"Ordentliche, gebahnte Wege, welche nach dem Berge führen, gibt es gar nicht. Denn alle Wege, welche dahinführen, sind unwegsam, uneben, voller Steine und Felsen, so daß man sehr oft von einem Stein auf den anderen springen muß - daneben sumpfig, theils abhängend, weshalb man dieselben auch nicht anders als zu Fuß thun kann, dahero die Bewohner des Harzes, wenn sie einem alles Böse wünschen, zu sagen pflegen: Geh an den Brocken, daß du am Brocken wärst!"
- Albert Ritter, Pädagoge (1740)
Wer heutzutage auf den Brocken geschickt wird, der fristet dort nicht mehr in schauerlicher Einsamkeit sein Dasein - im Gegenteil. Norddeutschlands höchster Berg ist ganz in der Hand der Tagestouristen. Vornehmlich mit der Brockenbahn erklimmen die meisten "Gipfelstürmer" den Berg.
Rund 10.000 Besucher im Tagesverlauf können es schon mal sein - wenn auch nur an Spitzentagen, sagt Gunter Karste vom Nationalpark Harz:
"Das ist unstrittig: Hier findet Massentourismus statt. Man hört jetzt gerade im Hintergrund den Zug, der uns also wieder 500 Leute - wenn er voll ist - hier hochbringt. Zehnmal fährt er am Tag, dann wissen wir also, wenn jeder Zug dann voll wäre, dann kämen schon 5.000 Leute mit dem Zug allein hier hoch. Und dann noch die Wanderer dazu - also mit der Zahl 10.000 liegen Sie so ganz falsch nicht, aber es findet nicht täglich statt. Und wenn man jetzt hier schaut: Wir sind ja hier jetzt an der Grenze zu unserem Brockenrondell mit dem Gipfelstein. Gucken Sie: die Leute halten sich genau da auf, wo dieser Handlauf deutlich macht, dass das die Fläche ist, die sie betreten dürfen. Also Besucherlenkung klappt. Massentourismus und Naturschutz kann dann auch zusammen funktionieren."
Ein Stück Natur kehrt zurück
Der Botaniker Gunter Karste blickt hinüber zum massigen Granitblock, der den Gipfel markiert. Die kleine, runde Freifläche dort - das Brockenrondell - ist weitläufig gesäumt von Gräsern, die sanft im frischen Wind hin- und herwiegen. Dazwischen kleine, windzerzauste Fichten, mit leuchtend-bunten Flechten bewachsene Granitblöcke und allerlei Blütenpflanzen - so etwa das Orangerote Habichtskraut und blau blühende Glockenblumen.
Bei unserem letzten gemeinsamen Besuch vor 25 Jahren sah es hier noch anders aus:
"Da war dann also das Zentrum des Militärcamps. Hier waren die Baracken und Gebäude für die Soldaten, dahinter dann - da wo der Gipfelstein den höchsten Punkt markiert - da war die Unterkunft für die russischen Offiziere. Das waren insgesamt 35.000 Quadratmeter, die hier wirklich flächig versiegelt waren und überbaut waren. Und wenn man hier jetzt über die Fläche schaut: Ich glaube, das überzeugt jeden. Da kann man wirklich auch mit Fug und Recht sagen: Der Brocken hat ein Stück seiner Ursprünglichkeit wieder zurückerhalten."
Baumleichen im Brockenurwald, gesehen von der Zeterklippe aus. Gut zu erkennen: Zwischen den toten Bäumen grünt es wieder.© Deutschlandradio/Lutz Reidt
Zuvor hatte der Brockengipfel stark gelitten. Gut zwei Drittel der ursprünglichen subalpinen Heideflächen verschwanden, im Laufe der Zeit versiegelten Gebäude, Lagerplätze und Schotterwege das Plateau. Diesen Trend nicht nur zu stoppen, sondern sogar umzukehren, davon hätte Gunter Karste nach der Grenzöffnung noch nicht einmal zu träumen gewagt:
"75 bis 80 Prozent waren damals versiegelt. Heute sind das vielleicht 30 Prozent, 25 bis 30 Prozent, die noch versiegelt sind. Man sieht ja da den großen Telekom-Komplex. Unser Informationshaus, auch die Wetterwarte, auch der Bahnhof, das sind also Flächen, die auch bleiben werden. Es ist also gelungen, über den Abriss den Anteil der Vegetation doch deutlich zu erhöhen."
