Autor: Philipp Landauer
Sprecherin und Sprecher: Katharina Keller und Marian Funk
Regie: Giuseppe Maio
Technik: Christiane Neumann
Redaktion: Carsten Burtke
Zurück in die Zukunft?!
28:30 Minuten
Mit den Eltern wandern gehen, war früher mit das Langweiligste, was man sich vorstellen konnte. Auf der Suche nach einem Leben im Einklang mit der Natur rücken nun auch für junge Erwachsene ausgerechnet die Alpen immer näher.
Ich denke, vor zehn Jahren, vor zwölf Jahren war das Wandern bei den Jugendlichen – puh, hör auf – langweilig! Das sind Leute mit Bundhose, karierten Hemden und rote Wadel-Strümpf.
"Der Mensch an sich ging in die Stadt, hat dort nach einem erfolgreichen Job, Karriere und nach dem Glück gesucht. Die wenigsten haben das in der Stadt auch tatsächlich gefunden. Ich bekomme das Gegenteil. Ich habe schlechte Luft, es ist laut, und die Tram fährt an der Haustür vorbei. Also haben wir uns da vielleicht verrannt?", sagt Unternehmer Philipp Rupprecht.
"So ein Hirtenleben ist nicht der Traum, den man sich vorstellt. Man ist dann schon mal drei Monate irgendwo auf der Alm. Aber wenn es einmal sechs Wochen schlecht ist und man muss jeden Tag raus – man sollte auch jeden Tag die Tiere sehen – dann zeigt sich auch die andere Seite", erklärt Bauer Joseph Grasegger.
Bereits seit ein paar Jahren lebe ich in Berlin. Als gebürtiger Innsbrucker beobachte ich mit Freude, wie immer mehr Kletterhallen eröffnen und es meine Freunde für den Urlaub in Richtung der Alpen zieht. So auch Flora, eine meiner besten Freundinnen. Mit ihr breche ich nun schon zum zweiten Mal zu einer Alpenüberquerung auf.
"Bei mir war es so, ich habe Wandern gehasst als Kind. Ich fand es furchtbar. Unsere Eltern haben uns in die Berge geschleppt. Jedes Mal wieder, Berg hoch. Und wieso macht man das überhaupt?! Eigentlich will man nur spielen. Alle Lehrer wollen immer wandern gehen. Muss das jetzt sein!? Und dann hat es bestimmt circa zehn Jahre gebraucht, und dann dachte ich so: Ja, jetzt ist es ok. Jetzt würde ich auch mal wieder in die Berge gehen."
Zu dritt über die Berge nach Italien
Die gebürtige Freiburgerin hat dieses Jahr ihre kleine Schwester mitgenommen, Ana-Zoe. Zu dritt wollen wir von München nach Venedig laufen. Ein Klassiker: 550 Kilometer Länge und insgesamt 20.000 Höhenmeter. Wieso sollte man sich das freiwillig antun?
"Das habe ich mich auch schon gefragt, haha! Ich liebe es einfach, draußen zu sein, in der Natur zu sein, mich zu bewegen, die Anstrengung zu haben und zwischendurch immer wieder die Entspannung. Ich mag es einfach, raus zu kommen aus der Stadt und aus der Zivilisation. Ich finde, man kann einfach in den Bergen viel besser abschalten als jetzt bei einem Strandurlaub oder bei einer Stadtrundführung oder so etwas."
Und für die beiden hat so eine Überquerung auch einen ganz praktischen Hintergrund.
"Wir sehen uns superselten. Vielleicht so ein oder zwei Mal im Jahr. Oder?"
"Ja, aber dieses Jahr war es schon mehr!"
"Dieses Jahr war es mehr! Immer in den Urlauben, weil wir in zwei verschiedenen Ländern leben und das schon sehr weit ist."
Während Ana-Zoe noch in Freiburg lebt und studiert, arbeitet Flora für eine Organisation im Sudan. Die Wanderung gibt Anlass, um Versäumtes und Erlebtes aufzuarbeiten.
Ich frage mich, ob mein Gefühl stimmt: Verbringen tatsächlich so viele Menschen ihren Urlaub in den Alpen?! Und erkundige mich bei Thomas Bucher, dem Pressesprecher vom Bundesverband des Deutschen Alpenvereins.
