Nation und Nationalismus

Jede Generation schafft sich ihre nationalen Mythen

32:47 Minuten
18. Januar 1871: König Wilhelm I. von Preußen wird im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. “Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches”. Gemälde, 1885, von Anton von Werner (1843–1915). Öl auf Leinwand, 167 × 202 cm. (3., sog. Friedrichsruher Fassung). Friedrichsruh, Bismarck-Museum.
Damals Höhepunkt für viele Deutsche, hingegen Schmach für Frankreich. 18. Januar 1871. Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches im Schloss Versailles. © picture alliance / akg-images
Von Hans von Trotha |
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Mit der Reichsgründung 1871 erlebte der deutsche Nationalismus seinen ersten Höhepunkt. Er sollte nicht der letzte gewesen sein. Jede Generation hat das Nationale für sich wiederentdeckt. Das Fatale daran – eine Nation braucht auch immer einen Feind.
"Guten Morgen liebe Hörer in Ost und West. Heute ist Donnerstag der 13. August 1964. An diesem Tage begehen wir ein trauriges Jubiläum. Heute vor drei Jahren wurde mitten in unserem Lande ein monströses, ein unmenschliches Bauwerk errichtet: die Berliner Mauer."
Als letzter einer Reihe von Filmen nach Romanen des Bestseller-Autors Johannes Mario Simmel kam 1975 in der Regie von Roland Klick ein Ost-West-Thriller heraus, dem das "Lexikon des Internationalen Films" seinen Platz in der Filmgeschichte zuweist, mit den Worten:
"Effektvoll inszenierter Action-Film nach einem Simmel-Roman, der jedoch durch politische Phrasen und penetrante Sentimentalität verärgert."
Der Titel von Roman und Film: "Lieb Vaterland magst ruhig sein"
"Politische Phrasen" waren nicht selten, wenn man sich in den 70er-Jahren es 20. Jahrhunderts dem Thema "Vaterland", "lieb Vaterland" gar, zuwandte. Das Nazi-Regime, der Krieg und der Holocaust waren noch nicht so lang her und standen bei vielen Deutschen einer unverstellten Vaterlandsliebe ebenso im Weg wie die Tatsache, dass es der Vaterländer zwei gab.
Aus jener Zeit stammt das von dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger formulierte Konzept eines "Verfassungspatrotismus" – zuerst publiziert in einem Zeitungsartikel von 1970.
"Für mich persönlich ist der Verfassungspatriotismus der richtige Begriff", sagt Enrico Brissa. Er ist Historiker und Protokollchef des Deutschen Bundestags.
"Weil er, richtig verstanden, sowohl traditionelle Gefühle einer patriotischen Bindung, also eher quasi aus dem Herzen kommend, zulässt und andererseits auch die wertebezogene, also auf die Verfassung bezogene, werteorientierte Interpretation zulässt. (…) Da muss man vielleicht verstehen, dass Dolf Sternberger das Prinzip des Verfassungspatriotismus ja gerade in Hinblick auf die deutsche Teilung formuliert hat. Er wollte etwas anbieten, wie wir Deutsche patriotisch fühlen können, obwohl unser Staatsgebiet eben geteilt war."
Denkfabrik: Auf der Suche nach dem "Wir". Viele Hände umfassen gemeinsam ein Seil.
Auf der Suche nach dem "Wir"© Deutschlandradio
Auch Simmels Roman "Lieb Vaterland magst ruhig sein" erschien 1970. Im Jahr darauf brachte der Schlagersänger Udo Jürgens seine Version von "Lieb Vaterland" auf den Plattenmarkt:

