NATO-Ostflanke

Zwischen Kriegsangst und der Sehnsucht nach neuen Helden

Zwei polnische Soldaten stehen am Rande eines Getreidefeldes.
Man hat den Eindruck, die Menschen in der Suwalki-Lücke bereiten sich auf einen Krieg vor, meint der polnische Schriftsteller Stanislaw Strasburger. © AFP / Wojtek Radwanski
Überlegungen von Stanislaw (Stan) Strasburger · 12.07.2022
Wollte Russland die NATO angreifen, dann wohl hier: an der Suwalki-Lücke, dem 65 Kilometer langen Korridor zwischen Polen und Litauen. Der Schriftsteller Stan Strasburger hat bei den dort Lebenden eine sehr gemischte Stimmungslage beobachtet.
Es ist ein sonniger, frischer Morgen Mitte Juni im litauischen Marijampole, einer 50.000-Einwohnerstadt an der sogenannten Suwalki-Lücke, im Grenzgebiet zwischen Polen, Litauen und der russischen Exklave Kaliningrad. Die Gegend steht gerade hoch im Kurs: NATO-Strategen schmieden Verteidigungspläne, internationale Medien berichten ausführlich.
Ein lokaler Journalist bringt mich zu einer Kaserne. Für Soldaten des russischen Zaren gebaut, waren in dem Komplex später litauische, sowjetische und wieder litauische Truppen stationiert. Heute sind auch die US-Amerikaner da. Hinter dem Zaun ohne Sichtschutz ist scheinbar nicht viel los. Der Journalist entschuldigt sich: Ich hätte Pech, normalerweise joggten hier wenigstens die Privates.
Dafür ist auf dem nahe gelegenen Friedhof mehr los. Das letzte noch in der Stadt erhaltene Denkmal der sowjetischen Helden wird abgerissen. Ein kniender Soldat, in der einen Hand sein Helm, in der anderen ein Banner, liegt nun zerschmettert auf dem Boden. Daneben Gräber von Soldaten, die hier ihr Leben verloren haben. Ein Bauarbeiter ruft mir in gebrochenem Englisch zu: „Very good!“
Doch ist das, was gerade hier in der Region passiert, wirklich „very good“? Beschwören wir nicht gerade neue Denkmäler und Gräber herauf, für die wir Platz schaffen müssen?

Vorbereitung für den Ernstfall – Krieg

In den sommerlich unbeschwerten Metropolen wie Vilnius, Warschau oder Berlin mag das überraschend klingen. Doch in der Suwalki-Lücke scheint man sich auf einen Krieg vorzubereiten. Die litauische Schützenunion, eine Art Landwehr, trainiert die Bürger für den Ernstfall.
Mit knapp 30 Menschen, jung und alt, sehe ich mir eine Präsentation an: Wie wird Feuer im Wald gemacht, sodass der Feind die Flammen nicht entdeckt? Wie wird ein Unterschlupf aus Laub und Folie gebaut, der warm hält und vor Nässe schützt?
Die Union erfährt raschen Zulauf, berichten mir mehrere regionale Kommandanten. Und ihre Mitglieder kaufen Sturmgewehre ein. Sie dürfen sie auch zu Hause aufbewahren. In Litauen sind sie restlos ausverkauft, deshalb ist Shoppen in Polen angesagt. Dort muss man die Waffen mittlerweile ein paar Monate im Voraus reservieren, wie mir ein Verkäufer berichtet.

„Ich bin als Erster dran“

Der Bürgermeister eines polnischen Städtchens in der Region klagt, dass er im Falle eines Angriffs zwar mit der Evakuierung beauftragt würde, er aber kaum Personal habe, um der Aufgabe gerecht zu werden: „Wenn der Feind kommt, bin ich als Erster dran. Ich muss Strukturen hinterlassen, die auch ohne mich stabil bleiben.“

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Doch paradoxerweise erzählen dieselben Menschen, dass sie sich nicht bedroht fühlen: Russland werde nicht angreifen, dafür fehle dem Land die Kapazität. Die NATO sei ein wirksamer Schutz. Der Vertreter einer polnischen Gemeindeverwaltung bringt es auf den Punkt: Die Gefährdung der Suwalki-Lücke sei eine Zeitungsente.

Es gibt andere Probleme

Lebensmittelpreise, Brennstoffmangel, Abwanderung in die Städte – das seien die wichtigen Themen. Doch mit diesen Herausforderungen fühlt man sich in der Region von internationalen Medien und Politik alleingelassen. Denn ist die Gefahr wirklich so groß? Warum bereitet man sich hier dann so intensiv auf den Krieg vor? Wofür werden Waffen gehortet und Militärbudgets aufgestockt? Ist es wirklich nötig, der Bevölkerung Angst einzuflößen und Ressourcen für Schulungen für einen Kriegsfall aufzubringen?
Das zerstörte Denkmal ist für mich ein beunruhigendes Omen. Kriege gehen mit Erzählungen über Helden einher. Und das artet oftmals aus: je mehr Tote, desto besser die Erzählung. Wir sollten besser all unsere Kraft dafür aufwenden, dass neue Heldenerzählungen gar nicht erst entstehen müssen.

Stanislaw (Stan) Strasburger ist Schriftsteller, Publizist und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind Erinnerung und Mobilität, er sucht nach der EUtopie und schätzt die Achtsamkeit. Sein aktueller Roman „Der Geschichtenhändler“ erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins „Humanismo Solidario“.

Stan Strasburger posiert für ein Foto.
© Simone Falk
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