"Die letzten 20 Jahre haben wir immer zwischen drei und fünf Prozent Mitgliederwachstum gehabt. Und wenn man das in Zahlen bemessen will, kann man sagen, wir hatten um die 600.000 Mitglieder im Jahr 2000 und haben jetzt 1,35 Millionen. Das heißt, wir haben uns mehr als verdoppelt in den letzten 20 Jahren."
Der Verein ist in die Sektionen der deutschen Bundesländer unterteilt. Prozentual gesehen sind die Sektionen im Osten in den letzten Jahren am stärksten gewachsen.
Die Instandhaltung von Hütten und Wegen, die Ausbildung von Bergführern zählen zu seinen Aufgaben. Und auch der Naturschutz – was immer schwieriger wird.
"Sie müssen sich vorstellen, wenn man ein Verband von 1,35 Millionen ist, dann hat man schon eine andere gesellschaftliche Wirkung und Kraft. Was quasi nach sich zieht, dass die politische Verantwortung größer ist. Wir haben doppelt so viel Aufgaben oder drei Mal so viel Aufgaben, wie im Jahr 2000. Aber wir sind nicht drei Mal so viele Leute geworden, die diese Aufgaben bewältigen können."
Ein extremes Beispiel für den Zuwachs: die Alpenüberquerung von Obersdorf nach Meran. Auf drei Monate verteilt – brechen jedes Jahr 10.000 Wanderer auf:
"Jetzt, wenn mehr Leute in die Berge gehen, dann konzentrieren die sich noch mehr an den Hotspots. Wenn sich die Leute vernünftiger verteilen würden, dann wäre für alle genug da. Aber es ist eben so, dass alle immer da hinrennen, wo die anderen auch schon hinrennen", sagt Thomas Bucher.
"Der eine war Alkoholiker, die andere vier Mal geschieden"
Bereits nach wenigen Stunden haben wir die Stadt hinter uns gelassen. Der Wald lichtet sich und ein altes Gebäude wird sichtbar. Vor dem sitzt – Philipp Rupprecht. Der 38-Jährige hätte heute eigentlich in einem großen Ledersessel, in einem schicken Büro einer Bank sitzen können.
"Nach meiner letzten Graduation, die in Paris war, das war eine französische Business School, an der ich eigentlich studiert habe, hatte ich Assessment Center über ein Jahr bestanden. Das war bei der HSBC für ein Programm namens global graduate management trainee."
Die Finanzwelt steht Philipp offen, als er in die letzte Runde des Auswahlverfahrens der größten europäischen Bank, HSBC, kommt und auf ein Anwesen bei London eingeladen wird.
"Wir haben dort die Führungsspitze der HSBC kennengelernt. Der eine war Schwerstalkoholiker, die andere war vier Mal geschieden, der Dritte war relativ jung und war wahnsinnig traurig, weil der ständig Relocations hatte und keine Beziehung funktionierte."
Ernüchtert sucht Philipp nach neuen Perspektiven und erinnert sich an seine unbeschwerte Jugend in München:
"Früher, da war Platz, da konnten wir an den See, da waren wir irgendwie am Feldgrundstück, da haben wir eine Apfelschlacht gemacht, als wir klein waren. Warum fügen wir uns in irgendetwas ein, wo wir eh nicht unbedingt zustimmen?! 2008 die Wirtschaftskrise erlebt, 2009 alles ist zusammengebrochen. Warum bilden wir im Freundeskreis, mit dem, was wir können, nicht unseren eigenen Projektraum?"
Also beschließt Philipp gemeinsam mit seinem Schulfreund, ein altes Jagdhaus außerhalb der Stadt zu pachten und einen Traum zu verwirklichen:
"Unsere Eltern haben uns teilweise auch infrage gestellt: Ihr habt eine Top-Ausbildung, Geschäftspartner, hat seinen Master und Doktor gemacht. Du hast zwei Masterabschlüsse und noch ein anderes Studium: Was macht ihr da eigentlich?! Ihr renoviert ein Haus im Wald! Seid ihr bescheuert?!"
Es ist 2010 und Coworking etabliert sich als Konzept für alte Gebäude in der Stadt. Kann das Konzept auch eine Chance für den Leerstand am Land sein? 2013 eröffnet das "Projekt Draußen" als Coworking Space.