Der Mauerfall brachte auch hier die Wende
Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Mauerfall im Herbst 1989. Nach einer Stern-Wanderung von 6.000 Demonstranten war der Brocken bereits im Dezember wieder zugänglich. Somit endete knapp drei Jahrzehnte nach dem Mauerbau auch die Zeit der Sperrzone auf dem höchsten Berg Norddeutschlands.
Für viele Naturforscher in der DDR war dies Anlass, eine lang gehegte Idee umzusetzen: Die Gründung eines Nationalparks im Harz. Nur wenige Monate später - und noch vor der Wiedervereinigung - wurde der Nationalpark Hochharz durch Ministerratsbeschluss der DDR-Regierung eingerichtet. Der Park umfasste anfangs den östlichen Hochharz rund um den Brocken mit dem Brockenurwald an seiner Ostflanke.
Besucher auf dem Brocken im April 1990, kurz nach der Öffnung des Berges, der der Stasi als Abhorchposten diente.© imago/epd-bild/Frank Drechsler
Im Soge dieser Entwicklung fassten auch im Westen Naturfreunde Mut, um nachzulegen: 1994 folgte der Nationalpark Harz in Niedersachsen.
Die Frage ist: Gäbe es dort heute einen Nationalpark, wenn nicht die Naturfreunde im Osten vor knapp dreißig Jahren vorgeprescht wären?
"Klare Antwort: Nein! Das ist meine feste Überzeugung", sagt der Geologe Friedhart Knolle. "Ich bin ja Zeitzeuge. So alt wird man ja, dass man schon als Zeitzeuge bezeichnet wird."
Der Druck kam aus dem Osten
Friedhart Knolle ist ein Mann der ersten Stunde im niedersächsischen Teil des Nationalparks. Sein Vater war bereits als Naturschutzbeauftragter im Westharz tätig, gemeinsam verfolgten sie über Jahrzehnte hinweg den Traum von einem Nationalpark im Harz. Der war bereits zwischen den Weltkriegen angedacht - doch erst die Wende bereitete dafür den Weg auch auf niedersächsischer Seite:
"Ohne den Input, der Gründung des Hochharzes durch den Runden Tisch und durch den Druck, der dann auf die Westpolitik ausgelöst wurde, und wenn ich die Politikeraussagen, die ich habe, zusammenfasse - Nein! Wir hätten das alleine nicht geschafft. Ohne dieses wäre es im Westen nie gelungen. Im Gegenteil: Wir hatten im Ministerium keine Aktenlage zum Nationalpark! Ich weiß noch, wie ich mit den Beamten telefoniert habe. Selbst mein Vater wusste, dass es in den 20er, 30er Jahren mal Nationalparkpläne gab. Es fand sich im Ministerium nichts! Niemand, der das wusste. Auch keine Akte! Das kam ausschließlich über die DDR-Umweltbewegung und den Runden Tisch."
Im Jahr 2006 fusionierten beide Nationalparks zum einzigen Schutzgebiet dieser höchsten Kategorie, das zwei Bundesländer umfasst. Sitz der Verwaltung ist Wernigerode in Sachsen-Anhalt. In einem Nationalpark soll sich die Natur weitgehend unbeeinflusst vom Menschen entwickeln können. Und Aufgabe der Wissenschaftler ist es, diese Entwicklungsprozesse zu studieren.
Bei Forschung und Literatur gleichermaßen beliebt
Die Forschung im Harz begann jedoch nicht erst mit der Gründung der beiden Nationalparks. Vor allem der Brocken lockte in früherer Zeit experimentierfreudige Wissenschaftler an: Physiker wollten durch Luftdruckmessungen die genaue Höhe des Berges bestimmen, Botaniker erklommen den Gipfel, um die "vornehmen Kräuter" zu studieren.
