Regie: Stefanie Lazai
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal
Sprecherinnen & Sprecher: Cristin König, Tonio Arango, Ole Lagerpusch
Nature Writing
Das Große im Kleinen entdecken: Ein Marienkäfer ist mehr als ein Frühlingsbote. © imago / YAY Images / pilat
Insekten singen im Sinkflug
29:50 Minuten
Sie dichten über Dodos, schreiben über Steine oder Tauben: Junge Schreibende entdecken die Natur und erfinden damit die Tradition des „Nature Writing” neu. Ihre Werke bewegen ein Publikum, das im Lockdown seinerseits die Natur wiederentdeckt hat.
"Es ist ein wunderbarer Ort. Auch weil man hier erst einmal mit sich allein und eben verschiedenen natürlichen Gegebenheiten sein kann, auch mit den Elementen", erzählt Jan Röhnert an einem winterlichen Märzmorgen in der Elbtalaue zwischen Warenberg und Hitzacker. Den aus Thüringen stammenden Autor hat das einstige Grenzgebiet verzaubert:
"Wenn ich hier in den Himmel schaue, die Wolken, das Spiel von Wolken, Sonne, die Lichtverhältnisse, die Windverhältnisse ändern sich permanent und können auch von einer Stunde auf die andere wechseln, so wie die Wasserstände wechseln können."
Renaissance eines Genres
Die Veränderung von Landschaften ist auch ein Thema, dem sich der 1976 geborene Autor in seinem Ende April 2021 erscheinenden Buch "Vom Gehen im Karst" widmet. Denn der Karst, jenes verwitterte, als karg und unwirtlich geltende Gelände, bleibt niemals gleich.
Röhnert ist trotz seines Interesses an Landschaft, Gestein und Natur kein gelernter Geologe, sondern Literaturwissenschaftler. Seine Texte gehören zu einem Genre, das gerade eine Renaissance erlebt: Nature Writing, das Schreiben über die Natur. Derek Niemann unterrichtet Nature Writing an der Universität von Cambridge und sagt:
"Ich glaube, immer mehr Menschen nehmen die Natur bewusst wahr und wollen darüber schreiben, überall auf der Welt – egal, ob sie jenseits ihres Heimatlandes leben, oder ob sie ihr ganzes Leben am selben Ort verbracht haben."
Nature Writing schärft den Blick für die Natur
Beim Nature Writing, wie es wegen seiner angelsächsischen Wurzeln auch in Deutschland genannt wird, vermischen sich Naturwissenschaft, Philosophie, Natur- und Kulturgeschichte. Und so beschäftigt sich Jan Röhnert in seinen Gängen durch den Karst etwa auch damit, was die Landschaft mit ihm macht und wie sie ihn beeinflusst.
Nature Writing schärft den Blick für die Natur. Und damit ist das neue Nature Writing, mit dem junge Autorinnen und Autoren nicht nur in Deutschland Erfolge feiern, oftmals politisch.
Auch Claudia Gabler schreibt über die Natur. Oft spaziert sie dafür durch den Schwarzwald, den sie seit ihrer Kindheit durchstreift. Gerade ist ihr Gedichtband "Vom Aufblühen in Vasen" erschienen. Darin ist die Natur dem Menschen fremd geworden, nachdem er selbst sie verändert, modelliert, "gestylt" hat, wie es bei Gabler heißt.
Eine bedrohliche und bedrohte Natur
Die Natur, deren romantisch anmutende Ursprünglichkeit frühe Nature Writer wie Henry David Thoreau, Alexander von Humboldt oder Jean-Henri Fabre ins Zentrum rückten, ist in Claudia Gablers Zeilen bedrohlich geworden – ganz bewusst, wie sie sagt:
"Das würde ich mir sehr wünschen, dass die Natur den Menschen etwas mehr Angst macht und dass der Mensch, die Menschen, sich auch wieder daran erinnern, dass die Natur ein Recht dazu hat, uns Menschen Angst zu machen."