"Die letzten Jahre haben gezeigt, dass sehr, sehr wenige Leute zum tatsächlichen Coworking soweit raus gefahren sind. Coworking in der Stadt hat funktioniert, weil sehr einfach erschwinglicher Arbeitsraum für sehr viele sehr nahe zugänglich war, die sich nicht unbedingt ein Büro leisten konnten. In ein Haus im Wald kommen nicht so viele Leute einzeln. Einzelne Menschen zu koordinieren, die in so einem Arbeitsumfeld arbeiten wollen, pro Tag aber vielleicht bereit sind, 30 Euro zu zahlen, trägt so ein Haus auf Dauer nicht und hat es auch nicht getragen."
Heute wird das Projekt Draußen hauptsächlich als Veranstaltungsort genutzt.
Jeglichen Luxus hinter sich lassen
Wir sind inzwischen vier Tage unterwegs, haben München und damit jeglichen Luxus der Stadt hinter uns gelassen. Einen Luxus, den man auf den Hütten vergeblich sucht:
"Meistens gibt es keine Gratis-Duschen. Wenn man duschen will, dann zahlt man dafür. Was einem vielleicht auch bewusst macht, wie wichtig oder wie wenig es diese Ressource gibt. Es gibt kein komplettes Menü, wie man es woanders bekommt. Manchmal sind die Toiletten ziemlich eklig. Die Betten sind nicht immer gemütlich. Man merkt auf jeden Fall ... Ich habe jetzt gemerkt, die Nächte, in denen wir ein ordentliches Bett mit einer ordentlichen Matratze hatten, da habe ich auf jeden Fall besser geschlafen und fühle mich am Morgen viel fitter als bei so einer ausgelegenen Matratze."
Allmählich türmen sich vor uns die Bergspitzen immer höher auf. Wir betreten die Alpen. Was auch die Bergwacht auf den Plan ruft. Heiner Brunner koordiniert ehrenamtlich in der Zentrale der Bergrettung Garmisch-Patenkirchen die Einsätze. Schon als kleiner Junge hat er Bergsport betrieben.
"Schon als Bub mit dem Vater. Und dann mit 14, 15 eigenständig bzw. mit der Alpenvereinsjugend oder mit der Jungmannschaft, wo ich unterwegs gewesen bin. Und bis heute jetzt natürlich vom Klettern her bedeutend weniger. Aber dafür nach wie vor mit Skitouren oder mit Mountainbiken Hochtouren noch relativ gut unterwegs."
Die Zahl der Verunfallten hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum gesteigert, erzählt Heiner. Jedoch würde die Reaktion auf einen Unfall heute wesentlich anders ausfallen:
"In dem Moment, in dem heute der Notruf raus geht, dass verletzte Personen irgendwo im Gebirge unterwegs sind, hört die Polizei mit, wird ein Schuldiger gesucht. Die wenigsten Bergsteiger kämen auf die Idee, nach so einem Unfallgeschehen, das eigenständig abzuwickeln, ohne nach Unterstützung zu suchen."
Das läge vor allem an der Einstellung der Menschen gegenüber den Alpen:
"Draußen in der Wildnis unterwegs sein, da muss mir durchaus bewusst sein, dass es ganz, ganz schnell auch in den einfacheren und harmloseren Bereichen schief gehen kann, wenn ich Pech habe. Dann kann ich aber nicht her gehen und kann erwarten: Landrettungsdienst innerhalb von Minuten muss der Retter vor mir stehen!"
Mittlerweile sind wir auf knapp 2000 Höhenmetern angekommen, wo Hannes Grasegger mit seiner Frau auf der Wettersteinalm arbeitet. Er ist nicht nur Wirt, sondern auch Hirte und muss jeden Tag seine 120 Stück Vieh abzählen. Damit wir ein Gefühl für die Größe seines Herdegebiets zu bekommen, führt er uns zu einem Vorsprung: Zu Fuß wäre das jeden Tag nicht zu schaffen. Also nimmt er Hund Funny mit auf seiner Motorcross:
"Ich fahr meistens um halb acht von der Hütte weg. Weil früher, das bringt nichts. Die Viecher liegen und schlafen. Die flaggen unter den Bäumen und rühren sich nicht – die findest du nicht. Und da gibt es eine gewisse Zeit am Vormittag, wenn die aufstehen zum Grasen, dann läuten auch die Schellen, die auch viele Pseudonaturschützer oder Tierschützer nicht haben wollen. Und die sind für uns und fürs Vieh eigentlich überlebenswichtig. Weil, wenn die wo abstürzten oder im Graben drinnen stehen, dann hörst du die Schellen und findest das Vieh auch."
