"Ungeheure Ungerechtigkeit"
Die Deutschen ignorieren heute, wie stark das NS-Regime ihre Vorfahren beansprucht hat. Das sagt der Historiker Christian Meier, der am Sonntag 85 Jahre alt wird, und kritisiert das einseitige Gedenken.
Christine Watty: Sein Interesse an der Geschichte erklärte der Althistoriker Christian Meier so: Es ist ein Interesse, die Welt in ihrer Vielfältigkeit kennenzulernen. Am Sonntag wird Meier, der selbst so vielen in beeindruckenden Vorlesungen dazu verholfen hat, die Welt eben in ihrer Vielfältigkeit kennenzulernen, 85 Jahre alt, und dieses schöne Zitat, eben von Christian Meier, habe ich aus einem Buch über sein Leben, "Der Historiker und Zeitgenosse". Ich freue mich, Christian Meier jetzt begrüßen zu dürfen. Schönen guten Tag, Herr Meier!
Christian Meier: Guten Tag!
Watty: Ein Buchtitel, an dem man erst mal natürlich hängen bleibt. Jeder Historiker ist auch Zeitgenosse. Was würden Sie sagen, welche Zeit hat Sie in Ihrer persönlichen Zeitgenossenschaft denn am meisten geprägt? Ist es die des Zweiten Weltkrieges?
Meier: Ich würde sagen, vielleicht nicht genau des Erlebens dieses Zweiten Weltkrieges, aber des nachträglichen Nachdenkens darüber, das dann so etwa 1948 einsetzte und mit meinem Studienanfang zusammenhing. Ich habe mich irgendwie immer wieder damit herumgeschlagen, wie Menschen dazu kommen, so was zu machen. Auf der einen Seite das Nazi-Regime und all das, was bei der Gelegenheit dann passiert ist und von Menschen eben gemacht worden ist und mitgemacht worden ist, und auf der anderen Seite, ich habe angefangen, in Rostock zu studieren, also in der zweiten deutschen Diktatur, und da habe ich noch mal und nun war ich ja alt genug, um es aus der Nähe zu beobachten, da habe ich es noch mal erlebt, wie die Leute umkippten und dann plötzlich Kommunisten wurden, nachdem sie vorher alles mögliche andere gewesen waren. Und dies hat mich irgendwie sehr beschäftigt und eigentlich immer wieder umgetrieben, zu verstehen, wie kommt das? Wie kommt es dazu, dass man dann auf so was alles hereinfällt und das jahrzehntelang unter Umständen mitmacht.
Watty: Sie haben das schön beschrieben gerade, dass Sie sich gedanklich eben mit diesen Themen herumgeschlagen haben Zeit Ihres Lebens. Haben Sie auch das Gefühl, befangen zu sein im Umgang mit dieser selbst erlebten Geschichte? Und dann wiederum als Historiker eben diese zu vermitteln und zu versuchen, Antworten auf die gerade von Ihnen gestellten Fragen zu finden.
Meier: Na ja, befangen sind wir ja alle irgendwie, einfach, weil wir Deutsche sind und also die Nachkommen derer jetzt heutzutage, die Nachkommen derer, die das damals gemacht haben. Aber man kann natürlich, und ich glaube, das geht durchaus, man kann natürlich, wenn man von vornherein einen gewissen Abstand dazu hat, und glücklicherweise habe ich den von meinem Elternhaus mitbekommen, dann hält sich das erstens in Grenzen und man kann es zweitens auch eben doch mit einiger Reflexion dann sich genauer betrachten. Also, wie gesagt, mit dieser Befangenheit wird man ein gutes Stück weit fertig, oder das ist jedenfalls möglich.
Watty: Was meinen Sie damit, mit dem Abstand, den Sie beschrieben haben, den Sie von Ihrem Elternhaus bekommen haben? Also gerade, wenn wir jetzt zum Beispiel auf die NS-Zeit gucken, wie haben sie diese dann erleben können? Gab es da diesen Abstand?