Für Gabler ist der Mensch der Täuschung erlegen, Herr über eine Natur zu sein, deren Teil er doch eigentlich ist. Einer Natur wohlgemerkt, die Jahrmillionen gut ohne den Menschen auskam:
"So, wie wir zumindest in Europa und in den meisten Teilen der Welt leben, leben wir so, als hätten wir diese Natur unter Kontrolle und als wäre die Natur etwas, was man unter Kontrolle haben kann. Und das ist eine Täuschung, natürlich. Wir sehen das an der Macht von Naturkatastrophen, wir sehen das jetzt an der Macht eines Virus, das eine ganze Welt lahmlegt."
"Wir leben in hochpolitischen Zeiten"
Über Natur geschrieben hat Claudia Gabler schon, als Nature Writing den meisten Deutschen noch weitgehend unbekannt war. Erst seit einigen Jahren hat das Genre bei uns Einzug gehalten, vor allem mit längeren Essays und Prosatexten. Dass Nature Writer dichten oder Dichterinnen wie Claudia Gabler Nature Writing in Versen verfassen, ist hingegen seltener – doch für Gabler schlicht konsequent, wie sie erzählt:
"Wir leben in hochpolitischen Zeiten. Umweltschutz, Naturkatastrophen sind so drängende und dringende Fragen wie nie zuvor. Ich als Autorin, als Lyrikerin, kann mir derzeit nicht vorstellen, zu schreiben, ohne politisch zu sein, ohne diese Themen wie das Verhältnis zur Natur, das Mensch-Tier-Verhältnis, in mein Denken und in meine Texte einfließen zu lassen."
Schreiben in der Krise
Im vom Menschen geformten Anthropozän, mitten in der Klimakrise, bewegt das Schreiben in und über die Natur immer mehr Autorinnen und Autoren – und auch solche, die es werden wollen.
Der Schriftsteller und Dozent Derek Niemann, der im britischen Guardian eine Kolumne über Naturthemen publiziert, nimmt seit Jahren ein wachsendes Interesse am Nature Writing wahr. Und seit Beginn der Corona-Pandemie sind seine Fernkurse sogar noch voller geworden, wie er sagt:
"Wenn Leute zu Hause eingeschlossen sind oder sich nur in der näheren Umgebung bewegen dürfen, dann suchen sie nach Impulsen von der Welt da draußen. Viele Menschen hören zum ersten Mal bewusst einen Vogel singen, nehmen die Pflanzen draußen in den Parks wahr. Die Natur ist "in", und ich hoffe, dass das Interesse, das die Menschen jetzt zeigen, noch lange erhalten bleibt."
Die Natur aus neuen Perspektiven
In seinen Kursen unterrichtet Niemann entsprechend nicht nur das Schreiben, sondern auch und vor allem die Kunst der Beobachtung: den Einsatz aller Sinne, die Faktenrecherche, Perspektivwechsel und schließlich das Ins-Verhältnis-Setzen des Autors, der Autorin zur Natur.
"Wer über die Natur schreibt", so Niemann, "muss ein scharfer Beobachter sein. Und man muss detailliertes Wissen haben, um über die Natur zu schreiben. Denn erst Wissen versetzt einen in die Lage, auf die richtigen Dinge zu achten, an den richtigen Stellen hinzuhören und zu -schauen."
Zeitgenössische, junge Autor*innen hätten das Nature Writing grundlegend verändert, bestätigt Derek Niemann:
"Ich finde, das ist ein enormer Wandel, einer zum Besseren. So viele Jahre haben weiße Männer das Genre dominiert, Autoren wie ich. Inzwischen sind die meisten und auch die talentiertesten Nature Writer in Großbritannien Frauen. Außerdem ist der Hintergrund der Autorinnen und Autoren vielfältiger geworden. Immer mehr von ihnen haben einen Migrationshintergrund, sind vielleicht von Asien nach Europa gezogen, können jetzt verschiedene Naturerfahrungen ins Verhältnis setzen. Das schafft neue Perspektiven."
Der fremde Blick auf die Natur
Eine von Derek Niemanns Studentinnen ist Aparna Sivasankar. Die junge Inderin ist vor vier Jahren nach London gezogen, wo sie – ausgerechnet in der Großstadt – die Natur entdeckte, wie sie erzählt:
"Als ich in London ankam, habe ich ein gutes Jahr damit verbracht, Museen und all so was zu besuchen. Und dann wurde mir das langweilig. In Indien habe ich gegärtnert, das habe ich vermisst. Ich habe mich also auf die Suche nach Parks und Grünflächen gemacht und Hampstead Heath gefunden. Und seitdem schreibe ich über die Natur dort."