Es wäre eine Schädigung des Gehörs des Viehs, meinen Tierschützer. Hannes sieht das anders:
"Die meisten hängen, wenn das alte Kühe sind, ihnen jedes Jahr die gleiche Schelle um. Die hat immer den gleichen Klang und die trägt den mit Stolz. Die sind da aufgeregt und dann wissen sie jetzt, jetzt wird es Frühjahr, jetzt dürfen wir raus!"
Wenn die Kühe auf die Alm getrieben werden
Nach einem langen Winter bestoßen die Hirten mit ihrem Vieh jedes Jahr auf ein Neues die Bergweiden. Das heißt: Die Kühe werden auf die Alm getrieben, wo sie die Austriebe der Bäume fressen. Diese wachsen aufgrund des Klimawandels in immer größeren Höhen. So verhindern sie, dass die Almen zuwachsen. Hannes erklärt, wieso das nach wie vor sinnvoll ist.
"Weil, es kann eine andere Zeit auch wiederkommen, in der man das Futter oder die Tiere auch wieder braucht, dass du die Menschheit ernähren kannst. Dann müssen Bauern das aufrechterhalten. Das ist jetzt zwar weit vorausgedacht, aber das vergessen eben viele Leute. Und so was heißt eben Heimat-Erhalt bei uns, dass die Weiden bestoßen werden und vor allem, dass es hier so blüht und aussieht, wie es aussieht."
Eigentlich müssten die Zeiten doch gar nicht so schlecht für Hirten stehen?! Die UNESCO hat Bräuche der Hirten zum immateriellen Weltkulturerbe ernannt und auch der anhaltende Bio-Trend sollte den Bauern und Hirten in die Hände spielen. Beim Vorstand der Weidegenossenschaft in Patenkirchen, Joseph Grasegger, frage ich nach.
"Wir hatten ja in Bayern dieses Volksbegehren. Da ist beschlossen worden: 30 Prozent Eigenproduktion ist Muss. Wir erzeugen derzeit so um die zwölf, 13 Prozent und bringen das, was wir erzeugen, nicht los. Auch dieses Bio wird im Ausland gekauft. Ich kann nur erzeugen, was ich verkaufe und nicht, was ich nachher in den Müll schmeiße."
Der Unmut des Traditions-Bauern
Bio ist für Joseph Grasegger ein Etikettenschwindel, bei dem die Bauern mit ihren umweltverträglichen Produktionsstandards keine Subventionierung erhalten würden, wohingegen große Produktionsfirmen in Deutschland noch mehr Geld bekommen, um sich zu verbessern.
"Wir, die das schon seit Jahrzehnten und Jahrhunderten betreiben, wir stehen mit der großen A-Karte in der Gegend. Und die Bösen, die werden jetzt mit Geld befriedigt, damit sie ein bisschen was – zehn Meter Seitenstreifen am Fluss oder an der Straße, Blumenwiesen abgeben. Das ist… ja… ich sag nichts mehr dazu."
Jahrhunderte lang wurde die Landschaft von der Arbeit der Bergbauern, Hirten und ihrem Vieh geprägt – vor allem die Pflanzenwelt:
"Wenn ich jetzt loswandere, dann ist nicht das Erste, was ich denke: Ah, ich sehe dann viele Pflanzen! Auf der anderen Seite, wenn ich dann dort bin, bleib ich ungefähr bei jeder Blume stehen und schau sie mir an. Aber das mache ich überall. Das mache ich auch bei uns zu Hause im Wald. Mich faszinieren einfach diese Pflanzen. Vor allem in den Alpen gibt es so eine krasse Vielfalt, das hatte ich so gar nicht mehr im Kopf. Und auch die Detailliertheit der einzelnen Blüten und wie unterschiedlich die auch sind. Und wir haben auch zum ersten Mal Edelweiß gesehen. Das ist schon sehr cool! Und auch natürlich die Tierwelt!"