Auch Heinrich Heine wanderte über den Brocken.© imago / Leemage
Und auch Literaten widmeten sich den Besonderheiten rund um den Brocken - so etwa den windzerzausten Bergfichten, die wie ein Gürtel den von Natur aus kahlen Gipfel säumen. Zu rau ist hier das Klima, zu heftig die Winde und zu steinig der von mächtigen Granitblöcken übersäte Boden.
"Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträucher und Bergkräuter übrigbleiben. Da wird es auch schon fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden hier erst recht sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe."
- Heinrich Heine 1824 über seine Wanderung über den Hirtenstieg
So treffend hier Heinrich Heine die wilde Natur unterhalb des Brockengipfels auch beschreibt - in einem irrt der Literat: Die krüppelhaften Bäumchen sind keine Tannen, sondern Fichten - von denen heutzutage jedoch auch nicht mehr allzu viele an den Hängen des Berges wachsen.
Der Klimawandel macht den Bäumen zu schaffen
Welcher Riese hat am Osthang des Brockens bloß Mikado gespielt? Riesen-Mikado gewissermaßen: Wie umgeknickte Streichhölzer liegen zerborstene Baumstämme auf dem Waldboden verstreut.
Dazwischen ausgefranste Baumleichen - fahle Stämme, abgebrochene Wipfel. Wie knöcherne Zeigefinger ragen sie mahnend in den Himmel, als wollten sie ein Unheil verkünden, das sich unterhalb des Gipfels zusammenbraut.
Baumleichen im Brockenurwald - totes Holz ist für den Naturkreislauf von besonderer Bedeutung.© Deutschlandradio/Lutz Reidt
Doch war es kein cholerische Riese, der hier gewütet hat, sondern die Natur. Zuerst kamen trockenheiße Sommerwochen. Und im Gefolge die Borkenkäfer. Was unzählige dieser Fichtenfresser im Brockenurwald angerichtet haben, schmerzt Uwe Wegener besonders. Bei unserem letzten gemeinsamen Besuch vor 25 Jahren streiften wir noch durch eine urtümliche Waldwildnis, an moosbepackten Granitfelsen und pittoresken Baumriesen vorbei. Und jetzt?
"Temperaturerwärmung, Klimawandel und die Dynamik, die in diesem Brockenurwald steckt, haben wir damals nicht voll erkannt - muss ich auch so sagen", erklärt Uwe Wegener. "Bis 2010 war eigentlich noch alles in Ordnung. Der Brockenurwald war noch völlig intakt. Nach 2010 kamen so langsam, im Zuge der Erwärmung auch allmählich kleine Borkenkäfernester in diesen Brockenosthang."
Der Borkenkäfer nagt an der Substanz
Der Biologe des Nationalparks Harz ging eigentlich davon aus, dass es dem Borkenkäfer in den Hochlagen auf Dauer zu unwirtlich ist. Kühl ist hier normalerweise ein Bergsommer, dazu noch 300 Nebeltage im Jahr und zwei- bis dreimal so viel Regen wie im Flachland - das hält eigentlich kein Borkenkäfer auf Dauer aus.
Wo er frisst, wächst bald der Baum nicht mehr: der Borkenkäfer.© imago / CHROMORANGE
Doch typisches Brockenwetter - so hat es den Anschein - ist vorerst Geschichte:
"Ja, das ist richtig. Hier war es auch so, dass der Borkenkäfer nur in warmen Jahren vielleicht mal eine Generation durchgebracht hatte - das war also nicht relevant. Dadurch konnte er sich auch nicht weiter vermehren. Aber dass er hier jetzt drei Generationen durchbringt - das ist was Neues. Und das hat auch dazu geführt, dass der Borkenkäfer innerhalb dieser neun Jahre, zehn Jahre die alten Bäume fast vollständig aufgefressen hat, die Kambiumschicht aufgefressen hat. Dadurch kann der Baum eben nicht mehr existieren."