In der Nähe von Bangalore, wo Sivasankar aufgewachsen ist, gebe es nichts Vergleichbares. Keine vom Menschen gepflegte Natur und auch kein Nature Writing. Wer in Indien auf Englisch über die Natur schreibe, gehöre zu einer kleinen, privilegierten Kaste, sagt sie und erzählt über ihren Blick auf die britische Natur:
"Wenn es so etwas gibt wie einen zufriedenen Ausländer, dann ist das meine Perspektive. Ich fühle mich in meiner Fremdheit sehr wohl, ich will keine Britin sein. Ich mag die Idee, dass ich in einer subversiven Art und Weise die britische Natur erforsche, so wie es die Briten früher mit anderen Ländern gemacht haben. Also, ich bin nicht als Kolonialistin hier, aber diese Perspektive einzunehmen, das ist schon sehr cool."
Ein Teil der Landschaft werden
Als Jessica Lee im Jahr 2014 nach Berlin zog, kam sie mit großen Erwartungen. Doch nicht die Nachtclubs und Szenebars waren es, die sie letztlich aus einer persönlichen Krise retteten. Stattdessen waren es die Seen rund um Berlin, die sie einen nach dem anderen durchschwamm.
Sie sagt: "Es gibt keine andere Möglichkeit, so sehr Teil einer Landschaft zu werden, als wenn man ins Wasser steigt. Man ist ein Stück des Ganzen. Die Perspektive ändert sich absolut."
Ihr Tagebuch aus jener Zeit, das unter dem Titel "Mein Jahr im Wasser" erschienen ist, lässt intime Einblicke in Lees Verhältnis zur Natur ebenso wie in ihr Leben zu. Die Verknüpfung des Persönlichen mit der Natur macht ihre Bücher so besonders.
Jessica Lee hat viele Wurzeln. Sie wurde 1986 im kanadischen Ontario geboren. Ihre Mutter war aus Taiwan eingewandert. Später lebte sie in Toronto, in London, in Berlin. Die Arbeit an dem Prosaband "Zwei Bäume machen einen Wald" habe sie gelehrt, dass all diese Orte ihre Heimat seien und dass sie nicht zwischen ihnen wählen müsse, sagt sie. Es ist auch diese globale Verortung, die Lees Nature Writing so sehr von früheren Werken des Genres unterscheidet.
Sie erzählt: "Im Rückblick hängt die Tradition des Nature Writing sehr eng mit der Idee zusammen, dass man qua Geburt zu einer Landschaft gehört, dass man die Natur seiner Heimat sozusagen fließend versteht, weil die Familie seit Generationen dort lebt. Aber für mich ist das nicht so. Und das Gleiche gilt für viele andere, die einen Migrationshintergrund haben."
Nature Writing ist komplizierter geworden
Henry David Thoreau zog 1845 in eine Holzhütte am Walden Pond, um die Natur aus nächster Nähe kennenzulernen – eine Natur, die für die meisten amerikanischen Einwanderer vor allem Ressource und ansonsten fremd geblieben war. "Walden", Thoreaus Tagebuch über sein Leben in den Wäldern von Massachusetts, ist bis heute ein Bestseller des Nature Writings.
Doch die Fragen, die Jessica Lee heute stellt, stellte Thoreau noch nicht. Wo Thoreau seine Heimat erstmals erkundete, stellt sie den Begriff der Heimat an sich infrage, wenn sie sagt:
"Was wir sehen ist, dass modernes Nature Writing die Realität eingeholt hat. Jetzt geht es nicht mehr um die eine Heimat, die viele Menschen auf der Welt schlicht nicht haben. Die Fragen sind viel komplizierter geworden. In dem Moment, wo ich über Landschaft schreibe, stellen sich doch die Fragen nach Grenzen und nach ihrer Überwindung, nach Kolonisation und Imperialismus – all diese Fragen stehen bereits im Raum."
Beantwortet werden können sie laut Lee vor allem von denjenigen, die auch dank ihres kulturellen Hintergrunds in der Lage sind, neue Perspektiven zu eröffnen, die über das traditionelle Verständnis von Land und Natur hinausgehen.
(DW)
Diese Sendung wurde zuerst am 16. April 2021 gesendet