"Lieb Vaterland
Du hast nach bösen Stunden
Aus dunkler Tiefe einen neuen Weg gefunden
Ich liebe dich
Das heißt ich hab dich gern
Wie einen würdevollen, etwas müden alten Herrn"
Der Mainstream-Barde Udo Jürgens wurde wegen dieses Textes im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik regelrecht ins Kreuzverhör genommen. Manche Radiosender weigerten sich, das Lied zu spielen.
"Die Freiheit, die Du allen gleich verhießen
Die dürfen Auserwählte nur genießen
Lieb Vaterland magst ruhig sein…"
Das erschien vielen schon als eine Art Vaterlandsverrat. Die Hitparade zog eh das Original vor, das der Schlagerstar Heino die ganzen 70er hindurch im Repertoire hatte. Dieses Original stammt aus dem Jahr 1840, aus der Frühphase einer deutschen nationalen Bewegung. Der Text reagierte unmittelbar auf die sogenannte Rheinkrise, provoziert durch die französische Forderung, den Rhein als quasi natürliche Grenze Frankreichs anzuerkennen. In den Geschichtsbüchern gilt die Rheinkrise als Durchbruch des Nationalismus als Massenbewegung in den deutschen Ländern. "Die Wacht am Rhein" war gewissermaßen der Soundtrack dazu.
"Man muss sich eben klarmachen, dass der Nationalismus ein neuartiges Phänomen ist, der eine bestimmte Krisensituation und den Zerfall der geltenden Ordnung voraussetzt. Und in dieses Vakuum schiebt er sich hinein und bietet den Menschen sozusagen eine, wie sie überwiegend dann finden, überzeugende Gegeninterpretation."
2006 gab der inzwischen verstorbene Historiker Hans-Ulrich Wehler, einer der profiliertesten deutschen Forscher zum Thema Nationalismus, Deutschlandradio Kultur, wie unser Programm damals hieß, ein Interview.
"Die frühen Nationalbewegungen sind überwiegend liberal. Das kann man in England, Amerika und Frankreich genauso verfolgen wie der deutsche Frühnationalismus ist ein Teil der großen liberalen Bewegung. Und die Liberalen sind gewöhnlich auch Nationale."
Der Historiker Christoph Jahr, Autor des Buches "Blut und Eisen. Wie Preußen Europa erzwang". Christoph Jahr spricht für das 19. Jahrhundert vom "Nationalismus als vorherrschender Gesellschaftsideologie und sozialer Praxis".

Die Nationsbildung braucht auch einen Feind

"Der moderne Nationalismus, darum gibt es große Forschungsdebatten, aber ich denke, mit einiger Vorsicht kann man den Begriff immer noch sinnvoll nutzen, der letztlich mit der Französischen Revolution wirklich entsteht – diese Vorstellung der einen und unteilbaren Nation, diese Idee kommt letztlich aus Frankreich, verbreitet sich mit den Napoleonischen Kriegen eben in ganz Europa und hat sehr stark dann natürlich auch eine antifranzösische Schlagseite von Anfang an.
Dieser Nationalismus ist auch wieder doppelgesichtig: Er verspricht einerseits die Gleichheit aller Staatsbürger, das war zu der Zeit natürlich männlich gedacht, und die Männer von Besitz und Bildung, aber trotzdem ist es gegenüber der Feudalordnung ein gesellschaftlicher Fortschritt. Gleichzeitig scheint es aber so zu sein, dass jede Nationsbildung immer auch einen Feind braucht, jemanden, der nicht dazu gehört.
Das können innere Feinde, Gegner sein, konfessionelle Gruppierungen, nationale Minderheiten, das sind aber natürlich auch äußere Feinde, im deutschen Fall eben: die Franzosen. Und das ist dann diese Doppelgesichtigkeit, die der Nationalismus eigentlich immer mit sich trägt. Das heißt: Dieser Nationalismus ist im 19. Jahrhundert sehr stark auch mit liberalen Vorstellungen verknüpft, also: Wir schaffen die Zöpfe des Mittelalters ab, wir gründen eine moderne Bürgergesellschaft, es gibt einen Parlamentarismus – all das, was wir bis heute ja sehr wertschätzen, aber eben immer auch die Möglichkeit, andere Gruppen auszuschließen und zu sagen: Die gehören nicht dazu. Also keine Nationsgründung ohne Feinderklärung letztlich."
Hedwig Richter, Professorin für Geschichte an der Hochschule der Bundeswehr München, hebt in einem Interview zum Thema für den Bildungskanal ARD alpha hervor:
"Ja, das sehen wir in der ganzen Geschichte dann des 19. Jahrhunderts, in der Entwicklung des Nationalismus. Das muss nicht unbedingt so sein, dass man gleich Gegner schafft, aber zu dieser Idee von Nation wie zur Idee von Demokratie gehört dazu, dass man definiert, wer dazugehört, und das heißt, immer automatisch, dass man definiert, wer nicht dazugehört."

