"Die Beteiligten wussten Bescheid"
Vor 75 Jahren wurden Ärzte und Hebammen dazu verpflichtet, Neugeborene mit bestimmten Auffälligkeiten zu melden. Der Historiker Götz Aly erklärt das damit verbundene "Euthanasie"-Gesetz. Insgesamt seien bis Kriegsende rund 200.000 Menschen umgebracht worden.
Dieter Kassel: Am 18. August 1939 erließ der Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick, einen Runderlass, der den Vermerk "Streng vertraulich" trug. Ärzte und Hebammen, Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Krankenhäuser wurden damit dazu verpflichtet, eine Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu machen, wenn ein Kind mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung geboren wurde, und es wird in diesem Erlass auch genau definiert, welche Behinderungen, welche Erkrankungen gemeint sind. Wir wollen heute diesen Jahrestag, 75 Jahre ist dieser Erlass ja nun genau her, diesen Jahrestag zum Anlass nehmen, um mit dem Historiker und Publizisten Götz Aly über die Krankenmorde der Nationalsozialisten, zu reden. Er ist tatsächlich zu uns ins Studio gekommen heute Morgen. Erst mal schönen guten Morgen, Herr Aly!
Götz Aly: Ja, guten Morgen!
Kassel: Bevor wir uns unterhalten, sei unbedingt erwähnt, dass Sie ja schon im vergangenen Jahr ein Buch zu dem Thema veröffentlicht haben, "Die Belasteten. >Euthanasie<", Sie setzen das in Anführungszeichen, ">Euthanasie<, 1939-1945" , und wir zitieren jetzt wiederum einen anderen Lebensbericht aus diesem Buch, da kommt nämlich auch Elvira Manthey vor, geborene Hempel, ein Kind, das - so muss man es fast formulieren - vor der Gaskammer umkehren durfte. Deshalb hatte sie später Gelegenheit, einiges aufzuschreiben. Und einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Lebensbericht wollen wir jetzt hören:
"Wir gehen alle raus, das ganze Heim, mit einer Schwester. Wir waren ja nur noch acht oder neun Mädchen. Sie bringt uns in ein anderes Haus. Plötzlich öffnet sich die Tür und es heißt: Alles raus. Vor der Tür halten vier Busse. Wir müssen einsteigen und die Busse setzen sich in Bewegung. In meinem Bus sind nur Kinder, und jedes hat seinen Platz. Die Fenster sind von innen blau angestrichen, damit niemand raus- und reingucken kann. Ich habe mir mit dem Fingernagel ein kleines Loch in den Anstrich gekratzt und kann etwas sehen. Straßenbäume und auch Häuser huschen an meinen Augen vorbei. Der Bus fährt eine Weile, dann hält er an. Wir müssen aussteigen. Wir gehen in ein Gebäude mit einem kleinen Gang. Hinter dem Gang öffnet sich eine Tür, dahinter ist ein Raum. Es brennt Licht, obwohl es Tag ist. Ich sehe aber auch keine Fenster. In diesem Raum liegen ein Berg Kleider und ein Berg Schuhe. Hinten, schräg in einer Ecke, steht ein Tisch. An diesem Tisch sitzen Leute in weißen Kitteln. Es waren zirka vier, es können auch acht gewesen sein, aber immer sitzen sich zwei gegenüber. Eine schwere Eisentür mit zwei Riegeln wie im Luftschutzkeller gibt es da auch noch. Eine Frau sagt ganz barsch: "Ausziehen und ein bisschen Beeilung dabei!" Sie hilft den Kindern beim Ausziehen. Es soll schnell gehen. Und jedes Kind, wenn es ausgezogen ist, wird vor diesen Tisch gestellt, an dem die Leute in Weiß sitzen. Dann wird es wieder genommen und verschwindet hinter dieser Eisentür. Nach jedem Kind wird wieder verriegelt. Ich bin beim Hereinkommen weit in den Raum hineingeschoben worden."
Kassel: Das war Absicht, dass hier am Schluss ausgeblendet wurde, das ist nämlich natürlich nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Lebensbericht von Elvira Manthey, die als Kind noch Hempel mit Nachnamen hieß. Es geht weiter. Wir haben das zitiert aus dem schon erwähnten Buch des Historikers Götz Aly, der bei mir im Studio ist. Herr Aly, Anlass für unser Gespräch heute Morgen ist ja der Erlass von vor 75 Jahren. Wie entscheidend war denn dieser Erlass zum Beispiel auch für ein solches Schicksal? Es ist ja eigentlich, wenn man es in dem Amtsdeutsch mal betrachtet, nur der Aufruf, Meldung zu machen. Aber was hat dieser Erlass alles verursacht?