"Zum Beispiel, was für Tiere?"
"Wir haben ganz viele Murmeltiere gesehen. Gestern haben wir ganz viele Baby-Murmeltiere spielen gesehen und die dicke Mama chillte auf einem Stein und hat sich gar nicht darum geschert, dass wir da rumliefen. Und das war irgendwie ein sehr schönes Erlebnis!"
Mit dem Bau von Seilbahnen kam der Wandel
Unruhe in die Idylle und Veränderung in die Landschaft kamen zum ersten Mal Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Bau von Seilbahnen. Im Buch "Ein ganzes Leben" von Robert Seethaler wird dieser Moment aus der Sicht eines Bergdorfes geschildert:
"Von Weitem sah der Pulk wie eine riesige Viehherde aus, nur mit zugekniffenen Augen war hier und da ein hochgereckter Arm oder eine über die Schulter gelegte Spitzhacke zu erkennen. Der Trupp bildete nur die Vorhut einer Kolonne von schweren Maschinen, Werkzeug, Stahlträgern, Zement und anderen Baumaterialien beladenen Pferdefuhrwerken und Lastwagen, die sich im Schritttempo über die unbefestigte Straße bewegte.
Es war das erste Mal, dass im Tal das dumpfe Knattern von Dieselmotoren widerhallte. Die Einheimischen standen schweigend am Straßenrand, bis einer seinen Filzhut vom Kopf riss und ihn mit einem Juchzer hoch in die Luft warf. Jetzt begannen auch die anderen zu juchzen, zu johlen und zu schreien. Seit Wochen hatte man den Frühlingsbeginn und mit ihm das Eintreffen des Bautrupps erwartet. Eine Seilbahn würde errichtet werden. Mit der Bahn würde auch die Elektrizität ins Tal kommen."
Heute sind die Alpen einerseits von Touristenhochburgen geprägt, wo Gletscher mit dem Bagger abgetragen werden, um absolute Mega-Skigebiete zu schaffen. Andererseits gibt es sie aber noch: unberührte Täler und Gipfel.
"Gestern war ein Tag, der hat mir fast am besten gefallen, weil wir kaum jemandem begegnet sind. Wir haben am Anfang zwei Leute gesehen. Am Schluss läuft man stundenlang und denkt so: Hier kommt sonst nichts hin. Klar kann man mit dem Helikopter hinfliegen oder so etwas. Aber sonst geht es eben nur auf den eigenen Füßen. Diese Orte mag ich gerne. Wenn man dann bei den Hütten ankommt, und da stehen mehrere Autos herum oder ein Helikopter – das stresst mich eher. Ich mag es, wenn es so abgeschieden ist."
Abgeschiedenheit in den Alpen, die heute für Ruhe und Erholung steht, war Anfang des 20. Jahrhunderts eher mit Perspektivenlosigkeit verbunden. Mit dem Bau der Seilbahnen jedoch bot sich eine neue Chance:
Abgeschiedenheit in den Alpen, die heute für Ruhe und Erholung steht, war Anfang des 20. Jahrhunderts eher mit Perspektivenlosigkeit verbunden. Mit dem Bau der Seilbahnen jedoch bot sich eine neue Chance:
"In allen Farben glänzende Automobile kamen durch den Taleinfang herangesaust und spuckten auf dem Dorfplatz Ausflügler, Wanderer und Skifahreraus. Viele der Bauern vermieteten Fremdenzimmer und aus den meisten Ställen waren die Hühner und Schweine verschwunden. Stattdessen standen jetzt Skier und Stücke in den Koben und es roch auch nach Wachs statt nach Hühnerkacke und Schweinemist."
Nach dem Aufkommen des Massenwintersports in den 1980ern wird das österreichische Bundesland Tirol zum Zielpunkt für Sommer- als auch Wintertourismus. Doch nicht jeder hat Lust auf Bergbauernhof oder Tourismus als Jobperspektive. Also gehen viele in die Stadt. So wie Georg Gasteiger. Für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre geht er nach Wien und befasst sich anschließend viel mit dem Leerstand am Land.