"Erstens mal greifen alle Erfinder des Nationalismus – und ich gebrauche den Begriff Nationalismus, wie das in der internationalen Forschung üblich ist, nicht so als pejorativen Begriff wie im Deutschen, sondern so wie wir von Liberalismus, Sozialismus, Konservativismus sprechen – also die Erfinder dieses neuen Glaubens greifen, und das kann gar nicht anders sein, wenn Menschen sich neu orientieren, auf den Ideenhaushalt ihrer Zeit zurück. Und was finden sie als vorgegebenen Topos und Überzeugung in der christlich-israelitischen Tradition? Das ist die Vorstellung vom auserwählten Volk."
Marina Münkler ist Professorin für ältere und frühneuzeitliche Literatur. Zusammen mit ihrem Mann, dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler, hat sie die Bücher "Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft und Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland" geschrieben. Sie hat sich aber zum Beispiel auch mit der frühneuzeitlichen Erfahrung des Fremden beschäftigt. Ist womöglich ebendies, die Erfahrung des Fremden, eine Grundbedingung für das Konzept der Nation und damit des Nationalismus?
"Das glaube ich nicht eigentlich. Ich glaube eher, es ist die Konstruktion des Anderen, die eine Grundbedingung des Nationalismus ist – nicht der Nation, wohl aber des Nationalismus. Und die Differenzierung zwischen fremd und anders halte ich in diesem Falle für besonders wichtig, denn das Fremde ist zunächst einmal das, was mir nicht habituell als Person vertraut ist. Das heißt aber noch gar nicht, dass damit eine Urteilsbildung verbunden ist.
Die Konstruktion des Anderen geht dagegen ganz häufig mit einer solchen Urteilsbildung einher. Und für den Nationalismus ist sie kennzeichnend, nämlich, den Anderen als unterlegen, als nicht gleichwertig, als minderwertig – das ist auch das, was heute mit dem Begriff des Othering, also jemanden erst einmal zum anderen machen, bezeichnet wird. Nach innen dominiert dann ja eigentlich eher so eine Form der Vergemeinschaftung, also dass man davon ausgeht: Nach innen sind in der Nation alle zusammengehörig. Aber das geschieht im Nationalismus eben durch die Ausgrenzung von bestimmten Gruppen."


In der Vertonung von Carl Wilhelm wurde das Lied von der "Wacht am Rhein" neben "Heil dir im Siegerkranz" zu einer Art inoffizieller Nationalhymne des deutschen Kaiserreichs.
Der Musikwissenschaftler Peter Schleuning bezeichnet diese Melodie als:
…charakteristisch für eine "deutsche Reichsharmonik". Die Spannungsaufladung mit Quartsextakkord-Melodik, die dann mit Fanfaren in der Grundstellung der Grundtonart aufgelöst wird, entspricht Mustern etwa bei Richard Strauss. Ihren Prototyp bildet das Thema des Schlusssatzes von Beethovens 5. Sinfonie.
"Nur ist dies bei Beethoven erst der Satz-Anfang einer Sinfonie, aus dem noch Weiteres folgt."
Gemälde aus dem Jahr 1873, von Hermann Wislicenus, mit der Darstellung der Germania auf der Wacht am Rhein.
Gemälde "Die Wacht am Rhein" 1873, von Hermann Wislicenus. Damals galt das Lied als eine Art inoffizielle Nationalhymne.© pictures alliance / akg-images