Unter dieser Kambiumschicht zwischen Baum und Borke fließt der Lebenssaft aus den Wurzeln in die Kronen. Wenn Käferlarven sich unter der Rinde durchfressen, unterbrechen sie die Zufuhr von Wasser und Nährstoffen - der Baum stirbt. Es sei denn, er kann die Käfer abwehren - und zwar: ausharzen. Was gesunden Bäumen meist gut gelingt.
Die Zyklen des Waldwuchses
Oder die Käfer fliegen die Bäume gar nicht erst an - zum Beispiel, weil sie zu jung sind. Oder auch weil sie keine Fichten sind - und daher für den Borkenkäfer uninteressant. Genau darin liegt auch die große Hoffnung für die Zukunft, erklärt Uwe Wegener:
"Man muss zu dieser Dynamik sagen: Der Wald ist nicht tot. Wenn man weiter hineinschaut und auch hineingeht, sieht man, dass der Jungwuchs da ist und jetzt so um die zehn Jahre alt ist. Dass es aber auch freie Plätze gibt, dass es Ebereschen gibt und die Birken sich ausbreiten. Der Wald lebt eigentlich und er wird durch diese alten Stämme, die langsam umbrechen und die Nadeln, die zu Boden gefallen sind, noch zusätzlich gedüngt, so dass diese Entwicklung weitergeht. Wir denken, das ist eine Entwicklung, die im Bayerischen Wald ähnlich verlaufen ist, dass hier auch nach 20 oder 25 Jahren ein beachtlicher Bestand wieder da ist."
Wälder entwickeln sich in Zyklen, und auf einen Zusammenbruch folgt eine Pionierphase, in der junge Bäume den Wald der Zukunft gründen. Um dies im Detail anzuschauen, wollen wir 25 Jahre nach unserem letzten gemeinsamen Besuch wieder hinein in diese Wildnis am Osthang des Brockens. Und wir hoffen, einige jener Harzer Bergfichten zu finden, die das große Fressen überstanden haben.
Der Kies knirscht unter den Füßen von Friedhart Knolle, der Geologe steht auf einem Höhenweg oberhalb des tief eingeschnittenen Odertales im niedersächsischen Teil des Nationalparks. Er legt den Kopf in den Nacken und blickt hinauf zu einer steilen Wand aus hellgelbem Sand, die durchsetzt ist mit wuchtigen Granitblöcken.
Im Angesicht der Teufelsmauer
Vor 25 Jahren standen wir auch schon hier, viel verändert hat sich offenbar nicht: Etliche Felsquader lugen immer noch frech aus der Wand hervor - meterhoch übereinander gepackt. Sie scheinen förmlich im Sand zu schwimmen, in luftiger Höhe, steil über uns:
"Früher, im Mittelalter hat man sich das nicht anders erklären können. Da hieß es dann: Der Teufel hat die aufeinander geschichtet", erklärt Friedhart Knolle. "Daher kommt ja der Begriff Teufelsmauer - am Nordharzrand: die Teufelsmauer. Und tatsächlich könnte man denken, da hat jemand Granite 1:1 - wie in Machu Picchu - aufeinander gefügt und gebaut. Nein! Das ist nichts weiter als der stehen gebliebene Rest eines Granitturms und der Rest rund herum ist bereits zu Sand zerfallen."
Der "Hexenaltar" auf dem Brocken in einer Darstellung von 1877.© imago/Imagebroker
Diese Granitblöcke hat also keine Hexe und kein Teufel den Brocken herunter geschleudert, wie man früher dachte. Sie sind schlichtweg von der bildhauerischen Kraft der Natur im Laufe der Jahrtausende aus dem Gestein heraus modelliert worden, erklärt Knolle:
"Granit ist nicht nur hart, er kann auch sehr weich sein. Und das sehen wir hier wunderbar - diese Granitfindlinge - die Leute sagen nämlich oft, och, das sind doch die Findlinge aus der Eiszeit. Ehrlich gesagt: Man könnte es zunächst denken. Die liegen hier so herum wie in einer Moräne in Südschweden. Aber nein, die sind nie bewegt worden, diese Granite sind hier die Reste eines zerfallenen großen Granitgesteinskomplexes, der in Form von Sand weggespült worden ist."
