Neues "Wir-Gefühl" vergiftet das Miteinander
Einen gesellschaftlichen Stimmungsumschwung stellt der Schriftsteller Hans Christoph Buch fest. Ein neues nationalistisches "Wir" ersetze Toleranz und Respekt aggressiv durch Borniertheit und Fremdenfeindlichkeit.
Es sei schwer zu sagen, wann und wo der normale Alltag ende und der Bürgerkrieg beginne. Diesen Satz las ich kürzlich irgendwo. Und er schien mir so einleuchtend, dass ich das Falsche und Schiefe, das darin mitschwang, beim ersten Blick übersah.
Klar, es ist ein großer Unterschied, ob man in Berlin, Hamburg, Düsseldorf und Stuttgart lebt oder in Paris, Brüssel, Madrid und London, in Städten also, die von Terroranschlägen gebeutelt wurden - ganz zu schweigen von Bagdad, Aleppo und Homs. Dennoch muss man auch hierzulande mit dem Schlimmsten rechnen.
Wer gegen Drachen kämpft, wird selbst zum Drachen, schrieb Friedrich Nietzsche.
Rückkehr zu Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit
Es gibt einen Stimmungsumschwung. Und dabei denke ich an die Schließung vorher offener Grenzen wie in Ungarn oder Mazedonien. Und ich denke an Holland. Ausgerechnet ein Hort liberalen Denkens und Herzstück Europas erteilte der EU eine Absage.
Und ich denke an eben diese EU. Es ist absurd, dass Brüssel einen orientalischen Despoten und geschworenen Feind der Pressefreiheit mit der Lösung der Flüchtlingskrise beauftragt – die Rede ist vom türkischen Präsidenten Erdogan.
Europa vollzieht eine Rückkehr zum Nationalismus mit all den alten bösen Begleiterscheinungen: Fremdenfeindlichkeit, Borniertheit und Intoleranz.
Absage an Toleranz und Respekt
Der Stimmungsumschwung von multikultureller Toleranz und Respekt zum neuen Wir-Gefühl ist im Alltag zu spüren. Damit meine ich weniger intellektuelle Vordenker wie Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk, Reinhard Jirgl und Botho Strauß. Dass namhafte Autoren sich zu rechten Positionen bekennen, war zu erwarten.
Neu hingegen ist der hasserfüllte, ja geifernde Ton der Angriffe auf die Kanzlerin, die des Ausverkaufs nationaler Interessen und des Verrats konservativer Werte bezichtigt wird, während der demagogische Populist Viktor Orbán zum gefragten Gesprächspartner avanciert.
Der Ton macht die Musik. Und ein aggressiver Zeitgeist, der die Medien pauschal der Lüge bezichtigt, springt vom Pegida-Protest auf andere Bereiche der Gesellschaft über, allen voran die AfD - aber auch Christ- und Sozialdemokraten sind nicht dagegen immun.
Es klingt zynisch, wenn eine CSU-Ministerin Ein-Euro-Jobs fordert, um Migranten Werte einzubläuen wie Pünktlichkeit, Fleiß und Disziplin, die Deutschland groß gemacht hätten. Und dass die Flüchtlinge an ihrem Elend selber schuld seien, wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
Lust am Vulgären und an Grobianismus
Wir leben nicht im Bürgerkrieg. Dass wir aber leichtfertig und mutwillig mit einer Stimmungsmache spielen, die ihn anderswo rasant entfacht, dafür scheint das Gespür zu fehlen – in Zeiten eines ausgrenzenden Wir-Gefühls. Dessen kleinster gemeinsamer Nenner ist die Bierflasche. Ob die Lust am Vulgären eine Modeerscheinung ist, sei dahingestellt.
Zu denken gibt, dass Appelle an Mäßigung, Vernunft und Besonnenheit kaum eine Chance gegen einen Grobianismus haben, der probiert, was noch alles geht. Mit der Kanzlerin freiwillige Selbstbeschränkung einzufordern, darf jedoch nicht mit einem Plädoyer für Politische Korrektheit verwechselt werden, nicht mit Verlogenheit, die ihr Ressentiment nur versteckt.
Noch leben wir nicht im Bürgerkrieg, aber die Messerattacke auf die Kölner Bürgermeisterin und die sexuelle Anmache am Kölner Hauptbahnhof waren Warnsignale.
Hans Christoph Buch veröffentlichte zuletzt den Essayband "Boat People – Literatur als Geisterschiff".