Christian Enzensberger: Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur
Mit einer Hinführung von Stefan Ripplinger und einem Nachwort von Dirck Linck und Joseph Vogl
Die Andere Bibliothek, Berlin 2013
543 Seiten, 38 Euro
Der mit den Steinen spricht
Nachdenken, erzählen, erinnern: Dieses nachgelassene Buch des 2009 verstorbenen Münchener Anglistikprofessors Christian Enzensberger ist ein höchst ungewöhnliches Zwiegespräch mit der Natur.
Demosthenes sprach mit den Steinen im Mund, Christian Enzensberger spricht mit den Steinen am Wegesrand. Und sie antworten ihm klar, direkt und auf Bayerisch. "Nicht Eins und Doch", das nachgelassene Buch des 2009 verstorbenen Münchener Anglistikprofessors, ist ein höchst ungewöhnliches Zwiegespräch mit der Natur. Enzensberger hat keinen Roman, keinen Essay und keine philosophische Studie verfasst. Er versucht, nachdenkend, erzählend, sich erinnernd, emphatisch und mit seinem eigenen "Leib" die Natur zu verstehen, die menschliche wie die nichtmenschliche.
Enzensberger gibt den Gegensatz zwischen Natur und Mensch auf. Die Natur ist ihm keine tote, geistlose und weltlose Materie, der der Mensch als lebendiges, weltoffenes, mit Bewusstsein begabtes Wesen gegenübersteht. Die Steine am Rand des Feldweges erscheinen dem Spaziergänger vielmehr vollständig, voller Welt und ohne Mangel. Was sie von sich sagen – "uns foid nemmli niggsn" –, kann er von sich nicht behaupten. Mit Geduld, denn die Steine haben Zeit, sucht er das Gespräch, fluchend über vorbeieilende Jogger, Biker und Spaziergänger. Und weil die Steine in den Himmel, den "Ort der Zukunft und der Möglichkeit", schauen, stellt er sich auf ein Bein, krümmt sich, schaut nach oben – und fällt schmerzhaft um.
Die Öffnung des Subjekts zur Natur und zum eigenen "unteren Leib" hin erlaubt, den ständigen Wandel der Welt wahrzunehmen. Ein "Mögen", ein Wünschen, in der Materie lässt sie immer Neues werden und sein. Der Himmel will nach unten, das Unten, auch die Steine, nach oben, das Innen nach Außen und umgekehrt. Das Prinzip der Bewegung ist der Tausch. Weil Enzensberger die festen Zuordnungen von Anschauung und Begriff unterläuft, nimmt er allerorten keine festen Formen, sondern sinnliche Mannigfaltigkeiten in fließenden Übergängen wahr. Er sieht Bilder, erzählt eine "Geschichte" mit all ihren Umwegen und rehabilitiert so das Naturschöne gegenüber dem Kunstschönen.
Unfreiwillig komisch: das Vorwort
Enzensberger findet in der Natur die Gesellschaftlichkeit und den Sinn wieder, der dem Linken in der politischen Arbeit nach 1968 und im üblichen Leben "unter dem Geldhimmel" verloren ging. Denn der Naturwille möchte sich beständig bilden, "sein-machen", und seine Formen, die Dinge und Wesen, wollen zueinander und miteinander sein und werden.
Schopenhauers Wille, das romantische "Buch der Natur" – die kurze Einführung von Stefan Ripplinger und das Nachwort von Dirck Linck und Joseph Vogl weisen auf Enzensbergers Vorläufer hin. Insbesondere das Nachwort wirkt in seinem Versuch der wissenschaftlichen Einordnung fast komisch, verzichtet doch Enzensberger auf jede Sekundärliteratur. Von einer existenziellen Erfahrung ausgehend, denkt er selbst, nachvollziehbar, geduldig, behutsam, zweifelnd, spekulierend, reflektierend, sich erinnernd, die Steine anredend, sie zitierend und den Leser ansprechend.
Der Rhythmus dieses eleganten Erzählens vermittelt zwischen auseinandergerissenen Welten und wirkt wie ein Strom des Glücks. Er speist sich aus ungeahnten Verbindungen, Erkenntnissen, Ahnungen, und manchmal auch aus den eigenwilligen Übersetzungen der Sätze, die die Steine von sich geben. Ihr "eä mochd meeä kinsdlis wiiäsd moänsd" übersetzt Enzensberger als: der Naturwille sei "mehr auf Kunstanstrengungen bedacht, als du ihm zutraust".