Nationalpark Hunsrück-Hochwald

Wie man Wanderer in die Wildnis lockt

Ein Mann läuft durch das Moorgebiet Ehlesbruch am Erbeskopf in Deuselbach / Rheinland-Pfalz, das Teil des Nationalparks Hochwald-Hunsrück ist.
Ein Mann läuft durch das Moorgebiet Ehlesbruch am Erbeskopf in Deuselbach / Rheinland-Pfalz, das Teil des Nationalparks Hochwald-Hunsrück ist. © Foto: Oliver Dietze/dpa
Von Anke Petermann |
Damit Wanderer was erleben, führen im Nationalpark Hunsrück-Hochwald die offiziellen Pfade ins Herz der Natur. Touristen können so Felsen und Moore, Molche und Eidechsen, Arnika und Orchideen auf den bestehenden Wegen bewundern.
"Ich sag' erst mal hallo. Mein Name ist Gerd Welker. Ich bin Ranger im Nationalpark Hunsrück-Hochwald. Und darf Sie hier bei unserer Wald-Tour begrüßen."
Start am Bürgerhaus des alten rheinland-pfälzischen Köhler-Dorfs Muhl – einer der wenigen Orte im länderübergreifenden Nationalpark im tiefen Westen der Republik.
600 Meter hoch liegt das Dorf "in der Muhl", einer muldenartigen Senke. Gerd Welker, als Ranger erkennbar am breitkrempigen Pfadfinder-Hut, setzt sich an die Spitze der fünfköpfigen Besuchergruppe. Die asphaltierte Dorfstraße endet nach ein paar Metern, der breite Forstweg führt an einer Wiese mit violett blühenden Kratzdisteln vorbei.
"Gleich verlassen wir den Forstweg und tauche ab in den Nationalpark. So Vorsicht, hier müssen wir jetzt reingehen."

Auf Tuchfühlung mit der Natur

Der Ranger schiebt einen Fichtenzweig beiseite und biegt überraschend ins Unterholz ab: lichter Wald, Sonnenstrahlen treffen auf ein Feld fast mannshoher Fingerhüte, heller violett als die Disteln zuvor und giftig.
Autorin: "Das muss man wissen!"
Welker: "Das muss man wissen, ja! Wir bewegen uns auf Pfaden und Wegen, die der normale Wanderer nicht findet. Ist nicht gekennzeichnet und nichts. Und dieser Weg war nicht vorhanden, der ist von den Rangern so angelegt worden."
Mit dem Ziel, eine sechs Kilometer lange abwechslungsreiche Etappe zu haben, die einiges von des Besonderheiten des Nationalparks Hunsrück-Hochwald zeigt.
Dessen Leiter Harald Egidi umschreibt diese Charakteristika so:
"Also, neben den Mooren sind Felsen und Gesteinshalden ein Alleinstellungsmerkmal. In Summa: Felspartien und Moore zusammen – ein gutes Fünftel etwa im gesamten Nationalparkgebiet",
das in einem Großteil allerdings noch auf Jahrzehnte von preußisch geprägter Waldwirtschaft kündet: trockengelegte Moore, deren Entwässerungsgräben seit vergangenem Jahr von Freiwilligen zugeschüttet werden. Fichten in Reihen gepflanzt, als wären die Bäume Soldaten der preußische Armee.
Bis zur Wildnis ist es im Hunsrück-Hochwald noch weit, weiß Nationalpark-Leiter Egidi, der gelegentlich Landespolitiker und Experten anderer Nationalparks durch den Hunsrück-Hochwald ochHführt.
"Wir sind hier in einem Entwicklungsnationalpark, weil wir halt nicht überall schon diese Naturwald-Situation haben: nach spätestens dreißig Jahren auf dann mindestens 75 Prozent Nutzungsfreiheit haben."
Der Pfad, den Ranger Gerd Welker mit fünf Wanderern Richtung Königsbachtal eingeschlagen hat, zeigt, wie der sogenannte "Prozessschutz" funktioniert: Junge Buchen ersetzen nach und nach die preußischen Fichten-Bestände. Alte Buchen kippen um, die toten Stämme dürfen anders als früher im Wirtschaftswald liegen bleiben. Pilze und Flechten erobern sie.
"Schauen Sie mal, die Moose hier, wie kräftig grün!"
All das Keimzellen des künftigen Urwaldes, der sich hier ungestört von menschlichen Eingriffen ausbreiten darf.