Für jede Meldung zwei Mark
Aly: Dieser Erlass hat ungefähr 100.000 Meldungen bewirkt. Vor allem Hebammen haben das gemeldet, sie bekamen für jede Meldung zwei Mark damals, das wären heute ungefähr 25 Euro, wenn man das umrechnet. Und in Wahrheit gingen diese Fragebogen nicht an das Innenministerium - das war damals gleichzeitig das Gesundheitsministerium -, sondern an die Kanzlei des Führers in Berlin, und zwar unter einer Postfachadresse dort für das sozusagen für Hitler zuständige Postamt.
Und dort saßen zwei, drei Bürokraten mit Sekretärinnen und sortierten diese Fragebögen aus, nach Schweregrad und was da los war, und schickten sie an drei Gutachter, das war ein Professor für Kinderheilkunde, der auch noch nach dem Krieg sehr aktiv war, Werner Catel, das war einer der Erfinder der deutschen Kinder- und Jugendpsychologie, Hans Heinze in Brandenburg-Görden, und es war ein niedergelassener Arzt in Berlin, der enge Beziehungen zur Führung der NSDAP hatte, ein Herr Ernst Wentzler in Berlin-Frohnau.
Und diese drei Ärzte haben das begutachtet, dann wurden die Kinder in spezielle Abteilungen einbestellt, die hießen Kinderfachabteilungen, und dort oft länger begutachtet. Es wurden manchmal richtige Entwicklungsberichte geschrieben, und dann wurde entweder schnell oder langsam, je nach Behinderungsgrad, entschieden, ob das Kind ermordet wird oder nicht. Es gab dann ein Standardschreiben: "Das Kind ist zur Behandlung zugelassen" - Behandlung hieß Mord.
Auf diese Weise sind, man weiß es nicht genau, etwa 5.000 bis 8.000 Kinder ermordet worden bis 1945. Die Geschichte von Elvira Manthey, die wir hier gehört haben, ist eine andere. Das geht nicht nach diesem Erlass, sondern es wurden auch Kinder zusammen mit den Erwachsenen in den Gaskammern ermordet und ganze Transporte dorthin geschickt. Man weiß heute, dass das zwischen 4.000 und 5.000 Kinder gewesen sind. Das jüngste Kind, das in einer Gaskammer ermordet worden ist, war nur vier Jahre, es war eigentlich die sogenannte Erwachsenen-Euthanasie, sodass insgesamt etwa, ja, 10.000 bis 12.000 Kinder während dieser Morde in Deutschland vergast oder zu Tode gespritzt wurden.
Kassel: Aber um auf den Erlass zurückzukommen: Wenn Sie sagen, etwa 100.000 dieser Meldungen wurden gemacht, zwei Reichsmark hat man damals bekommen - kann man aus heutiger Sicht davon ausgehen, dass die Menschen, Hebammen, Ärzte, wie auch immer die Meldung gemacht haben in solchen Fällen, dass die wussten, was sie tun, also dass sie wussten, dass sie ein mögliches Todesurteil damit schon unterschreiben?
Aly: Also in den ersten Monaten nicht unbedingt. Aber es hat sich Mitte 1940, also etwa nach einem guten halben, dreiviertel Jahr hat sich ganz allgemein, vor allem auch unter dem medizinischen Personal, herumgesprochen, wozu das Ganze dient. Die Beteiligten wussten Bescheid. Und sie haben sich auch nicht ganz gleich verhalten. Es gab ... Ich habe Fälle hier in Berlin gefunden, niedergelassene Ärzte, die die Eltern gewarnt haben. Sie haben gesagt: Sie wissen ja. Es gab aber auch umgekehrt Eltern, die Ärzte gefragt haben: Wir haben gehört - wir haben ein schwerbehindertes Kind -, es gibt hier eine Möglichkeit der Erlösung, wir würden die gerne für unser Kind in Anspruch nehmen. Auch das hat es gegeben. Auch sind Kinder jenseits dieses Erlasses, etwa hier von dem Professor Bessau, der die Kinderheilkunde in der Charité vertreten hat, einfach gemeldet worden, wenn sie irgendwie sie gesehen haben oder davon gehört haben.
