensfähigen Armee zeichnete sich vor zehn Jahren schon ab. Damals zog die Masse des US- und ausländischen Militärs ab, inklusive der Bundeswehr. In Amiris Gesprächen schließt sich ein Kreis. „Die afghanischen Generäle", zitiert sie Ex-Finanzminister Khalid Payenda aus dem Kabinett des geflohenen Präsidenten Ashraf Ghani, "hätten immer überhöhte Zahlen angegeben, damit sie dafür das Geld vom Westen bekämen. Die Soldaten hätten sie dagegen nicht regelmäßig besoldet. Von den Taliban hätten sie auch noch Geld bekommen, wenn sie freiwillig Stellungen aufgaben".
Korruption als Einfallstor für die Taliban: ein Kernnarrativ des Buchs. Das trifft eine Wahrheit, an der der Westen mit jedem Jahr mehr Anteil hatte, denn durch ihn kamen die Milliarden ins Land. Die Autorin zitiert den Mitarbeiter einer afghanischen Anti-Korruptionsbehörde über die Mitverantwortung des Westens: „Die internationale Gemeinschaft hat mehr Geld nach Afghanistan gebracht, als die Regierung hätte ausgeben können. Mit Geld ließ sich alles erreichen. Man wurde quasi dazu erzogen. Zum Beispiel könnte man das gerichtsmedizinische Institut dazu bewegen, einen Toten als lebendig und eine lebende Person als gestorben zu bescheinigen. Beispiele solcher Art gab es viele.“
Politische Planungen von oben, allen voran Demokratie und Nationbuilding, war so der Boden entzogen. Deutschland versagte, so Amiri, aber noch an anderer Stelle. „Ziel der deutschen Politik war auch, die Amerikaner bei Laune zu halten. Deshalb blieb man in Afghanistan. Die Verweigerung der Bundesregierung, sich am Krieg gegen den Irak zu beteiligen, trug also letztlich zur Verlängerung des Krieges in Afghanistan bei.“

Verzweifelte Nachrichten ins Ausland

Der rote Faden im Buch sind die Stimmen afghanischer Frauen, denen der Band gewidmet ist. Frauen müssen wieder die Burka tragen, sich verhüllen. Unter den Frauen sind Studierende und Berufstätige. Frauen, die verzweifelte Nachrichten ins Ausland schicken und sich weiter vor den neuen Machthabern verstecken. Frauen, für die sich Amiri eingesetzt hat, mal mit Erfolg, mal ohne. Viele selbstbewusste Frauen sind darunter.
Deshalb irritiert die Bildstrecke in der Mitte des Buches. 17 Fotos, die das Armut- und Burka-Narrativ betonen und suggerieren, dass Gott nur noch zum Weinen nach Afghanistan kommt. Dabei vermitteln viele Gespräche im Buch durchaus ein anderes Bild.
Interessant ist der Einblick in Amiris persönliche Messenger-Protokolle der Evakuierungen in den dramatischen Tagen und Wochen um den 15. August 2021. Klar wird das ebenso hilflose wie beschämende Kompetenzgerangel deutscher Ministerien untereinander. Der Streit mit Teilen der deutschen Zivilgesellschaft um dringend benötigte Evakuierungsflüge. Die abermalige Hybris, humanitär noch Entscheidendes bewirken zu können, während man schon „raus“ geht - und die Fehler der vorherigen 20 Jahre unumkehrbar werden.

Unveränderte Ideologie der Taliban

Zum Ende des Buchs bleibt die Frage, wie es mit den Taliban weitergeht, wie man mit ihnen umgehen soll. „Die Taliban-Ideologie von heute ist dieselbe wie in den 90er-Jahren“, zitiert Amiri einen afghanischen Autor. Dann lässt sie Ahmed Rashid zu Wort kommen, dessen Taliban-Buch bis heute als Standardwerk gilt: „Welches politische System wollen sie etablieren? Sie sagten, sie würden das Volk beteiligen, aber wie werden sie das tun? Durch Wahlen? Oder über die Loja Dschirga? Oder doch Diktatur? Die Frage ist: Kann mit einer solchen Ideologie ein Staat geführt werden? Die Antwort ist definitiv: Nein!“
Angesichts von Ukraine-Krieg und humanitärer Katastrophe in Afghanistan wünscht sich die Autorin wiederholt mehr Mut in der deutschen Außenpolitik. Wie aber die afghanische Zivilgesellschaft stärken, auf die man, anders als 2001, kaum mehr Einfluss hat? Anerkennung der De-facto-Verhältnisse, aber unter welchen Bedingungen? Zu welchem Preis? Antworten und mögliche Szenarien bieten genug Stoff für ein weiteres Buch.
Ältere Frauenrechtlerinnen, die die Autorin befragt, rufen zu Widerstand auf. Andere sprechen im Zeichen der neuen Ohnmacht, wie dieses Mädchen: „Der Tod wäre für uns Mädchen vielleicht sogar ein Glück, wenn die Alternative ist, von einem Kämpfer vergewaltigt zu werden. Selbst wenn dies nicht passiert, würden sie uns mit Gewalt mit einem Mann verheiraten, den wir nicht kennen und nicht lieben. Dann müssten wir Kinder großziehen, die durch diese Vergewaltigungen entstanden, und diese Kinder würden in einer gnadenlosen Welt aufwachsen, ohne zu wissen, wer wir waren: mutige Frauen, die ihre Stimme erhoben.“

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