Nationalgefühl? Wir sollten es üben

Von Astrid von Friesen · 18.06.2012
Wenn bei der Europameisterschaft Tore fallen, dann werden Fahnen geschwenkt, Ländernamen gegrölt - und mit den Mannschaften der Nationen gefeiert. Warum eigentlich? Der Nationalstolz hat historisch gesehen ausgedient - das hat der Schriftsteller Rolf Schneider vor ein paar Tagen hier im Politischen Feuilleton gesagt. Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid von Friesen dagegen sagt: Wir sollten in Deutschland ruhig an unserem Nationalgefühl üben.
Die Briten haben es gut: Weder bei dem 60-jährigen Thronjubiläum der Königin, noch der Fußball-Europameisterschaft und den bevorstehenden olympischen Spielen in London werden sie sich emotional verrenken müssen, wenn es darum geht, sich als Nation zu präsentieren und zu fühlen. Die Flaggen werden geschwenkt, bizarre Kopfbedeckungen aufgesetzt, der Queen wird lauthals singend gehuldigt und ihre Welt ist in Ordnung!

Bei uns sind seit 2006, seit der vorletzten sonnig-glorreichen WM und als Folge der friedlichen Revolution - Gott sei Dank - die schlimmsten, jedoch auch notwendigen Scham-, Schuld- und Demutsgefühle als Folgen des Faschismus und der DDR -Diktatur vorbei. Auch wenn Ostdeutschland noch eine schmerzhafte Wegstrecke vor sich hat, um in Reflektionen über diese historische Last und Mitschuld einiges nachzuholen.

Dass dies notwendig ist, ist oftmals an den gespannten Geschwisterbeziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen abzulesen, an den Gefühlsabspaltungen und der Angst vor Fremden. Ebenso wird dieser Nachholbedarf deutlich, wenn sich die Gewinner der Wiedervereinigung selbst zu permanenten Opfern stilisieren und sich als diese dem Westen gegenüber moralisch überlegen fühlen.

Insgesamt hat es sich jedoch noch lange nicht herumgesprochen, wie viel und wie wertvoll die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit war und wie sehr sie vom Ausland bewundert wird. Denn in manchen west- und osteuropäischen Ländern begann erst vor gar nicht langer Zeit eine Diskussion über eigenes Verschulden und eigene Scham. Es ist ein weiterhin andauernder und somit auch dauerhafter Prozess, vom jahrzehntelang, kollektiv selbst verordneten Verbot des Nationalstolzes zum freien und witzigen Spielen mit diesem zu kommen.

Doch weil wir ja alle so gerne perfekt wären, besteht die Gefahr dies zu forcieren, indem die angeblich richtige und wahre Form jeweils angemahnt und besserwisserisch festgelegt wird. Analog zum vorauseilenden Verbot des offenen und freien Denkens, wie just vor einigen Wochen, als Günter Grass sein Israel-Gedicht schrieb und viele Moralisten aufheulten.

Diese geforderte Eindimensionalität und rigide Verurteilung war mal wieder ein Reflex auf und die Kehrseite von der Gefolgschaft dem Führer und verschiedenen anderen Ideologen gegenüber. Wir sollten uns wirklich mehr Gelassenheit gönnen, besonders wenn der Chor der Meinungen nicht ständig einstimmig singt.

Auf just diese Aufarbeitung der deutschen Geschichte können wir stolz sein und daraus ein Selbstbewusstsein ziehen, welches wiederum die Voraussetzung für ein positives Nationalgefühl wäre. Denn beides ist ja ein Zeichen für eine gesunde Selbstwertbasis. Hinzu kommt die Kleinigkeit einer hochkarätigen Wirtschaft, das Wunder der unblutigen Wiedervereinigung, das bislang hervorragend funktionierende Ausbildungs-, Renten- und Gesundheitswesen, die von der gesamten Welt bewunderten staatlichen nahezu korruptionsfreien Institutionen und insgesamt eine der angesehensten Demokratien der Welt.

Auch über die grandiose Leistung, dass 16 Millionen Flüchtlinge in Ost- und Westdeutschland integriert wurden, auch wenn dies zum Teil eine ganze Generation gebraucht hat, können wir unseren Stolz nähren. Und deswegen offen, gelassen, neugierig und gastfreundlich zu Ausländern und allen Asyl- und Hilfesuchenden aus der ganzen Welt sein, die auch nur das wollen, was die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge einmal suchten: Akzeptanz, Toleranz und die Möglichkeit, die eigene Familie zu ernähren.

Wir tun es letztlich für uns selbst. Denn als Folge von all dem würden wir freier und selbstbewusster mit dem Fremden in uns und den Fremden unter uns umgehen.

Als Fazit: Wir könnten ihn uns erlauben und - jenseits des deutschen Gejammers - auch ab und an glücklich sein! Indem wir mit einem guten Selbstwertgefühl einen fröhlichen Nationalstolz einüben. Und wenn es denn sein muss mit Fähnchen, bizarren Hüten und Feuerwerksböllern.

Astrid v. Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin. Sie unterrichtet an den Universitäten in Dresden und Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Im MDR-Hörfunkprogramm "Figaro" hat sie eine Erziehungs-Ratgeber-Sendung. Außerdem schreibt sie Bücher, zuletzt: "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Ellert & Richter Verlag Hamburg).
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Astrid von Friesen© privat