Hitler wollte hier eine Autobahn – jetzt macht sich Urwald breit

Zur Rechten erhebt sich ein Wall.
"Können Sie sich vorstellen, was hier passiert ist? Warum dieser Wall hier ist?"
Kelten vielleicht? Gerd Welker schüttelt den Kopf:
"So lang ist’s net her. Hier war geplant, 'e Autobahn durchzubauen."
"Was!?"
"Hier ist der Mutterboden zusammen geschoben worden. Und hier war gedacht - die Autobahn nach Trier. Im Dritten Reich, also unter Adolf Hitler sollte hier die Autobahn durchgehen."
Doch dieser Verkehrsweg wurde nie gebaut. Gerd Welker geht voran auf dem stillen Geheim-Pfad, den außer ihm nur ein paar Ranger kennen. Er selbst musterte früher jeden Baum als erstes drauf hin, zu welcher Seite er ihn fällen würde. Vor knapp zwei Jahren schulte der Forst-Mitarbeiter zum Ranger um – heute begeistert er sich für den Naturschutz.
"Wir haben ja hier einen Buchen-Nationalpark – Rotbuchen. Gibt’s sehr wenig alte Rotbuchen-Bestände, die eben sehr wertvoll sind. Zum einen eben für die Spechte, für Wurfhöhlen für Wildkatzen, aber auch für den Schwarzstorch."
Eine der Vogelarten, die auf der Roten Liste stehen – vom Aussterben bedroht.

Der seltene Schwarzstorch braucht die stabile Rotbuche

Welker: "Der Schwarzstorch braucht 'e stabiler Baum, mit einer stabilen Krone, wo er eben sein Nest – da gibt s Nester, die sind 30, 40 Jahre alt, die haben eine Tonne an Gewicht, und die müssen schon einen Baum haben, wo das hält."
Egidi: "Wir wissen natürlich, wo bestimmte, sehr störungsempfindliche Arten sind, beispielshalber der Schwarzstorch", konstatiert Nationalpark-Leiter Egidi.
"Und das sind dann die Bereiche, wo wir sagen, hier versuchen wir nicht, neue Wege hineinzulegen, sondern im Gegenteil, hier werden wir das Wegesystem ausdünnen, Umleitungen auch machen, dass wir auch hier den strengen naturschutzfachlichen Anforderungen entsprechen können. Der Besucher merkt das gar nicht. Weil einfach der Weg in eine andere Richtung geht. Also, wir werden keine Zäune aufstellen in dem Gebiet oder ähnliches oder großartig Gesperrt-Schilder hinstellen – das kann man eleganter lösen, dass es nicht irgendwie als Zwangsmaßnahme empfunden wird."
Fällt in dieser Kernzone ein Baum quer übern Weg, dann lässt man ihn liegen und das Gebüsch vom Wegesrand her wuchern. Bald weiß kaum noch einer, dass da mal eine Schneise durchs Unterholz verlief, so die Erfahrung von Harald Egidi. Besucher durch den Nationalpark zu lenken, ist ein Prozess - genauso wie der Naturschutz.
"Die Wegeführung werden wir auch so gestalten, dass wirklich alle interessanten Punkte, seien es schöne alte Waldbereiche, seien es Felspartien und Moore, auch über das Wegesystem erlebbar werden."
"Müssen wir jetzt da hoch?"
Wer gut aufpasst, entdeckt schon jetzt nach einer atemraubenden Steigung am Rand des gut markierten Saar-Hunsrück-Steigs einen Sumpfwald-Teich - und darin Bergmolche mit blau-grünem Rücken. Ein paar Kilometer weiter huschen Eidechsen über trocken-heiße Blockschutthalden.

