Nationalsozialismus

Wie Kirchenleute Nazi-Verbrechern zur Flucht verhalfen

Vor den Heiligsprechungen der Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. füllt sich der Petersplatz in Rom.
Mehrere hochrangige NS-Verbrecher setzten sich nach dem Krieg nach Argentinien ab - auch mit Hilfe prominenter Kirchenleute. © dpa/picture alliance/Radek Pietruszka
Moderation: Philipp Gessler |
Nach dem Krieg haben Kirchenvertreter dabei geholfen, NS-Täter wie Erich Priebke, Klaus Barbie und Josef Mengele nach Lateinamerika zu schleusen. Was waren ihre Motive? Und was wusste Papst Pius XII. davon? Darüber sprechen wir mit dem Historiker Olaf Blaschke.
Philipp Gessler: Ordens- und Kirchenleute haben nach dem Kriegsende vor 70 Jahren mehrere Tausend Nationalsozialisten und NS-Kollaborateure nach Argentinien geschleust. Zu ihnen gehörten über 300 höhere Nazi-Funktionäre und rund 50 Massenmörder und Kriegsverbrecher. Diese sogenannte "Klosterroute" – CIA-Agenten sprachen von der "Rattenlinie" – konnten unter anderem NS-Täter wie Erich Priebke, Klaus Barbie, Josef Mengele und Adolf Eichmann nutzen.
Der Münsteraner Historiker Olaf Blaschke hat die "Klosterroute" erforscht und ich habe ihn dazu interviewt. Meine erste Frage an ihn war, ob man bei dieser skandalösen Fluchthilfe angesichts der Masse an geschleusten Nazis nicht von einem System sprechen müsse.
Olaf Blaschke: Was bedeutet System? Sie haben jetzt von der Seite derjenigen, die geflohen sind, argumentiert, das geht tatsächlich in die Tausende, da kann man sagen, das ist ein System, vor allem von denjenigen, die sagen, wir wissen, wo die Fluchtroute ist. Man hat sich da abgesprochen, man kannte sich, man hat sich gegenseitig geholfen.
Ist es aber auch ein System vonseiten der Kirche? Das wäre der große Streitpunkt. Sind die oberen Stellen der Hierarchie involviert gewesen, haben die das gewissermaßen von oben nach unten dirigiert, oder sind es da, wie ich es neulich noch gelesen habe, doch letztlich nur Einzeltäter gewesen wie Bischof Alois Hudal in Rom und andere?
Das glaube ich aber nicht. Ich glaube, es sind doch sehr, sehr viele involviert gewesen, die von Kloster zu Kloster – oft sind es Franziskanerkloster gewesen, aber auch Benediktiner – von Innsbruck über Tirol bis ganz Italien geholfen haben. Insofern hat es auch ein gewisses System gehabt.
Gessler: Eine der großen Streitfragen wird ja wahrscheinlich sein, und auch sehr brisant: Was hat denn eigentlich Papst Pius davon gewusst?
Blaschke: Jetzt fangen Sie natürlich ganz oben an. Pius XII., der umstrittene Papst, hat 1944 schon, als Italien besiegt war und von den Amerikanern von unten nach oben gewissermaßen aufgerollt wurde, hatte schon aufgrund dieser riesigen Probleme mit Gefangenen, Flüchtlingen und Flüchtlingsströmen die Pontificia Commissione Assistenza ai Profughi gegründet, also eine Hilfskommission für Flüchtlinge.
Das ging gewissermaßen von ihm aus, ist ja auch eine gute Sache, nur, die hatte eben verschiedene Unterkomitees. Leiter dieser Hilfskommission war Monsignore Montini, der 1963 auch Papst wurde, Paul VI. Und diese Unterkomitees sind eigentlich die entscheidenden, ein österreichisches, ein kroatisches zum Beispiel. Insofern weiß man nicht genau, was bei Pius XII. oben angekommen ist. Aber er war sicher nicht zufrieden damit, dass so vielen hochrangigen NS-Tätern geholfen worden ist.
Gessler: Allerdings, einer der Haupttäter, wenn man will, einer der Haupthelfer dieser Täter, nämlich Bischof Hudal, war ein Freund von Pius XII. Also, man kann davon ausgehen, wahrscheinlich unter privaten Gesprächen könnte da schon das eine oder andere Wort gefallen sein.
Das Schweigen des Papstes über den Massenmord an den Juden
Blaschke: Das stimmt, sie waren befreundet und verstanden sich gut. Aber Pius XII. hat ihn halt so um 1952 herum auch suspendiert. Aber die Frage ist, ob er bis in die Details auch eingeweiht gewesen ist. Und wir haben ja auch die Quellen noch nicht. Der Nachlass in den Geheimarchiven, in den vatikanischen, von Pius XII. ist nur bis zu einem bestimmten Zeitraum offen bisher, nämlich bis 1939, und die spannende Zeit, über die dann ja auch die Frage entstand, warum hat der Papst geschwiegen, das war Hochhuths Buch in den 60er-Jahren, "Der Stellvertreter", die spannende Zeit, Weltkrieg und Holocaust, diese Akten sind ja noch gar nicht zugänglich.
