Natalie Kriwy: "14/09 Tagebuch einer Genesung"

Mit der Kamera dem Krebs begegnen

Brustkrebsgewebe, mikroskopischer Schnitt
Brustkrebsgewebe: Am 14. September 2011 wurde bei der Lübecker Fotografin Natalie Kriwy die Krankheit diagnostiziert. © imago/blickwinkel
Von Tabea Grzeszyk |
Die Fotografin Natalie Kriwy erhielt im Alter von 32 Jahren die Diagnose Brustkrebs. Seitdem hat sie ihre Krankheit und ihren Körper mit über 6000 Fotos dokumentiert - und die Kamera selbst bei der Amputation ihrer Brüste dabei gehabt.
Die Fotografin Natalie Kriwy blickt frontal in die Kamera, als würde sie für ein Passbild posieren. Neutraler Gesichtsausdruck, neutraler Bildraum ohne besondere Kennzeichen. Sie trägt eine weiße Bluse mit V-Ausschnitt, darüber eine graugesteppte Weste, einzig die blaugrünen Augen und ihr dunkelblondes Haar stechen vom weißen Hintergrund ab.
18 über eine Doppelseite gedruckte Schnappschüsse und vier Großaufnahmen später hat die junge Frau nur noch ein paar Haarbüschel übrig. "Zwei Stunden lang habe ich mir die Haare vom Kopf gezogen. Den Rest rasiere ich ab", schreibt sie links oben neben das letzte Foto der Serie.
"Haar-Aktion" nennt Natalie Kriwy die Bilderstrecke, die während des ersten Zyklus ihrer Chemotherapie entsteht. Sie ist 32 Jahre alt, als sie in ihrer linken Brust einen Knoten ertastet und am 14. September 2011 die Diagnose Brustkrebs erhält. Anstatt zu warten, bis ihre Haare von alleine ausfallen, hat die Lübecker Fotografin die sichtbarste Nebenwirkung ihrer Krebsbehandlung zu einem selbstgewählten Zeitpunkt in Szene gesetzt:
"Einmal eine Glatze! Das hätte ich mich sonst nie getraut", schreibt sie in ihr Tagebuch.

Keine Tränen, keine Verzweiflung, keine Schock-Effekte

Die Bilderstrecke überrascht und irritiert zugleich. Es gibt keine Tränen, keine Verzweiflung, keine Schock-Effekte. Vielmehr neugierige Blicke, Grimassen, ein Lächeln.
Die Kamera scheint Natalie Kriwy eine Distanz und sachliche Neugierde auf den eigenen Körper ermöglicht zu haben, die ihre Krankheit in eine Art wissenschaftliches Forschungsprojekt verwandelt hat:
"In den folgenden zwei Jahren machte ich über 6000 Fotos. Meine schriftlichen Aufzeichnungen füllen zwei Tagebücher. Ich listete alle Medikamente, die ich nehmen und die mein Körper verarbeiten musste. Ich sammelte, was sammelbar war: ausgerissene Haare, ausgefallene Wimpern und Augenbrauen, Krustenreste von meinen Narben, verbrauchte Spritzen und alte Pflaster, meine Kompressions-BHs, die ich nach der Operation tragen musste",
schreibt sie im Vorwort.

Kontrolle statt Ohnmacht

An die Stelle der Ohnmacht angesichts ihrer körperlichen Veränderungen setzt die Fotografin die begrenzte Kontrolle über ihre Bilder. Mit beeindruckender Konsequenz: Als ein Gentest ergibt, dass die Krebserkrankung auf eine Mutation zurückzuführen ist, die eine hohes Risiko für weitere Krebserkrankungen bewirkt, lässt sich Natalie Kriwy beide Brüste amputieren.
Selbst im Operationssaal ist ihre Kamera dabei, in festgelegten Momenten drücken Schwestern aus festgelegten Perspektiven auf einen Fernauslöser. Es ist erstaunlich, mit welcher Konsequenz Natalie Kriwy die Dokumentation ihrer Krankheit organisiert hat.
Diese bewusste Fokussierung auf das Wesentliche fehlt mitunter im zweiten Teil des 244 Seiten starken "Tagebuch einer Genesung", das Auszüge aus Nathalie Kriwys persönlichen Tagebüchern samt akribischer Aufzeichnung aller eingenommenen Medikamente enthält.
Sehr berührende Textpassagen gehen teilweise in der Fülle der Alltagsbeschreibungen unter. Nathalie Kriwy ist Fotografin, keine Autorin. Trotzdem: Ihr Buch ist ein extrem beeindruckendes Zeugnis einer sonst oft für Gesunde "unsichtbaren" Welt.

Natalie Kriwy: "14/09 Tagebuch einer Genesung"
Prestel Verlag, München 2016
224 Seiten, 29,95 Euro

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