Molche und Eidechsen vom Wanderweg aus erleben

Unten im Tal blühen seltene Arnika und Orchideen auf den Waldwiesen. Im Geäst ruft der seltene Grauspecht. All das zu sehen und zu erlauschen, ohne dass man die Wanderwege verlässt.
Egidi: "Der ganz große Teil der Besucher bewegt sich von Haus aus auf den Wegen. Und wir haben ja auch sehr schöne Premiumwanderwege, sprich den ‚Saar-Hunsrück-Steig‘ mit all seinen Traumschleifen, das wird überwiegend frequentiert. Wir stellen auch jetzt fest, es sind ganz, ganz wenige Leute, die sich links und rechts der Wege bewegen, das kann man eigentlich vernachlässigen."
Auf Geheimpfaden durchs Unterholz darf man mit den Rangern schleichen. Wald-, Moor- und Felsentouren haben die im Angebot, Schmetterlings- und Libellen-Wanderungen sowie den kulturhistorischen Kelten-Trip. Fünf Rangertouren sind Gerd und Ingrid Bechtel schon mitgelaufen.
"Und wir sind echt begeistert."
Das Ehepaar ist aus der Schwäbischen Alb angereist, er stammt aus dem Hunsrück.
Sie trägt ein Blinden-Abzeichen am Revers und bewegt sich dennoch mit traumwandlerischer Sicherheit durch das unbekannte, teils unwegsame Gelände. Mal Händchen haltend mit ihrem Mann, mal - wenn der Pfad zu schmal ist, um nebeneinander zu gehen - durch einen Schirm mit ihm verbunden.
"Jetzt mal einen ganz großen Schritt – ganz großen. Gut!"
Durchtrainiert und trittfest überquert Ingrid Bechtel, vom Ehemann mit wenigen Worten gelotst, auch Bäche und schmatzende Sumpf-Abschnitte mit Torfmoosen. Wie sie es schafft, auf dem Weg zu bleiben, ohne ihn zu sehen?
"Gefühlsmäßig mehr einfach und irgendwie – ja – Gehör. Man merkt ja schon, wenn die Erde nachgibt oder wenn’s nass wird - man wächst ja irgendwie damit, man spürt das dann schon. Alleine wäre es schon schwierig, in der Gruppe mittendrin zu gehen, weil‘s halt doch unwegsames Gelände ist. Aber so – ich bin ja immer gern im Wald gewesen, als Kind schon – man gewöhnt sich dran. Man sucht andere Sinne, um das mehr zu spüren, zu fühlen, zu tasten."
Einfacher zu gehen als die Wald-Tour mit ihrem wechselndem Untergrund, ihrem Bergauf und Bergab, ist die sogenannte "Insel-Tour", benannt nach den besiedelten Rodungsinseln im Wald, die von Wiesen und Weiden umgeben sind.

Nationalpark mit barrierefreie Routen

An dieser Rangertour einmal wöchentlich zwischen April und Oktober kann man auch im Rollstuhl sitzend oder einen Kinderwagen schiebend teilnehmen.
Auf der schwierigeren Wald-Tour legt Gerd Welker gerade eine kurze Pause ein - in den Blaubeerfeldern am besonnten Hang.
Welker: "Wehle!"
Bechtel: "Genau: Wehle. Hunsrücker Platt."
Es darf genascht werden.
Welker: "Für den Eigengebrauch, ja, darf man die hole."
Auf der Wiese, die sich anschließt, stoppt Welker neben einer Ansammlung von Bärwurz, einem doldenartigen Gewürzkraut. Reibt man die feinen Blätter, verströmen sie eine Mischung aus Fenchel- und Liebstöckel-Aroma. Aus den langen Wurzeln brennt man im Hunsrück Schnaps, wie im Vogtland und im Bayrischen Wald. Während die kleine Wandergruppe hangabwärts läuft, steigen bunte Schmetterlinge aus der Blumenwiese. Nach rund drei Stunden geht die Tour durchs Naturschutzgebiet Königsbachtal dem Ende entgegen.