"Der Sieg erscheint stets als gewiss"

Während, so der Musikwissenschaftler, in der "Wacht am Rhein" nichts mehr folgt. Eine wirkliche textliche und musikalische Spannung gebe es hier nicht. "Der Sieg erscheint stets als gewiss." Das Fazit des Musikwissenschaftlers Peter Schleuning lautet:
"Das macht also die Melodie unter anderem so brauchbar: kriegerische Aggression und volkstümliche Herz-Schmerz-Terz-Innigkeit; gewaltiger spannungsgeladener Stau über dem Quartsextakkord und Erlösung in der schrecklich leeren Tonika Fanfare."
Was hier musikalisch zum Ausdruck gebracht, wenn nicht sogar erzeugt wird, ist die unmittelbare emotionale Bindung an ein Konstrukt, das zu diesem Zeitpunkt noch neu und intellektuell vielleicht noch gar nicht durchdrungen war. Umso intensiver wurde es emotional stimuliert und behauptet: die Zugehörigkeit von vielen Einzelnen zu einer Nation.
"Nach 1870 im deutschen Fall lässt sich doch sehr deutlich feststellen, dass sich der Nationalismus dann weiter verhärtet. Er wird, wenn man so will, rechter, konservativer, ausschließender", sagt Christoph Jahr.

1871. Die Gründung des deutschen Kaiserreichs. Der Nationalismus der vorangegangenen Jahrzehnte war eine Art Zünderenergie für diese Einigung. Und die Einigung erwies sich dann als Turboerhitzer für einen neuen Nationalismus. Dieser zweite Aufguss der großen Beschwörung der Macht der einigenden Nation ist zwar ideologisch dünner begründet, im Auftritt aber umso vehementer.
Die Idee der Nation und die zwischen populär und populistisch schwankende Ableitung eines Nationalismus ergreift alle europäischen Länder. Und nicht nur die. "Nation ist unheimlich attraktiv. Es ist einer der attraktivsten Exportschlager, den Europa hat. Inzwischen organisieren sich fast weltweit die Länder als Nationalstaaten", sagt Hedwig Richter. Und der Nationalismus schafft seine eigenen Kulturtechniken. Die Länder liegen in einer Art Wettstreit in der Disziplin Nationalismus.
1903 wird in Frankreich erstmals eine Fahrradrundfahrt ausgerichtet, die alle Teile des Landes in einem nationalen Taumel verbinden und die nationale Einheit beschwören soll, indem sie alle wichtigen Kulturdenkmäler und Naturschönheiten des Landes passiert: die Tour de France.
In Schweden unternimmt derweil, stellvertretend für alle, ein kleiner Junge auf dem Rücken einer Gans eine solche nationale Rundreise in Form eines Rundflugs. 1901 beauftragte der nationale schwedische Lehrerverband die Schriftstellerin Selma Lagerlöf mit einem Werk für die Volksschulen, das die Größe Schwedens zeigen sollte, die geografische wie die kulturelle – eines der größten Publikationsprojekte, die Schweden bis dahin gesehen hatte. Das Ergebnis ist:
"Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden"
Weltliteratur im Auftrag des nationalen Unterrichtsministeriums. So friedlich kann es zugehen, wenn ein Land sich als Nation vermisst. Kritisch wird es immer dann, wenn sich die Nation und diejenigen, die sich ihr ganz besonders zugehörig fühlen, nicht nur an sich selbst messen, sondern gegen andere definieren, sei es im Inneren, sei es nach außen.
Historische Zeichnung mit der Darstellung der Proklamation des Königs von Preußen. König Wilhelm I. von Preußen, wird 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen.
Turboerhitzer für einen neuen Nationalismus. Historische Zeichnung mit der Darstellung der Proklamation des Königs von Preußen 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles. © picture alliance / image broker / H.-D. Falkenstein