"Dann wurde ich mal beauftragt mit einer Machbarkeitsstudie, eine neue Arbeitswelt für ein altes Kloster zu konzipieren. Und dieser Klostertrakt hatte drei Stockwerke, und auf Basis von der Fraunhofer Gesellschaft wurde mal das neue Arbeiten in drei Bereiche geteilt: in Konzentration, Kreation und Kommunikation. Der damalige Auftraggeber hat sich dann nicht entscheiden können, das umzusetzen. Und irgendwie, ich glaube, nach ein paar Bier einmal habe ich quasi eine Erleuchtung gehabt: Moment, ich habe diese drei Konstellationen in meiner eigenen Familie."
Und Georg gestaltet den 500 Jahre alten Bergbauernhof seiner Familie in Steinberg am Rofan nach dem Vorbild seiner eigenen Studie um, ohne äußerlich irgendetwas von dem alten Bauernhaus zu verändern.
"Hereinspaziert in die Stube! Hier war so ein wenig das Bemühen – hier war das Bemühen, ein Bauernhaus, Bauernhaus sein zu lassen."
Holzvertäfelung und Ofen, wie vor Hunderten Jahren
In der Stube sieht es aus, als hätte man eine Zeitreise getan:
Holzvertäfelung und ein Ofen, wie es sie vor Hunderten Jahren gegeben hat.
Georg führt uns ins nächste Zimmer, wo ein junges Paar steht:
"So, das sind die zwei, die sich vorstellen können, nächstes Jahr bei uns zu heiraten. Die sind eh schon zwei Stunden hier, mit ihnen war ich im Gasthaus."
Der Mesnerhof C von Georg wird heute von Firmen aus dem Silicon Valley, BMW und sogar Gästen aus Saudi-Arabien als Coworking Space und Veranstaltungsort gebucht. Dabei hatte er 2013 ganz bescheiden als Unterkunft auf Airbnb angefangen. Was am Wochenende vor allem junge Leute für Partys angezogen hat.
"Da beobachtet man mal und staunt, was da eigentlich jetzt passiert und denkt sich fast: Boah, wenn ich davon wirtschaftlich abhängig bin, dass man es so betreiben muss, dann merkt man, dass man nicht mehr ganz rund läuft."
Vor allem für die Wochenendbesucher aus der Stadt stellt Georg Spielregeln auf, trotzdem bleibt für ihn das Dilemma des Gastgebers.
"Zumindest ich habe immer noch das Gefühl, das ist ja doch auch irgendwo mein Haus! Und wenn die das so dekorieren oder ein Wettmelken – weil sie eine Kuh mitbringen von irgendwoher, dann fühle ich mich nicht wohl. Aber ich weiß, man muss ihnen diese Freiheit geben. Ich bin ja nicht die Geschmackspolizei!"
Seit drei Wochen sind wir nun unterwegs. Es ist halb 7 Uhr morgens, die Sonne ist erst vor Kurzem aufgefangen.
Seit drei Wochen sind wir nun unterwegs. Es ist halb 7 Uhr morgens, die Sonne ist erst vor Kurzem aufgefangen.
"Ich glaube, wir sind heute um halb 6 aufgestanden. Wir haben heute eine 8,5-stündige Wanderung vor uns. Deswegen sind wir so früh aufgestanden."
Zudem soll das Wetter am Nachmittag drehen. Regen und vielleicht sogar Gewitter sind angesagt. So genau kann das aber niemand sagen, denn seit der Coronapandemie fliegen weniger Passagierflugzeuge – die normalerweise auch Wetterdaten sammeln. Ein paar Stunden später gönnen wir uns eine dringend benötigte Pause, denn selbst, wenn es nur einen Wetterumsturz mit Regen in den Bergen gibt, ist das kein Spaß, erzählt Flora:
"Wir sind letztes Jahr zum Beispiel durch ein Schneefeld gelaufen. Und solange die Sicht gut war, sieht man, da ist der Pfeiler, da ist der nächste Pfeiler, und da muss man hin. Aber es gibt ja keinen Weg, und wenn der nicht vorgespurt ist, und dann geht die Sicht weg. Und wenn man dann auch kein GPS-Gerät dabeihat, weiß man ja überhaupt nicht, wo man hingeht. Und ich glaube, die Tendenz ist ja fast, im Kreis zu gehen. Ähnlich ist es auch, wenn man nichts sieht und es ist ganz, ganz steil oder sehr brüchig an der Seite. Und dann ist die Absturzgefahr einfach größer."
