Nationalismus

Ein Virus geht um, in Polen und anderswo

Der Vorsitzende der polnischen Partei "Recht und Gerechtigkeit", Jaroslaw Kaczynski.
Der Vorsitzende der polnischen Partei "Recht und Gerechtigkeit", Jaroslaw Kaczynski, verkörpert den nationalkonservativen Kurs seines Landes. © JANEK SKARZYNSKI / AFP
Von Bartosz Dudek · 15.06.2016
Das Virus "Nationalismus" galt als ausgerottet. Nun bedroht es die großen Nationen Europas. Polen etwa erlebe eine nationalkonservative Revolution gegen die liberale Demokratie, sagt der deutsch-polnische Journalist Bartosz Dudek. Und das sei kein Zufall.
Polen macht sprachlos. Ausgerechnet das Land, in dem "Solidarnosc", die größte basisdemokratische Bürgerbewegung Osteuropas, geboren wurde, ausgerechnet das Land, das für einen gelungenen politischen und wirtschaftlichen Wandel steht, das Frische und Begeisterung in die "alte" Europäische Union brachte.
Es wird zunehmend isoliert und ein Sorgenkind Europas. Mehr noch: Just zum 25. Jubiläum des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrages befindet sich diese vielfach gepriesene Freundschaft im freien Fall. Wie konnte es so weit kommen?
Auf diese Frage gibt es freilich keine einfache Antwort. Nach ihr zu suchen, lohnt sich aber, sagt sie doch nicht nur etwas über das Lebensgefühl der Polen aus, sondern ebenso der Ostdeutschen und anderer Europäer.
Polnische Nationalkonservative ähneln deutschen Rechten
Gibt es nicht beispielsweise eine gewisse AfD, die mit populistischen Parolen ähnlich gut ankommt wie die polnische national-konservative PiS? Gibt es nicht Gemeinden, wo jeder Dritte Wähler bei der NPD ein Kreuzchen macht? Oder eine Fremdenfeindlichkeit, die das Gesicht eines Bürgers angenommen hat, der um die "Islamisierung des Abendlandes" besorgt ist?
Der Virus, der Polen überfallen hat, ist bekannt und nicht neu. Er verbreitet nationalen Egoismus und Kompromisslosigkeit, Intoleranz und ideologischer Verblendung. Er gedeiht auf paranoidem Nährboden, der eine Welt voll Verschwörungstheorien und überall lauernden Feinden begünstigt. Ja schlimmer noch, er lebt davon, dass der Zweck die Mittel heiligt.
Durch Polen zieht eine Art national-konservativer Revolution, die sich gegen das liberale Modell der Demokratie wendet. Sie bekämpft einen alten Feind, allen voran jene Postkommunisten, die sie als Nutznießer eines neuen kapitalistischen Systems ausmacht. Gleichwohl wärmt sie sich sozial und gesellschaftlich am Erinnern historischer Zeiten.
Polen erlebt eine Revolution gegen die liberale Demokratie
Sie braucht wie jede Revolution eine starke Führungspersönlichkeit, die unfehlbar die Richtung vorgibt. Das Debattieren, das Suchen von Kompromissen erscheint ihr als Schwäche und Zeitverschwendung. Rechtsstaatlichkeit und Gewaltteilung respektiert sie, solange es ihr dienlich ist. Ein Déjà-vu? Zumindest lehrt Polen zweierlei.
Zum einen war es wohl naiv zu glauben, dass der Übergang von Diktatur zu Demokratie innerhalb einer Generation zu schaffen sei. Zum anderen wird Demokratie nur dort als Alternative begriffen, wo sie von sozialer Gerechtigkeit und breitem Wohlstand begleitet wird.
Woran die Weimarer Republik einst scheiterte, haben offensichtlich auch die Warschauer Regierungen nach der Wende versäumt, einen großen Teil der Gesellschaft an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs beteiligen zu lassen. Dieses Versäumnis ist das Geheimnis von Jaroslaw Kaczynskis Erfolg.
Er hat beispielsweise Kindergeld versprochen und eingeführt, gleichzeitig finanzielle Einwände beiseite gewischt. Dass er sein Versprechen gehalten hat, bedeutet armen polnischen Familien mehr als das Reden von Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Fortschritt.
Virus des Nationalismus bedroht ganz Europa
Die Unzufriedenheit "besorgter Bürger" macht sich nicht nur in Polen bemerkbar, sondern überall in Europa, eben auch in Deutschland und in Frankreich. Sollte der sozialistische Präsident in Paris den sozialen Protest nicht in den Griff bekommen, dann droht den Franzosen bald ein polnisches Szenario.
Deshalb macht die Botschaft aus Warschau so sprachlos: Nicht kleine Länder, nicht die Peripherie, sondern die bevölkerungsreichsten Nationen Europas sind von einem angeblich ausgerotteten Virus des 20. Jahrhunderts erneut befallen, von einem antiliberalen und antidemokratischen Nationalismus.
Er spaltet mit Wucht Gesellschaften, die er befällt. Ihn aufzuhalten, kann teuer werden. Noch teurer aber, es nicht zu tun.

Bartosz Dudek, geboren 1967 in Stettin, ist ein deutsch-polnischer Journalist. Nach dem Studium in Köln arbeitete er als Korrespondent polnischer Medien in Deutschland sowie als Autor für den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Seit 2009 leitet er die Polnisch-Redaktion der DW.

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