Meier: Ja. Also mein Vater war überhaupt kein Nazi und war auch in keiner einzigen nationalsozialistischen Organisation. Er hat auch, soweit ich überhaupt wissen kann, hundertprozentig kann man es nicht sagen, aber so wie ich dann – je weiter ich dann langsam erwachsen wurde und es noch beobachten konnte – er hat nie mit "Heil Hitler" gegrüßt, immer seinen Hut schön abgenommen. Er hat auch am häuslichen Esstisch immer wieder auf diese Bonzen geschimpft und auf den Hitler natürlich auch, und ich kriegte immer dazu gesagt, das darfst du nie nach außen sagen, denn sonst kommt dein Vater ins KZ, und dergleichen. Ich hatte – ja, war nicht völlig frei von allem, man war ja in der Hitler-Jugend und sonst wo – aber es war ein gewisses Gegengewicht vom Elternhaus vorhanden und insofern auch ein Abstand.
Gedankenlosigkeit des Gedenkwesens
Watty: Und wie wurden Sie dann durch den politischen, moralischen und militärischen Zusammenbruch geprägt?
Meier: Das hat mich nicht so sehr geprägt. Ich hab es als Zusammenbruch empfunden. Objektiv war es natürlich auch eine Befreiung, aber zunächst mal ist es uns ja so nicht vorgekommen. Wir waren ja im Krieg und waren besetzt et cetera. Ich glaube, es war erst – im ersten Moment war es wie eine Betäubung. Man hatte in den ganzen Zusammenhängen gelebt, auf einmal waren die weggebrochen, und dann stand man da und musste dann irgendwie weitermachen. Und was das bedeutete, hat sich dann erst allmählich ins Bewusstsein eingeschlichen, sozusagen.
Watty: Jetzt reden wir hier im Radiofeuilleton mit dem Zeitgenossen und Historiker Christian Meier. Dann bleiben wir gleich bei einer Wahrnehmungsfrage. An einer Stelle des Buches sagen Sie, dass es wohl keine Zeit in der Weltgeschichte gegeben hat, in der zeitgenössische und nachträgliche Wahrnehmung so auseinanderklaffen wie bei den Verbrechen, die in der NS-Zeit verübt wurden. Können Sie das erklären?
Meier: Ja, ich hoffe, dass ich das in Kürze erklären kann. Es ist doch so, dass wir heute aus einem beruhigten, großen Abstand die Generation unserer Eltern und Großeltern betrachten und dann also das ganze Nazi-Regime vor uns haben. Und dann wird generalisiert, und dann wird, ja, dann wird eigentlich mit einem geringen Maß an Verständnis vorgegangen. Viel stärker sind die Vorwürfe. Nicht so sehr – das war für unsere Generation. Wir sind ja, als wir das alles erfahren haben, was da passiert ist, war das ja eine Empörung, die in uns gewirkt hat. Wir hatten ja mit den Leuten noch zu tun, die lebten ja zu einem guten Teil noch in der Zeit, und insofern war das eine andere Zuwendung zu dieser Epoche. Außerdem hatten wir ja unsere eigenen Eltern, Lehrer und wer es immer war, erlebt, und hatten auch gesehen wie die ja unter Umständen überhaupt gar nicht unanständig waren. Überhaupt gar nicht eigentlich den Verbrechen zugeneigt.
Ich hatte zum Teil sehr gute Lehrer, die sehr kritisch waren, ohne dass sie das offen geäußert haben. Wenn Sie einen Text lesen, ob das nun Schiller ist oder ob das irgendeine antike Tragödie ist oder dergleichen, dann können Sie ja überall fragen, wie verhalten die sich und wie ist es richtig, sich zu verhalten. Und dann können Sie auch noch durchblicken lassen, dass Ähnliches dann auch noch, ja, dem heutigen Regime gegenüber, also in der Nazi-Zeit zu gelten hat. Und dann merken Sie, wie Leute, die auf irgendeine Weise doch mit "Heil Hitler" grüßen und irgendwo auch mal mitgemacht haben oder auch noch mitmachen, wie die zugleich ganz anders denken und auch ihre Schüler auch zu ganz anderen Dingen instand setzen. Und diese ganzen Unterschiede, diese ganzen Differenzierungen sind ja für heutige Leute kaum mehr nachvollziehbar. Für uns ist das alles ein einziger großer Nazi-Komplex, und das ist eine ungeheure Ungerechtigkeit und eine ungeheure auch Differenzlosigkeit. Und dies alles wird nun auch noch mit einem Riesen-Konformismus betrieben. Also, wenn die Leute in der Nazizeit so konformistisch gewesen wären wie wir das heute sind – Gnade uns Gott, es wäre uns viel schlimmer noch ergangen.