Sicher ist sicher! Wir schultern wieder unsere Rucksäcke und gehen weiter – mit GPS-Gerät.
Rettung, die teuer werden kann
Was aber, wenn uns tatsächlich etwas passieren würde? Könnten wir den Notfallhubschrauber rufen, ohne auf einer gigantischen Rechnung sitzen zu bleiben? Bei Heiner Brunner von der Bergwacht habe ich nachgefragt:
"Man muss unterscheiden. In dem Moment, in dem ein Patient medizinisch behandlungsbedürftig ist, zahlt es in Deutschland immer die Krankenversicherung. Ist es jetzt zum Beispiel eine Blockade, also dass er in Berg-Not ist, aber unverletzt, dann muss er es selber zahlen."
Und Thomas Bucher vom Deutschen Alpenverein ergänzt.
"Wenn Sie beim Alpenverein sind, übernimmt die Versicherung die Kosten immer, egal ob sie jetzt verletzt sind oder ob sie selber schuld sind. Das ist völlig egal! Sie werden einfach gerettet, und es wird bezahlt. Selbst wenn man fahrlässig ist und wirklich sehenden Auges in die Katastrophe rennt und gerettet werden muss, das bezahlt der Alpenverein. Das ist oft eine Diskussion, die auch kontrovers geführt wird, wo es dann manchmal heißt: Ihr dürft so etwas nicht machen, weil dann rufen die Leute bei da Rettung an, wenn ihnen der kleine Zeh wehtut."
Und was sind die häufigsten Unfallursachen?
"Wir haben keine Statistik darüber, die besagt: Leute, nördlich vom Weißwurstäquator verunglücken öfter, als welche südlich davon. Was wir wissen, ist eben, dass Unfälle, die als Ursache eine Überforderung haben, sehr häufig sind."
Heiner Brunner von der Bergwacht sieht in dem Ganzen ein Paradoxon:
"Auf der einen Seite beklagen wir uns über die Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Und dann gehe ich aus der Leistungsgesellschaft, aus dem Beruf heraus und möchte im Prinzip raus in die Natur und übertrage dabei aber meinen Leistungsanspruch und mein Leistungsdenken und mein Vergleichen und Konkurrieren… Das, was ich den ganzen Tag hatte, das habe ich dann in meiner Freizeit."
Nach einer weiteren Woche verändern sich langsam die Berge, anstelle der schroffen spitzen, treten nun massive rundliche Gipfel – wir haben den letzten Gebirgsabschnitt der Tour erreicht: die Dolomiten. Auf einer Hütte treffen wir eine Gruppe von Männern, die sich am Nachbartisch auf Deutsch über ihre heutige Tour unterhalten. Nils, Micha und Jörg sind, wie sich herausstellt, begeisterte Wanderer:
Nach einer weiteren Woche verändern sich langsam die Berge, anstelle der schroffen spitzen, treten nun massive rundliche Gipfel – wir haben den letzten Gebirgsabschnitt der Tour erreicht: die Dolomiten. Auf einer Hütte treffen wir eine Gruppe von Männern, die sich am Nachbartisch auf Deutsch über ihre heutige Tour unterhalten. Nils, Micha und Jörg sind, wie sich herausstellt, begeisterte Wanderer:
"Die Alpen sind ein sehr schönes Gebirge. Aber man merkt selbst auch im Hochgebirge, das sie sehr touristisch geprägt sind. Viel Infrastruktur, es wird viel reingebaut, selbst in den höchsten Bereichen neue Seilbahnen. Und ich kenne eben auch andere Gebirge. Zum Beispiel die Karpaten. Da ist eben noch vieles natürlicher. Ich meine, man muss auch für die Menschen was machen, da bin ich auch dafür. Touristische Infrastruktur schaffen und so etwas. Aber dass man inzwischen die Alpen auch nachhaltiger entwickelt", sagt Jörg.