Frost und Hitze, Wind und Wasser zerlegen auch den vermeintlich so harten Granit.
Der vulkanische Kreislauf
Wir stehen vor einer Schnittstelle, wo der Kreislauf des Wassers den Kreislauf der Gesteine antreibt:
"Der Gesteinskreislauf ist genauso einfach, nur: Er läuft so lange, dass wir ihn uns nicht vorstellen können. Ein starker Regen auf dem Brocken spült das Gestein vom Brocken runter in die Flüsse, in diesem Fall über die Elbe in die Nordsee. Die Nordsee wird immer tiefer und tiefer, das Sediment wird immer dicker. Es senkt sich ab, mehrere Kilometer tief, es sinkt so tief, dass es unten aufschmilzt. Wenn es aufschmilzt, ist es so etwas wie Granit. Das ist nämlich eine aufgeschmolzene Gesteinsmasse der Oberkruste - nichts weiter ist der Granit! Und dann wird das Gestein so stark erhitzt, dass es wieder aufsteigt, zum Beispiel in Form von Vulkanen. Dann speit der Vulkan das Gestein aus, wo wir hier stehen, Jahrmillionen später. Und dann geht der Kreislauf wieder von vorne los. Der Regen zerlegt wieder den Vulkan, dann geht es wieder gen Nordsee und so weiter."
Wanderung durch schwieriges Gelände
Ein Gedenkstein auf dem Brocken erinnert an Goethes Wanderungen.© imago/ecomedia/Robert Fishman
Während seiner ersten Harzreise im Dezember 1777 war er inkognito in Torfhaus beim Förster untergekommen. Das Wetter war schlecht. Und sein sehnlicher Wunsch, endlich den Brocken zu besteigen, lag in weiter Ferne:
"Wie ich gestern zum Torfhause kam sas der Förster bei seinem Morgenschluck in Hemdsermeln, und diskursive redete ich vom Brocken und er versicherte die Unmöglichkeit hinauf zu gehn, und wie offt er Sommers droben gewesen wäre und wie leichtfertig es wäre ietzt es zu versuchen. Die Berge waren im Nebel man sah nichts, und, so sagt er ists auch jetzt oben, nicht drei Schritte vorwärts können Sie sehn."
- Johann Wolfgang Goethe
Auch wir können nur wenige Schritte vorwärts sehen, beschwerlich ist unser Weg durch den Brockenurwald, doch Biologe Uwe Wegener kennt sich hier aus wie kein Zweiter. Wir stapfen am Rande sumpfiger Hangmoore entlang und klettern über umgestürzte Baumriesen, die sich zu trotzigen Barrikaden auftürmen. Meterhohe Wurzelteller ragen über uns empor. Tiefe Krater haben sie im Waldboden hinterlassen, wuchtige Granitquader liegen darin wild verstreut umher.
Nach der Wende kamen die Flechten zurück
Bereits in 1950er-Jahren, so erzählt Uwe Wegener, war er als Schüler hier im Brockenurwald unterwegs. Schon damals faszinierten ihn die pittoresken Bartflechten, die wie ausgefranste Gardinen von den Ästen der uralten Bergfichten baumelten - ein Lametta aus hellgrünen und dunkelgrünen, milchigweißen und rotbraunen Vorhängen. Als wären Waldgeister mit ihren zottigen Bärten an den Bäumen hängen geblieben: "Und wenn dann noch Nebel da durchzieht, dann haben wir diesen Geisterwald."
Die Flechten an den Bäumen reagieren empfindlich auf schmutzige Luft. Die schwefelsauren Abgase aus den Braunkohlekraftwerken haben sie später verschwinden lassen. Nach der Wende wurde die Luft wieder besser, und die Flechten kehrten langsam zurück:
"Manchmal hängen sie auch auf anderen Flechten mit drauf oder hängen drüber. Das ist also ihr Nährboden. Sie nehmen dann nur die Nährstoffe aus der Luft, sie schaden dem Baum also eigentlich nicht. Ich konnte die in sibirischen Wäldern beobachten, da werden sie 40, 50 Zentimeter lang. Das ist dann ein richtiger Behang von Bartflechten. Hier ging das ab 1990 langsam wieder los."