Gessler: Das Schweigen des Papstes über den Massenmord an den Juden.
Blaschke: Genau.
Gessler: Nun sind diese Massenmörder wie Mengele, Eichmann, Barbie, die über diese Klosterroute vor allem nach Lateinamerika geschleust wurden, so brisant, dass man sich natürlich schon fragt – und auch schon damals so bekannt gewesen –, dass man sich fragen kann: Wusste man eigentlich vonseiten des Vatikans, wem man da half?
Blaschke: Das ist natürlich die entscheidende Frage. Und das wissen wir bis heute nicht. Also, Hudal wusste bestimmt einiges. Er hat zum Beispiel Franz Stangl, der das Vernichtungslager von Sobibor und Treblinka geleitet hat, den hat er klar namentlich begrüßt. Stangl war auf der Suche, er irrte durch Rom, traf einen Soldaten auf einer Tiberbrücke und er sagte, du willst doch bestimmt zu Hudal, ja, ist gut, da geht es da und da lang. Dann geht er zu Hudal und dann schreibt Stangl später: Der Bischof kam in das Zimmer, in dem ich wartete, und streckte mir beide Hände entgegen und sagte: Sie müssen Franz Stangl sein, ich habe auf Sie gewartet! Und er gibt ihm dann einen falschen Namen so, damit er leichter über Genua nach Argentinien flüchten kann. Bei Franz Stangl wissen wir, der Name war bekannt.
Wir wissen es aber oft nicht. Es gibt einen Assistenten, Josef Prada hieß der, ein Pater, der bis 1947 bei Hudal gearbeitet hat und danach beim Bischof von Brixen, 2006 ist dieser Josef Prader gestorben, der wurde noch von einem Historiker, Gerald Steinacher, interviewt. Und er hat zugegeben: Wir wussten schon mehr oder weniger, wen wir da im Priesterkolleg oder andernorts bei Hudal versteckten.
Gessler: Dann schließt sich automatisch die Frage an: Was waren denn die Motive überhaupt, diesen Menschen zu helfen? Man wusste doch zumindest bei einigen, das sind Massenmörder. Wie kann eine christliche Organisation denen helfen?
Blaschke: Jetzt könnte man sagen, so wie Ihre Frage klingt, sie hätten es ja eigentlich nicht tun müssen oder dürfen, weil sie ja Christen sind. Aber sie haben es nicht getan, obwohl sie Christen sind, sondern gerade weil sie Christen waren. Denn als Christ muss man ja auch vergeben können, man muss christliche Nächstenliebe ausüben. Und das war eines der Hauptmotive.
Nun muss man noch ein anderes Motiv sehen: Manche der Helfenden waren ja auch gewissermaßen Täter oder Mittäter. Hudal zum Beispiel hat 1936 ein sehr NS-freundliches Buch geschrieben, "Die Grundlagen des Nationalsozialismus", wo er versucht hat zu argumentieren, Katholizismus und Nationalsozialismus, das ist doch miteinander vereinbar, das kann doch beides gemeinsam eine schöne Sache sein.
Oder ein anderer, oft vergessener Mittäter, Mithelfer ist Krunoslav Draganovic, ein Franziskanerpater, der führte das österreichische Unterkomitee dieses päpstlichen Hilfswerks. Dieser Draganovic, dieser Franziskanerpater, war im faschistischen Ustascha-Regime bis 1943 für die Deportationen, den Völkermord an den Juden und auch an orthodoxen Serben verantwortlich. Der hat natürlich selber als Massenmörder, der jetzt aber in Rom ist und dort wirken kann und dieses Unterkomitee führt, ein großes Interesse daran und hat die gesamte Regierung des kroatischen faschistischen Regimes, Ante Pavelic und so weiter, nach Lateinamerika gebracht. Das bedeutet, da haben wir mal wieder auch so einen Fall, wo es gar nicht geheim sein kann, man kannte die Regierungsmitglieder ja aus den Zeitungen. Da war ja schon bekannt, wer wem half und wem geholfen wurde.
Aber das so zu den Motiven. Also, Humanität und christliche Nächstenliebe, es sind Interessen im Spiel von Tätern und Mittätern, und nicht zu vergessen, wenn ich das noch als letzten wichtigen Grund anführen darf – obwohl wir natürlich keine Motivationsanschreiben haben und so –, sehr wichtig ist natürlich auch der Kalte Krieg als Kontext. Also, dass der Kampf gegen den Kommunismus jetzt intensiviert werden muss und die Rache an den Nationalsozialisten oder den Faschismus-Involvierten jetzt endlich mal beendet sein müsste.
Die Rolle des katholischen Antisemitismus
Gessler: Sie haben so etwas unklar gesprochen von Interessen. Gab es da auch materielle Interessen?
Blaschke: Nein, das würde ich so nicht sagen. Das gibt es auch an anderen Stellen, nämlich zum Beispiel bei den Schleusern, die geholfen haben, dass diejenigen, die sich erst noch in Deutschland oder in Österreich versteckt haben, auf Bauernhöfen unter falschem Namen und so weiter, illegal über die sogenannte grüne Grenze von Österreich, von Innsbruck meistens aus nach Tirol kommen konnten.