Wenn es stimmt, dass die Einigung zum deutschen Kaiserreich 1871 zu einem neuerlichen nationalistischen Schub führte, dann gilt das erst recht für die Beschwörung der nationalen Einheit bei der Entfesselung des Ersten Weltkriegs. Der deutsche Kaiser verkündet, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche.
"Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter sich neu gründeten. Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross. Noch nie war Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war."
Nils Holgersson fliegt mit den Gänsen, die von Möwen gejagt werden. Illustration von Mary Hamilton Frye aus dem Jahr 1925, nach dem Buch von Selma Lagerlöf.
Auch Schweden beispielsweise schaffte sich eine nationale Erzählung. Nils Holgersson fliegt mit den Gänsen. Illustration von Mary Hamilton Frye aus dem Jahr 1925, nach dem Buch von Selma Lagerlöf.© imago / Collection Jonas Kharbine Tapabor

Der Nationalismusbegriff im Wandel der Zeit

"Unter Nationalismus versteht man wahrscheinlich in jeder Epoche etwas anderes. Ich persönlich differenziere zwischen der Bedeutung des Nationalstaats, zwischen dem patriotischen Gefühl dem Nationalstaat gegenüber auf der einen Seite und einem übersteigerten Nationalismus", sagt Enrico Brissa, der Historiker und Protokollchef des Deutschen Bundestages.
Der Dichter Christian Morgenstern wurde 1871 geboren, während der ersten großen nationalistischen Reprise, und starb 1914, als es wieder so richtig losging im Namen der Nation. In seinem Nachlass fand sich der Vers:
"Was mir ´Patriotismus` ist?
Ein Gefühl, das zehn andre frisst."
"Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden." George Orwell.
"Der Nationalismus, das ist die Liebe, die mich mit den Dummköpfen meines Landes verbindet, mit den Beleidigern meiner Sitten und mit den Schändern meiner Sprache." Karl Kraus.
"Was ist Nationalismus? Das ist ein Patriotismus, der seine Vornehmheit verloren hat." Albert Schweitzer.
"Eine Kinderkrankheit. Sozusagen die Masern der Menschheit." Albert Einstein.
Da hat sich Albert Einstein leider geirrt. Weder konnte der Nationalismus bislang ausgerottet werden, noch kann man sich dagegen impfen lassen. Das 20. Jahrhundert war kein Deut weniger ein Jahrhundert des Nationalismus als das 19. Jahrhundert.

In jeder Generation kocht der Nationalismus hoch

Einen Vortrag für die Bundeszentrale für politische Bildung begann der Historiker Christian Geulen 2019 mit den Worten:
"Dass der Nationalismus heute wiederkehrt, ist eine Diagnose, die zugleich die Annahme impliziert, dass er einmal, zumindest teilweise, überwunden schien."
"Der Nationalismus war nach 1945 so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Schlachten zweier Weltkriege und die extremen Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bringen ließen. Es sei der Nationalismus gewesen, so das bis heute in Schulbüchern tradierte Bild, der in den Ersten Weltkrieg geführt habe und der danach in nochmals radikalisierter Form wiedergekehrt, um schließlich – angereichert mit antisemitischen und rassistischen Ideologien – auch in den Zweiten Weltkrieg zu führen."
Als Hitler 1933 an die Macht kommt, treiben die Nationalsozialisten die nationalistische Idee vom auserwählten Volk mit beispielloser Aggressivität auf die Spitze. Bevölkerungsgruppen, die nicht zum auserwählten Volk gehören sollen, werden eliminiert, die Welt außerhalb des Reiches mit Krieg überzogen, um sie zu unterwerfen. Nicht gefühlsbetont: "Lieb Vaterland", sondern gnadenlos: "Deutschland, Deutschland über alles".
1871, 1914, 1933: Immer wieder jagen nationalistische Schübe durch die deutsche Gesellschaft und graben sich tief in die Nationalgeschichte. Was sich schon bei der Reprise des aus dem Geist der Französischen Revolution hervorgegangenen Nationalgedankens in der deutschen Reichsgründung andeutete, setzt sich im 20. Jahrhundert fort: In jeder Generation kocht der Nationalismus wieder hoch – als emotional verbindende Behauptung einzelner Gruppen im Innern und als abgrenzendes Konstrukt nach außen. Jedes Mal ideologisch dünner begründet, dafür umso robuster. Bis 1945. Und dann?
"Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Nationalismus ein neues Revival erlebt. Die waren zwar alle überzeugt in Europa, wir müssen zusammenwachsen, aber selbstverständlich auch auf der Grundlage der Nation", sagt Hedwig Richter.