Pfade durchs Abseits, die nur der Ranger findet

Originelle Wegführung im Abseits, findet Markus Krimm, der mit seiner Partnerin aus dem rheinhessischen Niederolm angereist ist.
"Also, sonst kennt man ja nur die Forstwirtschaftswege. Mir war gar nicht bewusst, dass man überhaupt mitten in den Wald darf. Weil - ich hab teilweise mal was gehört, man soll als Privatperson nicht die Wege verlassen. Vielleicht war’s früher mal so."
Welker: "Wir haben hier im Nationalpark kein Wege-Gebot, also."
"Das war mir halt alles neu. Also, ich kannte das alles nur so straight along, den normalen Standard-Weg, und das war‘s dann auch."
Welker: "Würden Sie allein ja auch tun. Sie würden ja allein diesen Weg allein gar nicht finden."
"Das sowieso nicht - finden sowieso nicht. Und wenn, dann wär’s nur ein Zufall, weil ich mich verlaufen hätte, ist schon mal was ganz anderes."
Eine Rangertour auf einem erlaubten Abweg sozusagen, die Schlussetappe verläuft auf einem Stück Saar-Hunsrück-Steig und mündet dann auf dem Zuweg nach Muhl.

Kaffeeduft auf der Zielgerade

Ingrid Bechtel hat das nahe Bürgerhaus erschnuppert.
"Ich riech' schon Kaffee!" (Lachen)
Die Nationalpark-Leitung überlegt nicht nur, wie man mittels Umwegen Schwarzstorch und Wildkatze ungestört lässt. Sondern auch, wie Zuwege verlaufen sollten, damit die Dörfer vom Wandertourismus profitieren. Im 100-Einwohner-Dorf Muhl gibt es zwar kein Gasthaus, aber immerhin eine Ferienwohnung und vielleicht schon Planungen für weitere. Außerdem Ehrenamtliche, die für kleines Geld Kaffee und Kuchen im Bürgerhaus anbieten. Und vom Erlös eine Spülmaschine anschaffen wollen.
"Wir wollten eben dieses Thema Nationalpark unterstützen. Das Schöne ist, dass vermehrt Gäste kommen – verstärkt", bilanziert Bernd Schmitt:
"Wir hatten im vergangenen Jahr 435 Gäste hier versorgt. Ja, das war eine erheblich große Zahl. Hätten wir nie gedacht, dass so viele Leute hierherkommen."
2016, das zweite Nationalpark-Jahr, lässt sich weit schwächer an. Ob daran der verregneten Sommer Schuld ist oder der vom Vormittag auf den frühen Nachmittag gerutschte wöchentliche Termin für die Ranger-Tour ab Muhl – noch wird gerätselt.

Das Nationalpark-Dorf Muhl präsentiert seine Schätze

Im großen Saal lenkt Bernd Schmitt den Blick auf historische Hunsrück-Fotos an der Wand. Sie erzählen von kargem Leben und harter Arbeit in dem Köhlerdorf. Der Vorsitzende des Vereins "Kirche und Dorf im Nationalpark" präsentiert die Schätze seines Ortes, der zur Streusiedlung Neuhütten gehört.
Einen Büchertisch hat Schmitt zusammengestellt mit Biografien, naturkundlicher Lektüre und Kartenmaterial. Ebenso eine kleine Sammlung von Wald-Fundstücken, wie den Ast mit Zunderschwamm. Wer diesen Pilz an einem toten Stamm unterwegs nur flüchtig betrachtet hat, kann ihn hier noch mal in aller Ruhe anschauen - und auch das papierene Zunderholz, das er entstehen lässt.
Warum die Muhler so viel Mühe auf selbst gebackenen Obstkuchen für Gäste, auf ihre kleine Regional-Bibliothek und ihr Mini-Naturkundemuseum verwenden:
"Wir sind ja vom demografischen Wandel stark gebeutelt. Die Jugend wandert ab. Häuser stehen immer mehr leer. Und vielleicht ist es so, dass der eine oder andere sagt, es ist eine schöne Region, wir bleiben hier, wir könnten uns vorstellen, hier zu leben. Ist ja auch eine Variante. Es ist ein Anfang und ein Versuch. Und der Nationalpark bietet eben das Fundament dafür."
Dass nach Ab- und Umwegen vielleicht auch der ein oder andere Lebensweg im Hunsrück-Hochwald mündet - das wünscht man sich in der dünn besiedelten Grenzregion zwischen Rheinland-Pfalz und dem Saarland.