Kassel: Konnten denn Eltern - jetzt haben Sie die Eltern beschrieben, die sogar, das ist ja fast zynisch, dass so zu sagen, absichtlich Gebrauch machten von dieser Möglichkeit -, konnten Eltern umgekehrt auch etwas dagegen tun? Konnten sie das Schicksal ihrer Kinder verhindern?
Der Druck auf die Eltern war sehr groß
Aly: Nicht immer, aber in sehr vielen Fällen. Also wenn Eltern strikt gesagt haben, nein, ich nehme dieses Kind nach Hause und ihr kriegt es nicht, dann ist es ihnen gelungen in 90 Prozent der Fälle, zu verhindern, dass es ermordet worden ist. Nun muss man sich aber vorstellen: Der Druck war sehr hoch. Heute, wenn Sie ein behindertes Kind haben, bekommen Sie unendlich viel öffentliche Hilfe und auch soziale Unterstützung, die Nachbarn sind nett und freundlich.
Damals, in Zeiten der Erbhygiene, war der Druck auf die Eltern sehr groß. Sie haben keinerlei öffentliche Unterstützung gekriegt, kein Geld, und es ist den Eltern sogar das Geld für die gesunden Kinder entzogen worden, weil sie nun als eine erbkranke Sippe galten, als erbkranke Familie. Und das muss man sich so im Krieg vorstellen, unter sehr viel beengten, auch materiell knappen Verhältnissen.
Dazu muss man sich denken, dass, wenn man ein behindertes Kind bekommt - ich weiß, wovon ich spreche -, dass es da immer auch Schuldgefühle gibt, Fragen, woher kommt das in der Familie, was soll dieser Schicksalsschlag, warum gerade ich, auch Ambivalenzen gegenüber dem Kind, die auch zu Aggressionen, ja, sogar zu Todeswünschen führen können. Und die sind staatlich und auch mit öffentlichen und gesellschaftlichen Mitteln unendlich verstärkt worden.
Kassel: Ist das, ist diese, sagen wir mal, ambivalente Haltung vieler Eltern von behinderten oder für behindert gehaltenen Kindern - das ist ja manchmal auch eine Definitionsfrage, gerade bei geistigen Behinderungen -, ist das auch ein Grund für die, so will es mir erscheinen, zögerliche Aufarbeitung?
Den Begriff Euthanasie hat jeder schon mal gehört, jeder weiß, dass es diese Form der Tötung gegeben hat im Dritten Reich. Aber es wird zum Beispiel erst jetzt, am 2. September dieses Jahres, ein Denkmal eröffnet an dem Ort in Berlin, wo ab 1940 eine ganze Behörde sich dann mit den Krankenmorden beschäftigt hat. Das kommt ja zum Teil relativ spät. Ist das mit ein Grund für diese zögerliche Aufarbeitung?
Wenig Widerstand der Allgemeinheit
Aly: Ja, ganz bestimmt. Es sind ja ungefähr 200.000 Deutsche diesen Ermordungen zum Opfer gefallen, und das ist ... Aus der Sicht eines heute 25-Jährigen in Deutschland, dessen Familie damals schon hier wohnte, hat jeder achte 25-Jährige einen in direkter Linie, der damals ermordet wurde. Und ich behaupte, 90 Prozent der Familien wissen das nicht heute, weil nie darüber gesprochen wurde und weil die Angehörigen ... die Öffentlichkeit gefühlt hat, dass sie irgendwie mit dabei war.
Es war ein Angebot des Staates: Wir nehmen euch die Behinderten, die Geisteskranken ab. Ihr müsst nicht genau wissen, was da passiert. Wir schicken euch eine natürliche Todesursache nach Hause, und ihr könnt weggucken, aber das Leben wird erleichtert. Und das Wort Erlösung spielte damals eine große Rolle und das kennen wir heute auch.
Wenn ein schwerkranker, schwieriger, lange dementer Vater stirbt, dann sagt man auch: Ja, es war vielleicht besser für ihn, jetzt ist er von seinen Leiden erlöst. An diesen Punkten, die ich für ganz menschlich halte, die auch jeder von uns kennt in seiner Widersprüchlichkeit, knüpfte dieses so halbgeheime, halböffentliche, im Halbdunkel stattfindende Euthanasie-Programm an - und es hat sehr, sehr wenig Widerstand der Allgemeinheit gegeben. Es hat ja im Grunde nur einzelne Katholiken gegeben, katholische Würdenträger wie Graf von Galen, die öffentlich und laut dagegen protestiert haben.