"Deutschland einig Vaterland!"

Im geteilten Deutschland war das allerdings nicht so einfach.
"Was ist des Deutschen Vaterland?"
Das alte Klagelied des nationalbewegten Dichters Ernst Moritz Arndt aus dem Jahr 1813 brachte auch die deutsche Nachkriegssituation auf den Begriff. Willy Brandts neue Ostpolitik klärte 1970 einen Teil der Frage: Die Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße gehörten nicht mehr dazu. Was blieb, war die scheinbar in Stein gemeißelte deutsche Teilung. Bis 1989. 1990.
"Wir sind das Volk!
Wir sind ein Volk!
Deutschland einig Vaterland!"
"Ich würde nicht sagen, dass es 1990 einen Automatismus für einen neuen Nationalismus gegeben hat. Aber historisch kann man das schon so beschreiben. Man kann beobachten, dass in der Besetzung auch der Parole der Demonstrationen von 1989 ´Wir sind das Volk` als die Vorstellung eines souveränen Volks zu ´Wir sind ein Volk`, dass sich da zum ersten Mal so etwas zeigt. Aber mitnichten bei allen. Und das sieht man auch jetzt. Ich würde sagen, diese zunehmend dünner gewordene Ideologie ist auch durchaus keine mehrheitsfähige mehr", sagt Marina Münkler.
Der Historiker Eckart Conze zeigt sich in einem Buch mit dem Titel "Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe" aus dem Jahr 2019 dagegen alarmiert:
"Drei Jahrzehnte später ringt die ´Berliner Republik… mit einer Renationalisierung, ja einem neuen Nationalismus, der außenpolitische Bindungen, nicht zuletzt in Europa, infrage stellt und innenpolitisch und gesellschaftlich einer völkisch bestimmten nationalen Identität das Wort redet. Was verstehen die Deutschen der Gegenwart unter Nation? Und wie sehen sie damit sich selbst? Ein freiheitliches und demokratisches Nationsverständnis, wie es sich in den Jahrzehnten nach 1945 entfalten konnte, wird heute wieder herausgefordert. Es wird infrage gestellt von politischen Kräften, für die Nation nicht auf Freiheit, Demokratie und der Würde des Menschen beruht, sondern auf einer in erster Linie ethnisch begründeten Zusammengehörigkeit und auf einem Verständnis von Nation, das auf der Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft beruht."

"Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen"

Wie früher. – Auch die "Wacht am Rhein" ist wieder da. Oder immer noch.
"Der Michel. Deutscher Sang und Klang." Unter dieser in Fraktur gesetzten Überschrift lässt sich auf Youtube zum Beispiel diese Version der "Wacht am Rhein" abrufen. Im Video weht in Nahaufnahme Schwarz-Rot-Gold.
"So, wie ich den Begriff verstehe, würde ich eher von Patriotismus sprechen als von Nationalismus." Enrico Brissa hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Flagge zeigen. Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen"
"Und ein Staatswesen kann meines Erachtens insbesondere heute nicht funktionieren ohne eine hinreichende Bindung der Bürgerinnen und Bürger an den Staat und an die Verfassung."
Es gab für Enrico Brissa einen konkreten Anlass, dieses Buch zu schreiben.
"Es waren sehr unangenehme Erlebnisse auf einer Demonstration gegen Nationalismus, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, und ich habe einfach gedacht, dass wir seit 2006, seit dem Sommermärchen in Deutschland, ein anderes Verhältnis zu unseren Staatssymbolen, insbesondere zu unserer Nationalflagge, hätten. Und was ist passiert? Wir sind dort auf großes Unverständnis gestoßen und auch angegriffen worden, weil wir mit Schwarz-Rot-Gold und der Europa-Flagge mitdemonstriert haben."
Brissa geht es darum, das wichtigste Nationalsymbol der Deutschen davor zu bewahren, dass es als Nationalismus-Symbol missbraucht wird.