Begegnung mit den Urwaldriesen
Ihre Sporen haften immer noch an der Borke jener uralten Bergfichten, die dem Borkenkäfer trotzen konnten. Einige dieser Urwaldriesen stehen noch, wenige hundert Meter von uns entfernt, weiter oben am Hang.
Wir passieren Baumstämme, die wohl schon am Boden lagen, als wir uns vor 25 Jahren hier durchschlugen - dick mit Moos bepackt ist das alte Holz, bröselig und morsch, kleine Fichtenbäumchen krallen sich darin fest. Ein ideales Keimbett für den Nachwuchs. Kadaver-Verjüngung nennt sich das. Wie auf einer Perlenkette aufgereiht, sprießt der neue Wald aus dem vergangenen hervor.
Totholz ist nicht tot. Totholz lebt. Es zählt zu den artenreichsten Refugien im Naturwald. Unzählige Käfer, Spinnentiere und Kleinstlebewesen sind darauf angewiesen. Und dann - endlich - haben wir unser Ziel erreicht:
"Wir befinden uns am Osthang des Brockens", sagt Uwe Wegener, "in einem Reststück des Brockenurwaldes, der offensichtlich noch intakt ist, auch wenn einige Bäume bereits gefallen sind. Wir haben hier eine Fichte vor uns, die besonders typisch ist: eine autochthone, also bodenständige Fichte, die besonders schlank und feinastig ist. An diesen Fichten kann der Schnee, der früher ja sehr üppig war und in großen Mengen gekommen ist, besser abrutschen."
Die Muse als Tugend
Mit ihrer charakteristischen schlanken Gestalt sind diese Bergfichten optimal an einen Schneewinter im Harz angepasst. 140 Exemplare haben die Forscher um Uwe Wegener im Brockenurwald gezählt, katalogisiert und den Gesundheitszustand alle zehn Jahre erfasst. Die Bergfichte vor uns ist die Nummer Drei der Inventurliste. Weit über dreißig Meter hoch, 300 bis 350 Jahre alt und offenbar kerngesund - wie einige andere auch, erklärt Uwe Wegener:
"Wir sind also jetzt ein ganzes Stück durch den Brockenurwald gegangen, haben einige noch gefunden, freuen uns darüber - was wahrscheinlich diesem relativ feuchten Hang geschuldet ist, so dass sie hier an diesem Osthang besonders günstige Bedingungen haben und dem Borkenkäfer trotzen können. Das heißt: Die Autochthonen hier an diesem Hang können den Borkenkäfer ausharzen - was die anderen nicht mehr schaffen in trockenen Jahren."
Uwe Wegener blickt sich um: Eine große, grüne Insel inmitten von einem Meer aus toten, silbergrauen Bäumen:
"Wir haben auch 60-jährige Fichten, die höchst wahrscheinlich auch autochthon, also bodenständig sind. Die sind auch schon wieder sechs, acht Meter hoch. Das Wachstum ist sehr langsam, wir bewegen uns hier auf 900 Meter. Es sind aber auch kleine Fichten da, die gerade mal mannshoch sind und kleiner und drunter. Die Verjüngung ist hier sehr erfreulich. Und gerade jetzt, wo der Borkenkäfer überall zuschlägt, wünschen wir uns ja eine üppige Verjüngung in allen Bereichen."
Sinn eines Nationalparks ist es eben, Muse als Tugend walten zu lassen. Der stille Beobachter ist hier gefragt - und nicht der ständig Tätige wie in einem Wirtschaftsforst, bestätigt auch Uwe Wegener:
"Langfristig beobachten, das kann man eigentlich nur, wenn man im Nationalpark ist und sagt: Wir haben wieder zwanzig oder dreißig Jahre Zeit, vielleicht sogar fünfzig Jahre Zeit und gucken dann mal wieder nach."