"Ich möchte nur kurz Bezug nehmen auf die Thematik, dass sich verstärkt die Ostdeutschen auf diesen Pfad begeben. Das hat nichts mit den Ost-, Süd-, Nordleuten zu tun. Das ist einfach ein Schlag Mensch, der sich auf solche Reisen begibt. Man muss dazu passen. Wir haben eine Reisegruppe gehabt – welche Bude war das?! In der Puez! Der hat einen Teller gereicht und hat gefragt: Wo ist die Wurst?! Wenn ich aber vorher schon zehn Mal im Hotel Urlaub gemacht habe und ein Buffet vor mir habe, das all inclusive bietet und mich dann auf eine Hüttentour begebe und in der Früh dastehe und frage: Wo ist die Wurst?!
Aber noch gar nicht weiß, dass alle Lebensmittel mit dem Hubschrauber eingeflogen werden müssen und dass das ein enormer logistischer Aufwand ist, dann stell ich mir dazu die Frage: Was erzählen die Leute zu Hause?! Reden die davon, dass sie eine super Aussicht hatten, dass das Wetter super war, oder haben die nur im Hinterkopf, dass es bei dem einen Frühstück keine Wurst gab?! Es muss ein Schlag Mensch sein, der dazu passt", ergänzt Niels.
"Ich hatte vor kurzem erst Geburtstag und bei der Feier haben wir gesagt, dass wir die Tour durch die Alpen und Dolomiten planen. Komischerweise hat jeder gesagt, einen guten Weg und viel Glück! Aber keiner hat gesagt, wir kommen mit. Du brauchst einen Schlag Mensch und sagen wir auch eine gute Kondition und ein bisschen Abenteuerlust auch, um was zu erleben im Leben.
Aber noch gar nicht weiß, dass alle Lebensmittel mit dem Hubschrauber eingeflogen werden müssen und dass das ein enormer logistischer Aufwand ist, dann stell ich mir dazu die Frage: Was erzählen die Leute zu Hause?! Reden die davon, dass sie eine super Aussicht hatten, dass das Wetter super war, oder haben die nur im Hinterkopf, dass es bei dem einen Frühstück keine Wurst gab?! Es muss ein Schlag Mensch sein, der dazu passt", ergänzt Niels.
"Ich hatte vor kurzem erst Geburtstag und bei der Feier haben wir gesagt, dass wir die Tour durch die Alpen und Dolomiten planen. Komischerweise hat jeder gesagt, einen guten Weg und viel Glück! Aber keiner hat gesagt, wir kommen mit. Du brauchst einen Schlag Mensch und sagen wir auch eine gute Kondition und ein bisschen Abenteuerlust auch, um was zu erleben im Leben.
Vielleicht ganz wichtig so etwas. Um mal auch ein bisschen zu sich selbst zu finden und auch mal mit dem zufrieden zu sein, was man im Rucksack mit sich führt über ein paar Tage. Damit man einfach zurechtkommt. Mit den Widrigkeiten klarkommt. Ganz einfach. Und das ist Minimalismus. Da sollte sich jeder einfach einmal selbst in der Form machen. Das würde ich jetzt einfach mal so stehen lassen", meint Micha.
Auch wir haben über Wochen minimalistisch gelebt: Hatten immer wieder die gleichen Kleider an, sind gelaufen, bis uns die Füße wehtaten und wuschen uns mit eiskaltem Wasser an Waschbecken. Trotzdem strahlt Ana-Zoe als sie Venedig in der Ferne erblickt:
Auch wir haben über Wochen minimalistisch gelebt: Hatten immer wieder die gleichen Kleider an, sind gelaufen, bis uns die Füße wehtaten und wuschen uns mit eiskaltem Wasser an Waschbecken. Trotzdem strahlt Ana-Zoe als sie Venedig in der Ferne erblickt:
"Ich glaube, dass viele Leute auf den ersten Blick keine Lust haben, wenn man sagt: Wir gehen jetzt in den Alpen wandern und überbrücken irgendwie 7000 Höhenmeter. Aber ich glaube, dass es den meisten Leuten dann am Ende doch gefällt, wenn sie dann am Ende oben auf dem Gipfel stehen und im Schweiße ihres Angesichts dort oben es geschafft haben und runter blicken. Ich glaube, keiner Würde das scheiße finden, ich glaube, alle würden es feiern und alle würden am Ende irgendwie sagen: Boah, das mach ich auf jeden Fall noch einmal!"