"Zunächst einmal kommt es ja immer darauf an, was die jeweiligen nationalen Symbole sind. Ich halte es zum Beispiel für sinnvoll, was ja im Bundespräsidialamt auch geplant wird, die Paulskirche wieder viel stärker zu einem nationalen Symbol zu machen. Die eignet sich sehr gut dafür, sie ist eben ein nationales Symbol, das einen demokratischen Bezug hat.
Auf dem »Hambacher Fest« vom 27.-30. Mai 1832 demonstrieren über 30.000 Bürger, Handwerker und Bauern für Einheit und Freiheit in Deutschland. Aquarell von Max von Boehn (1860-1932) nach einem zeitgenössischen Stich.
Schwarz-Rot-Gold auf dem "Hambacher Fest" am 27. Mai 1832, Aquarell von Max von Boehn (1860-1932) nach einem zeitgenössischen Stich.© picture-alliance / akg-images
Und das ist ein ganz entscheidender Aspekt: Was wird denn jeweils zum nationalen Symbol? Diese Entscheidung allerdings, die sollten wir nicht den Rechten überlassen. Deswegen glaube ich, brauchen wir sozusagen unter dem Aspekt von Flagge zeigen die Vorstellung von Symbolen, die geeignet sind, für eine demokratische Vorstellung und für eine rechtsstaatliche Vorstellung von dem, was Deutschland als Nation sein kann", sagt Marina Münkler.
"Vielmehr ist der heutige Nationalismus viel geschichtsvergessener als alle seine Vorläufer", konstatiert der Historiker Christian Geulen in seinem Vortrag für die Bundeszentrale für politische Bildung.
"Nur selten mobilisiert er Herkunfts- und Ursprungsmythen. Stattdessen stellt er sein enges, ethnozentrisches und vollkommen vorpolitisches Nationsverständnis unmittelbar in den Raum des Politischen – und das gerade nicht mehr im Namen der Nation, sondern mit dem Anspruch, das Politische und die Demokratie selbst neu zu erfinden: ´Wir sind das Volk.` Gerade die scheinbar ewige Wiederkehr des Nationalismus sollte uns nicht blind machen: Weder für das, was heute wirklich neu und gewiss nicht wiedergekehrt ist, noch für das, von dem wir nie geglaubt hätten, dass es wiederkehren könnte."

Wo hört Patriotismus auf, und wo fängt Nationalismus an?