Ein buntes Mosaik aus Bäumen
Ebereschen mit ihren leuchtend roten Sommerbeeren und lanzettförmigen Blättern wachsen im Wust der umgestürzten Baumstämme in die Höhe, auch einige Birken blinken mit ihrer charakteristischen weißen Rinde hervor.
Laubbäume und junge Fichten schmecken dem Borkenkäfer nicht. Und robuste Altfichten harzen ihn aus. Es ist diese Vielfalt, die einem Naturwald die Kraft gibt, um sich zu behaupten - ein buntes Mosaik aus Bäumen unterschiedlicher Art in jedwedem Alter, das den Kreislauf des Lebens im Bergwald bestimmt.
Den Kontrast bilden eintönige Fichtenforste an den Hängen außerhalb des Nationalparks: Wie auch nach der Wende stehen dort die Bäume brav Spalier, Zinnsoldaten gleich, in schnurgeraden Reihen, wie auf dem Reißbrett angelegt. Diese konstruierte Kulisse hat unser Waldbild über Jahrzehnte geprägt.
Wer jedoch das Urtümliche sucht, der wird dort fündig, wo der Wald vergehen und wiederkehren darf – in einem Zyklus der Natur, der hier – am Osthang des Brockens - seinen Lauf nimmt.
Farbenrausch im Hochsommer
Auf dem Brockengipfel ist von Natur auf den ersten Blick nicht viel zu erkennen. Am Bahnhof und entlang der Imbissbuden bestimmen die Tagestouristen die Szenerie. Kritik daran gab es auch schon früher:
"Brockenfahrer kommen in hellen Haufen und von allen Sorten, in Rindsleder und Chevreaux, in Loden und Tennisflanell, ganze Bündel Brockenblumen in den Händen."
- Hermann Löns, 1907
Ganze Bündel Brockenblumen halten sie nicht mehr den Händen, jene "Gipfelstürmer", die heutzutage mit der Brockenbahn den Berg erklimmen. Das Gewusel am Bahnhof ist knapp 300 Meter weiter, am Fuße der Wetterwarte, kaum noch wahrnehmbar für Gunter Karste. Der Botaniker steht im Brockengarten, inmitten üppig blühender "Importpflanzen" aus verschiedenen Hochgebirgen der Welt:
Der gelbe Hahnenfuß aus dem Kaukasus, rote Zwergherzblumen aus den Rocky Mountains, gelber Mohn aus den Karpaten und viele verschiedene Edelweißarten aus den Alpen, dem Himalaya und dem Altai-Gebirge im russisch-mongolischen Grenzgebiet.
Jetzt, im Hochsommer schwelgt der Brockengarten in einem Farbenrausch. Gunter Karste deutet auf eine Besonderheit: Den Brockenenzian.
"Dieser klassische Brockenenzian ist die hübsche, schöne Art: die Hybride zwischen dem Gelben Enzian und dem Ungarischen Enzian. Da haben wir in den Tochtergenerationen dann entsprechende Farbvarianten, also von orangerot bis gelb mit dunkelroten Blütenzipfel. Das, was hier gelb blüht, ist das Brockenhabichtskraut. Das sieht ein bisschen aus wie ein mickriger Löwenzahn, aber für die Botaniker ist es dennoch was Besonderes, weil das die einzige Gefäßpflanzenart ist, die hier oben endemisch ist. Das bedeutet: Weltweiter Naturstandort tatsächlich nur hier auf dem Brocken, wo sie ihr zu Hause hat."
Das Brockenhabichtskraut - lange Zeit eine Rarität
Gunter Karste vom Nationalpark Harz erinnert sich an die Zeit nach der Grenzöffnung: Gerade mal zwanzig Exemplare von diesem weltweit einzigartigen Brockenhabichtskraut hatten hier oben überdauert.