Da sind Leute dabei, die klettern können, die Schleichwege über den Bergrücken kennen. Die verlangten natürlich Geld, weil sie auch ein Risiko eingingen, und haben allerdings Nationalsozialisten ... Das war, also, wenn Sie Nationalsozialist waren, waren Sie zwei-, dreimal so teuer, wie wenn Sie Jude waren. Die haben Juden, die nach Palästina wollten, und eben Nationalsozialisten gleichermaßen geholfen. Da gibt es ein Hotel in Meran, wo in dem einen Stockwerk die flüchtenden Juden, im anderen Stockwerk wahrscheinlich die Nationalsozialisten, die zu den Tätern gehörten, untergebracht waren.
Gessler: Nun war ja diese Klosterroute nicht unbedingt ein Geheimnis nach dem Krieg. Aber es wurde unter vorgehaltener Hand diskutiert. Das hat sich aber mittlerweile geändert, oder? Das ist in der Geschichtswissenschaft dann doch aufgearbeitet.
Blaschke: Schon lange, eigentlich hat man sogar schon in den späten 40er-Jahren Lunte gerochen und was davon gemerkt. Das hat dann zu manchen Mythen geführt, also Simon Wiesenthal hat zum Beispiel den Mythos entwickelt der Akte Odessa, dass also eine Organisation von ehemaligen SS-Leuten sich weltweit hilft und vor allem in Argentinien so eine Art Viertes Reich aufbaut. Dieser Mythos ist auch schon älter, ist auch schon aus dem Zweiten Weltkrieg, weil Argentinien ja Deutschland gar nicht den Krieg erklärte, erst im März '45.
Dieser Verdacht, dass dort die Kirche, aber auch andere – CIA, Rotes Kreuz – nationalsozialistischen Flüchtlingen, anderen faschistischen Flüchtlingen halfen, das ist schon in den späten 40er-, 50er-Jahren immer mal wieder thematisiert worden, häufig abgeleugnet worden. Die Kirche hat sich damit beschäftigt. Paul VI., den ich vorhin erwähnte, der eigentlich der Leiter dieser Hilfskommission, hat dann als Papst in Auftrag gegeben eine Untersuchung über diese Vorgänge.
Herausgekommen sind von 1965 bis 1981 erschienene elf Bände, in denen die These vertreten wird, der Vatikan hat niemals NS-Verdächtigen geholfen. Also, in den 60er- bis 80er-Jahren war das so die These. Die Autoren dieses mächtigen Werkes sind aber vier Jesuiten im Auftrag des Papstes, der selber Mitbeteiligter gewesen ist. Insofern ist die Glaubwürdigkeit davon natürlich zumindest infrage zu stellen. Aber ja, es gibt auch gute Untersuchungen inzwischen, das fängt in den 80er-, 90er-Jahren an, Ernst Klee, Steinacher und andere haben das relativ gut auch anhand von Aktennachlässen und so weiter erforscht.
Gessler: Welche Rolle spielt denn jetzt bei der Hilfe des Vatikan für diese NS-Täter der Antijudaismus in der Kirche, der ja über fast zwei 2000 Jahre sehr hartnäckig war?
Blaschke: Der spielt eine große Rolle insofern, als man ja durchaus die Motive der Täter verstehen konnte. Antisemitismus ist seit dem späten 19. Jahrhundert – der moderne Antisemitismus, nicht nur der alte Antijudaismus, der viel, viel älter ist – ein verbreitetes Phänomen in der katholischen Kirche, auch in der katholischen Kirche, bei den Protestanten ohnehin gewesen. Und er begünstigte gewissermaßen auch eine Annäherung an den Nationalsozialismus, wie ja auch der Antibolschewismus und ähnliche Überschneidungsthemen dort wirksam waren.
Und nach Ende des Krieges gehörte man zwar nicht zu den Auschwitz-Leuten, aber man gehörte doch zu denjenigen, die sagten, nun ja, vielleicht sind die Juden ja auch selber schuld, sie haben ja auch Jesus Christus getötet. Es gibt diese Kollektivschuld-These gegenüber dem jüdischen Volk und der Antisemitismus war zumindest kein Hinderungsgrund.
Und der Holocaust – den Begriff sollte man ja auch nicht benutzen, er kommt ja erst nach 1979 –, aber der Genozid am jüdischen Volk war kein Hinderungsgrund, denjenigen, von denen man meinte, sie würden jetzt ja selber verfolgt – von den Demokraten, von den Alliierten, von den Besatzern, von den Siegern –, denjenigen in christlicher Nächstenliebe beizustehen.
Gessler: Wenn jetzt herauskäme, dass tatsächlich Pius XII. seinem Freund Bischof Hudal entweder geholfen hat oder zumindest davon gewusst hatte, was da mit den NS-Tätern mit vatikanischer Hilfe passiert, dann kann man doch die Heiligsprechung von Pius XII. vergessen, oder?
Blaschke: Wahrscheinlich. Aber ich fürchte, dass die Heiligsprechung eher da ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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