"Ich würde sagen, die Idee der Nation ist nicht obsolet geworden, insofern sie sich als eine gemeinschaftliche, eine zusammengehörige denkt, die aber nicht auf Ausschließung beruhen muss, nach wie vor wichtig ist, weil bestimmte Formen von Solidarität ganz häufig mit dieser Vorstellung einer Nation einhergehen. Aber das muss eben keine Ausschließlichkeitsvorstellung sein", so Marina Münkler.
"Was ich überhaupt sehe in Europa, ist diese kritische Distanz zum Nationalismus, was nicht heißt, dass man nicht national ist", ergänzt Hedwig Richter.
"Wir brauchen Patriotismus, wir brauchen eine Loyalität zum Staate, zum Nationalstaat, der seine Bedeutung nicht verloren hat, wir brauchen aber keine übersteigerten Formen im Sinne eines Nationalismus", sagt Enrico Brissa.
Wo hört Patriotismus auf, und wo fängt Nationalismus an? Wo sind die Grenzen? Wer zieht sie? Zieht man sie für sich selbst? Oder für die anderen? Wie weit darf, muss, soll eine Nation sich abgrenzen, indem sie sich definiert? Von wem grenzt sie sich ab? Oder von was? Wo und wann kippt die Hinwendung zur Nation in einen Nationalismus, der sich aus der Respektlosigkeit gegenüber anderen speist? Wo ist die Grenze?
"Das kann man abstrakt sehr schwer definieren. Aber ich differenziere in meinem Buch zwischen einem angemessenen Patriotismus und übersteigerten Formen. Für mich wäre alles übersteigert, was die eigne Bedeutung, die Bedeutung des eigenen Nationalstaats zu Lasten der Weltgemeinschaft, in der wir leben, zu Lasten der Europäischen Union überbewertet. Insofern ist es eine Frage des Maßes, wie man mit diesen Gefühlen spielt. Patriotismus oder Loyalität zum Staate sind ganz wichtige Voraussetzungen für das Funktionieren eines Gemeinwesens, aber natürlich können solche Emotionen auch ins Gegenteil wirken", sagt Enrico Brissa.
Hedwig Richter ergänzt: "Deswegen, denke ich, muss man immer ein bisschen aufpassen: Wenn wir Nation abschaffen wollen, dann ist das oft so ein bisschen Elitenprojekt, Elitenutopie. Ich denke nicht, dass man so etwas wie Nationalstaat oder Nationalismus einfach abschaffen kann."
Und Marina Münkler fügt hinzu: "Man braucht vielleicht die Idee der Nation als die Idee einer Zusammengehörigkeit, aber die muss nicht ethnisch – das sollte sie auf keinen Fall, sie sollte nicht ethnisch definiert sein. Sie sollte aber auch nicht sprachlich definiert sein. Sondern eigentlich eher innerhalb einer Idee von Zusammengehörigkeitsgefühl, die sich auf die Gleichheit und die Zugehörigkeit zu einem Staat bezieht, also in der Vorstellung des Nationalstaates."

Schon Schopenhauer nahm das Nationale auf die Schippe

Der aber ist heute ein anderer, als er es im 19. Jahrhundert war. Spätestens, als der Club of Rome 1972 die Studie über die "Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, wurde endgültig klar: Der Nationalstaat hat nicht mehr die Macht über die Lebensbedingungen seiner Bürgerinnen und Bürger, die er einmal gehabt hat. "America first"? Auch das mächtigste Land der Erde ist den Folgen des Klimawandels ausgeliefert. Und damit dem Handeln anderer Staaten der Welt. Die Idee des souveränen Nationalstaats ist durch die globale Vernetzung auf allen Gebieten des Lebens überholt worden.
Das macht den wieder aufflammenden Nationalismus erst recht zu einem faden Aufguss des alten. Mag sein, dass moderne, offene Gesellschaften Identitätsprobleme produzieren. Aber die Abschottung des Wir vor den Anderen löst kein nationales Problem in der globalisierten Moderne. Die Nation bietet keinen Zufluchtsort mehr, der uns vor der Außenwelt zu schützen vermag.
"Aphorismen zur Lebensweisheit"
So lautet der Titel einer Schrift, mit der der Philosoph Arthur Schopenhauer berühmt geworden ist. Veröffentlicht hat er sie 1851. Da steckte der deutsche Nationalismus wahrlich noch in den Kinderschuhen. Da ließ sich noch nicht erahnen, was in seinem Geist und in seinem Namen einmal würde entfesselt werden können. Aber Schopenhauer spürte schon damals die dunkle Seite des gegen Andere gerichteten Nationalgefühls.
"Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen.
Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen."

Es sprachen: Cathlen Gawlich, Markus Hoffmann und der Autor
Ton: Martin Eichberg
Regie: Roman Neumann
Redaktion: Winfried Sträter

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