Kassel: Aber wie war es denn beim medizinischen Personal, bei den Ärzten? Sie haben gesagt, diese Gaskammertötungen, wir haben das Beispiel gehört, haben ja eigentlich nicht unmittelbar was mit dem Erlass zu tun. Das waren ja oft andere Formen der medizinischen Tötung. Und, das haben wir noch gar nicht erwähnt, es wurden ja auch medizinische Versuche oft unternommen mit Behinderten.
Wie war die Einstellung des medizinischen Personals? Waren das alles, wie man heute oft naiv denken könnte, böse Menschen oder haben die die Riesenchance gesehen in dieser Form der Forschung?
Aly: Die Meisten haben sich so verhalten, wie sich heute die meisten verhalten: Sie haben sich irgendwas zurechtgelegt. Ich habe das Tagebuch einer Ärztin zitiert, die sagt: Ja, was ich jetzt tue, wenn ich diese Fragebogen ausfülle, das dient der Tötung. Dann kommt sie aus einer Konferenz zurück und hat gesagt: Da ist gesagt worden, das dient nur statistischen Zwecken. Und das hat sie dann akzeptiert für sich, obwohl sie es eigentlich besser wusste, und den Fragebogen ausgefüllt.
Da muss man denken, die Leuten waren auch - insbesondere Krankenschwestern - sehr viel obrigkeitshöriger, als das heute der Fall ist. Und dann ist eben Krieg, und Krieg engt auch sofort den Rahmen, in dem man sich Gedanken macht, die über das Unmittelbare, Alltägliche, die persönlichen Sorgen hinausgehen, in einer Weise ein, die wir uns heute nicht mehr vorstellen können. Ich glaube, es waren überwiegend ganz normale Menschen. Ich habe ein Beispiel aus einer Hamburger Kinderklinik, da sind die Kinder auf den normalen Stationen getötet worden vom zuständigen Personal, das gerade in der Tagesschicht war. Und das waren alles ...
Kassel: Entschuldigen Sie, eine Frage: Was heißt in dem Zusammenhang getötet? Wie denn? Wurden die vergiftet? Wurden die erschlagen?
Von 14 haben zwei gesagt: Ich mache es nicht
Aly: Ja, mit einer Luminal-Spritze. Und das waren 14 Assistentinnen der Kinderheilkunde, die dort gelernt haben, und von diesen 14 haben zwei gesagt: Ich mache es nicht. Die zwölf anderen, von denen nur eine NSDAP-Mitglied war, haben alle das sozusagen als Teil ihrer pädiatrischen Ausbildung empfunden, und irgendwann mal, wenn sie dran waren, wenn sie zufällig auf dem Dienstplan standen, ein Kind ermordet.
Selbst Schwesternschülerinnen haben damals darüber gesprochen in dieser Klinik, und die Oberschwestern haben gesagt: Ja, ja, das machen wir hier, und wenn ihr die Prüfung habt, dann reden wir auch mit euch darüber, wie das geht.
Kassel: Da sind wir ja fast bei der großen Frage, die sich immer wieder stellt, gerade im Zusammenhang mit dem NS-Regime - da ist der berühmte Lokführer, der den Zug nach Auschwitz fuhr: Sind das alles auch Täter? Aber es gab ja Ärzte, die mit an dem Plan gearbeitet haben. Da bin ich zum Beispiel unter anderem auch wieder bei den Versuchen. Wie ist damit nach 1945 umgegangen worden? Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass es Ärzte gab, die mit medizinischen Forschungen an diesen behinderten Kindern akademische Titel erworben haben in der Nazizeit und die konnten sie weiter tragen nach 1945.
Aly: Ja, selbstverständlich, alle. Also es gibt jede Menge - ich habe fünf oder sechs aufgespürt, aber es gibt bestimmt Dutzende - Doktorarbeiten, die geschrieben worden sind anhand von Präparaten, vor allem Gehirnpräparaten von solchen ermordeten Menschen, die sozusagen ... Das war ja das Gute daran, also jetzt "gut" in Anführungszeichen: Da hat man erst die klinischen Untersuchungen am lebendigen Menschen gemacht und dann war er tot und dann hatte man sehr frische Präparate gleich hernach.
