Nationalhymnen und ihre Texte

Kampf- und Trinklieder

06:52 Minuten
Dänische Fußballspieler beim singen ihrer Nationalhymne bei der WM 2022.
Die dänische Nationalelf beim Singen ihrer Hymne, die von der Naturschönheit des Landes handelt und nicht von Kämpfen wie die meisten Nationalhymnen. © Imago / Ulmer
Von Arno Orzessek |
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Die meisten Nationalhymnen-Texte sind kriegerisch und voller Nationalstolz. Tugenden wie Pazifismus, Diversität oder Gleichberechtigung fehlen hingegen - mit wenigen Ausnahmen.
Vom Erhabenen zum Lächerlichen sei es nur ein Schritt, soll Napoleon Bonaparte gesagt haben. Wie recht er hatte, zeigt sich, wenn die französische Fußballnationalelf und ihre Fans die Marseillaise schmettern: eine Hymne, die 1792 verfasst wurde, als Preußen, Österreich und andere das revolutionäre Frankreich angriffen.

„Unreines Blut tränke unsere Furchen!“, heißt es da, und diese Parole war damals wörtlich gemeint, sie sollte zum Kampf auf Leben und Tod ermuntern. Wenn das heute hochbezahlte Kicker mit teuer versicherten Beinen singen – wie recht hatte Napoleon!

Fragt sich jedoch: Kann man dem pathetischen Charakter, der fast allen Hymnen eigen ist, nüchtern-analytisch überhaupt gerecht werden?

Lasst uns die Reihen schließen,
Wir sind bereit zum Tod,
Wir sind bereit zum Tod,
Italien hat gerufen!

Italienische Hymne

Italiens Hymne ist ein Widerspruch in sich. Ausgelassen strebt die Komposition Michele Novaros vorwärts: ein sonniger Rhythmus, bei dem jeder mit muss.
Ferrari-Pilot Michael Schumacher konnte bei einigen Siegerehrungen nicht stillhalten und hat die Fans spontan dirigiert, als nach dem instrumentalen Auftakt ihr frenetischer Gesang einsetzte.
Dabei wiederholt sich im Text von Goffredo Mameli notorisch die Zeile „Wir sind bereit zum Tod“. Auch Selbstmitleid klingt an: „Wir werden seit Jahrhunderten getreten und ausgelacht, weil wir kein Volk sind, weil wir geteilt sind.“
Seit 1861 ist Italien geeint. Die Todesbereitschaft – ist ein komischer Anachronismus, inhaltlich längst überholt. Aber die Musik wirkt wie ein fröhliches „Schwamm drüber“ und verneint im Grunde den biestigen ollen Text.

Wohl an, wohl an, zum Ruhme der Zeit,
Das Blut schreit in unsern Adern,
Wir sterben, wir sterben, es lebe unser Vaterland!

Tunesische Hymne

Humat al-Hima – noch so ein todessüchtiger Gesang: Das ist die tunesische Nationalhymne – und noch gar nicht lange, erst seit 1987. Anders als die italienische erklingt sie bei dieser WM, denn die Tunesier haben sich qualifiziert.
Was für ein dumpfer Nationalismus, könnte man meinen. Aber Vorsicht, Freunde der politischen Korrektheit! Der ursprüngliche, später ergänzte Text war vor Tunesiens Unabhängigkeit von Frankreich jahrzehntelang die Hymne der Widerstandsbewegung.
Humat al-Hima ist ein anti-kolonialistischer Gesang. Die Beschwörung der Nation war in bestimmten historischen Kontexten keine reaktionäre, sondern eine progressive Haltung.

Es liegt ein lieblich Land
Im Schatten breiter Buchen
Am salz'gen Ostseestrand

Dänische Hymne

Portugals Hymne ruft „zu den Waffen, zu den Waffen“. Die Hymne der Uruguay kennt nur die Alternative „unsere Nation oder das Grab“. Die mexikanische fordert, „dass die Erde in ihrem Innersten erbebt zum Donnergrollen der Kanonen“. Wie anders singen die Dänen!
Da die dänische Hymne populär wurde, nachdem junge Leute sie 1844 auf einem Volksfest gesungen haben, könnte man hier das Klischee vom lockeren nordischen Party-Volk bestätigt sehen.
Was noch mehr auf ein ganz anderes Land zutreffen müsste, Slowenien, wenn man ihre Hymne hört – mit dem Titel Prosit.

Die Rebe hat nun wieder
den süßen Lebetrunk beschert,
der uns're Pulse hebet,
der Herzen uns und Augen klärt;
der ertränkt,
was da kränkt
der Hoffnung in die Brust uns senkt.

Slowenische Hymne

Offiziell wird in Slowenien jedoch nur die siebte Strophe von Prosit gesungen – „wo zum Nachbarn wird der [frühere] Feind“. Aber sie wird bei der WM nicht erklingen, Slowenien ist nicht dabei.
Kamerun besingt sich als „Wiege unserer Väter“. Japan erhofft sich in seiner fünfzeiligen Hymne, dass sein Gebieter die „Herrschaft“ über „achttausend Generationen“ behält. Auf allen Kontinenten suppt Heldenblut aus den Leibern männlicher Krieger. Das eigene Volk, das eigene Land, die eigene Nation ist das erhabene Objekt der Verehrung.
Pazifismus: meistens Fehlanzeige. Gleichberechtigung: nur sparsamst auszumachen. Sexuelle Diversität: auch mit der Lupe kaum zu finden. Historische Schuldbekenntnisse: von wegen! Inklusion aller Nationen und der ganzen Menschheit: nein, nein, nein.
Von einer Ausnahme abgesehen: Die maorische Version der Hymne „Gott beschütze Neuseeland“ atmet einen ganz anderen Geist.

Oh Herr, Gott
aller Menschen,
erhöre uns
Lasse alle Menschen,
rote Haut, weiße Haut,
vor dir zusammenkommen,
dass all unsere Sünden, wie wir erbeten,
vergeben sein mögen,

Lasse Gutes von Dauer sein,
Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit herrschen
unter den Völkern Gottes.

Maorische Version der neuseeländischen Hymne

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