Watty: Ist denn diese Empörung aber, die Sie auch erwähnen, nichtsdestotrotz, auch wenn Sie kritisch auf die heutige Gedenkkultur dieser Art gucken, eine historische Errungenschaft und eine, die zumindest nachhaltig uns beschützen kann?
Meier: Also das wollen wir mal abwarten. Ihr Wort in Gottes Ohr. Ich bin da nicht überzeugt. Ich glaube, in unserem Gedenkwesen steckt viel zu viel Gedankenlosigkeit, und wir müssen es dringend überholen, denn so können wir das, glaube ich, nicht weiter betreiben. Wir leben ja dann wie auf einem anderen Stern. Und wir leben ja eigentlich in unwahrscheinlichen Zuständen. So was hat es ja in der Weltgeschichte noch nie gegeben. So viel verbreiteten Wohlstand über einen ganzen Erdteil hinweg, trotz aller Eurokrise et cetera. Wenn das mal irgendwie gestört wird oder auseinander kracht, dann möchte ich mal wissen, wie das dann ist. Ich glaube, man kann an diese Zeit sich nicht heranmachen, ohne auf der einen Seite völlig klar zu verurteilen, was zu verurteilen ist. Das ist die Vorbedingung. Aber zugleich auch zu verstehen zu suchen, was zu verstehen ist.
"Ein ganzes Stück Geschichte auf dem Buckel"
Watty: Wenn Sie von einer gedankenlosen Gedenkkultur sprechen, was genau, oder was noch mal konkret vergisst diese Gedenkkultur?
Meier: Na ja, den Beanspruchungen, denen man ausgesetzt ist, wenn ein solches totalitäres Regime nun mal da ist. Oder sagen wir mal so: die schon dadurch entstehen, dass irgend ein solches Regime im Entstehen begriffen ist. Das fängt ja irgendwo an beziehungsweise hat eine gewisse Vorgeschichte, und da muss man ja auch schon aufpassen. Aber wenn man dann einfach so tut, als ob das eigentlich eine Sache von Demonstrationen ist – wenn irgendwas ist, geht man auf die Straße und demonstriert, und dann werden die Leute irgendwie zurückscheuen davor, dann hat man vieles verkannt. Es wird dann eben plötzlich gar nicht mehr so einfach möglich sein, zu demonstrieren, wenn es erst mal richtig in Gang gekommen ist, so ein Regime oder die Vorgeschichte des Regimes. Das ist eben nicht, wie in einem Seminar man sich das vorstellt, und man sitzt am grünen Tisch und redet über irgendwas. Das ist alles ganz anders im Endeffekt, und wenn man das nicht versteht, dann bringt man sich um die Kenntnis von Wirklichkeit, mit der man es unter Umständen zu tun hat.
Watty: Ihr Buch "Der Historiker und der Zeitgenosse" trägt noch einen schönen Untertitel, nämlich "Eine Zwischenbilanz". Zwischen was stehen wir denn beziehungsweise was folgt auf diese Zwischenbilanz.
Meier: Die Fortsetzung. "Zwischenbilanz" ist ja nicht die Zwischenbilanz für eine Zeit, sondern für mich. Ja, wenn man nun 85 Jahre alt wird, dann hat man selbst ein ganzes Stück Geschichte auf dem Buckel, auch eigene Geschichte, aber natürlich Geschichte von all dem zugleich, mit dem man es zu tun hatte, von der Familie bis zum Staat und Europa und die Welt. Insofern gibt es irgendwas zwischendurch mal zu bilanzieren. Aber ich hoffe eigentlich, denn ich habe noch eine Menge zu tun, und dann muss man hinterher vielleicht mal noch eine Zwischenbilanz oder am Schluss eine Schlussbilanz zu ziehen. Aber dies Letztere wird man wahrscheinlich machen, wenn ich dann unter der Erde liege.
Watty: Danke schön an den Althistoriker Christian Meier. Wir gratulieren natürlich nicht vorab, wie sich das gehört, aber wünschen Ihnen einfach mal an dieser Stelle schon jetzt einen besonders schönen Sonntag!
Meier: Vielen Dank!
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