Seitdem hat er die Kostbarkeiten vermehrt, inzwischen schmücken wieder einige hundert von ihnen die Brockenkuppe - auch außerhalb des Gartens, wo Gunter Karste und seine Helfer ein weiteres Projekt angehen: Wenige Meter vom Brockengarten entfernt wurde 2013 ein kleines Gebäude abgerissen, der ehemalige Horchposten der Stasi.
Rückkehr einer Seltenheit: das Brockenhabichtskraut im Brockengarten© Deutschlandradio/Lutz Reidt
Jetzt ist da nur noch eine Fläche mit gelblichem Granitsand, und etwas Pflanzliches lugt daraus bereits hervor, erklärt Gunter Karste:
"Sieht man ja schon, immer diese Punkte dazwischen. Autochthones Heidematerial! Ganz wichtig! Die Stecklinge schneiden wir hier von denen, die hier oben vorkommen. Die werden dann entsprechend vermehrt, bewurzelt und dann ausgebracht. Das machen wir im Rahmen ehrenamtlicher Naturschutzarbeit, Naturschutzhelfer, die uns im Frühjahr bei den Einsätzen unterstützen."
Die Natur kehrt zurück - wenn der Mensch sie lässt
Auch hier kehrt die Brockenvegetation zurück und wird bald mehr als 70 Prozent der Bergkuppe bedecken - das ist dann doppelt so viel wie vor der Wende. Und wenn Gunter Karste heute seinen Blick über das Plateau schweifen lässt, ist er manchmal selber überrascht, wie schnell die Natur einstmals verloren gegangenes Terrain zurückerobert - sobald Mensch es zulässt.
Damit war nach der Wende eigentlich nicht zu rechnen. Selbst Vertreter der IUCN äußerten sich skeptisch. Die "International Union for Conservation of Nature" kategorisiert weltweit Schutzgebiete. Sie fordert beispielsweise, dass es eine gewisse Naturnähe gibt, ehe ein Nationalpark ausgewiesen wird– doch das stark verbaute Brockenplateau stand dazu im Widerspruch.
Mittlerweile jedoch dürfte jeder Kritiker überzeugt sein, meint Gunter Karste. Und was hier oben auf dem Brocken gelungen ist, soll auch Sinnbild sein für die Entwicklung im gesamten Nationalpark:
"Ziel ist es natürlich, innerhalb von 30 Jahren nach Gründung mindestens 75 Prozent der Fläche der Naturdynamik zu übergeben. Das werden wir schaffen im Nationalpark Harz. 2022 soll es dann so weit sein - also in drei Jahren. Dann haben wir die Forderung der International Union for Conservation of Nature auch erfüllt. Wir sind froh, dass wir damals die Brockenkuppe mit in die Nationalparkfläche integriert haben."
Goethe war fasziniert vom Brocken
Einige hundert Brockenbesucher sind – nach dem Genuss von Bockwurst und Bier – im Begriff, das Plateau zu verlassen. Bequem mit der Brockenbahn geht es wieder so hinunter wie wenige Stunden zuvor hinauf. So beschwerlich wie zu Goethes Zeiten ist der Gipfelsturm heute jedenfalls nicht mehr und so friedlich-beschaulich das Verweilen auf dem Plateau genauso wenig.
Geradezu fasziniert schilderte Goethe - noch unter dem tiefen Eindruck der winterlichen Brockenbesteigung, - seine Gedanken in einem Brief an Charlotte von Stein:
"Ich will Ihnen entdecken, daß meine Reise auf den Harz war, daß ich wünschte, den Brocken zu besteigen, und nun, Liebste, bin ich heut oben gewesen, ganz natürlich, ob mir´s schon seit acht Tagen alle Menschen als unmöglich versichern. Nun Liebste trete ich vor die Thüre hinaus, da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein über den Fichten vor mir und ich war oben heut und habe auf dem Teufelsaltar meinem Gott den liebsten Danck geopfert."
- Johann Wolfgang Goethe
Autor: Lutz Reidt
Regie: Roman Neumann
Ton: Christiane Neumann
Sprecherinnen und Sprecher: Christiane Guth, Romanus Fuhrmann und Thorsten Föste
Redaktion: Martin Mair
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2019