Es gab einen berühmten Arzt, Julius Hallervorden, der hat sich Kinder bestellt in die Gaskammer nach bestimmten Krankheitsbildern und hat sie vor der Gaskammer dann seziert, die Gehirne, damit er sie frisch hat, eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden nach dem Tod, das steht dann in den Protokollen, und das war später ein hochgeachteter Mitarbeiter und Institutsdirektor der Max-Planck-Gesellschaft. Und die Max-Planck-Gesellschaft hat noch 1985 verhindert, zu verhindern versucht, dass sich über diese Dinge, ja, die in ihrer Gesellschaft ... - sie hatte damals noch die Präparate, sie sind erst später veröffentlicht worden -, dass ich mir diese Präparate und die dazugehörigen Schriftwechsel ansehe.
Kassel: Aber gerade bei diesem Beispiel, ein Wissenschaftler - ich nenne ihn jetzt einfach mal neutral so -, ein Wissenschaftler, der noch vor der Gaskammer diese Hirne untersucht, ... Ich habe die Frage indirekt vorher schon mal gestellt: War das ein, wie soll ich sagen, völlig hemmungsloses und gnadenloses wissenschaftliches Interesse, oder war das auch Freude an der Grausamkeit?
Von der Eindeutigkeit eines Täterbildes freimachen
Aly: Ich glaube nicht, dass es Freude an der Grausamkeit war, jedenfalls nicht in diesem Fall. Das hat es auch gegeben. Aber das waren alles sehr, sehr gute Ärzte, sehr viele davon jedenfalls, sehr engagierte Ärzte. Man hat da völlig ... Wenn man diese Euthanasie-Dokumente liest, da kommt man zu völlig ... findet man völlig verrückte Dokumente, aus unserer heutigen Sicht verrückte Dokumente.
Zum Beispiel der Leiter dieser Zentrale in der Tiergartenstraße 4, das war ein Paul-Hermann Nitsche, das war einer der angesehensten Psychiater der Weimarer Zeit. Und der hat große Lehrbuchartikel geschrieben, dass man Patienten nicht fesseln darf, dass es ein gutes Klima geben muss, dass man sie nicht schlagen darf, dass es zu viel Gewalt gibt, dass es gefährliche Therapien gibt, die eine zu hohe Todesrate haben - ein großer Reformer der deutschen Psychiatrie. Der hat diese Organisation geleitet mit dem Ziel, diejenigen, die nicht heilbar sind, die sogenannten abgelaufenen Fälle, irgendwie rauszukriegen, zu ermorden, damit man die anderen besser versorgen kann. Und dieser Mann schickt seine eigenen Schüler, die er da beschäftigt in dieser Organisation, los, um sächsische Anstalten, so kleine private, zu begutachten, und die schreiben dann: Da sind noch 17 abgelaufene Fälle, die müssen wir in eine öffentliche Anstalt tun, damit sie behandelt, also sprich, ermordet werden.
Und im selben Atemzug schreiben ihm die Leute: In dieser Anstalt werden Patienten noch geschlagen und gefesselt, das muss unbedingt abgestellt werden. Das sind dieselben! Und das sind auch nicht alles Nazis. Dieser Dr. Hallervorden, das war kein Nazi. Der hat gleichzeitig zum Beispiel zu jüdischen Kollegen in Holland, so weit er irgendwie konnte, selbst im Krieg, noch Kontakt gehalten und hat sehr bedauert, dass die aus Deutschland heraus mussten.
Also diese Ambivalenzen haben wir. Wir müssen uns davon freimachen, von der Eindeutigkeit eines Täterbildes, dass das brutale, ja, im Grunde völlig andere Menschen wie wir gewesen seien, sondern das waren Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorlieben. Und im Fall der Euthanasie-Morde waren viele engagierte Ärzte, die den Heilbaren geholfen haben und die die Unheilbaren irgendwie loswerden wollten, und eben auch engagierte Forscher, die endlich - was man bis heute nicht hat - in der Psychiatrie zu so etwas kommen wollten wie einer kausalen Therapie, die wissen wollten: Woran liegt es denn?
Kassel: Herr Aly, ich würde mich gerne noch weiter mit Ihnen unterhalten, ich würde aber sagen, an diese Stelle vielen Dank und ein Hinweis auf Ihr Buch, wo es ja um genau dieses Thema geht, das nicht zu diesem Jahrestag, sondern schon im vergangenen Jahr erschienen ist, es heißt "Die Belasteten" und ist im Fischer-Verlag natürlich weiterhin erhältlich.
Der Historiker Götz Aly war bei uns im Studio, um über die sogenannten NS-Krankenmorde, auch Euthanasie genannt, zu reden.
Herr Aly, vielen Dank für den Besuch!
Aly: Danke schön!
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