Naturverhältnis und Nation
Im Katastrophenfalle gilt für mächtige und ohnmächtige Nationen eines: sie müssen ihr kollektives Gedächtnis durchforsten und alles abrufbar halten, was an Wissen zu Ängsten und Gefahren, welche die Menschen im Laufe der Geschichte heimsuchten, gespeichert ist.
Dies ergibt den ersten Anhaltspunkt, ob es reine Naturgewalt oder ob Menschenwerk mit noch undurchschauten Verkettungen die Ursache war. Wir gehen einer Welt entgegen, in der es zu Mischungen dieser beiden Ursachenstränge kommt.
Die menschliche Existenz war durch alle Zeiten hindurch naturabhängig. Wissen, Tun und Können von Völkerstämmen ist geprägt vom Raum, aus dem heraus man sich zu ernähren gedenkt. Das jeweilige Naturerleben findet sich in allen Handlungs- und Denkmustern. Die Verschiedenheit der Kulturen dürfte von da aus ihren Anfang genommen haben.
Nur mühsam können wir "Kontinentalen" uns in die Mentalität der Inselvölker einfühlen: Machtkämpfe und Friedfertigkeitsgebote existieren nebeneinander, strenge Heiratsvorschriften, Geburtenkontrolle und ablehnende Haltung gegenüber Einwanderung besagen letztlich: der Raum ist begrenzt und so sind es auch die individuellen Freiheiten. Aus Erfahrung mit Knappheit und Enge entstehen disziplinierte Völker. Sie tun gut daran, ihre alten Tugenden nicht neuen Zeiten zu opfern, denn sie werden noch gebraucht. Sie sind das Rückzugsgebiet. Japan hat mit dem Bestand seiner Tugenden, man könnte sagen: unter ihrem Schutz, den Weg in die industrielle Moderne angetreten – schnell und erfolgreich. Im japanischen Auto steckt etwas von der Präzision und Kraft, mit der einst ein Samurai-Schwert hergestellt wurde.
Die Völker- und Staatenbildung ist ohne Naturverhältnis nicht zu denken. Heimat und Geborgenheit wird darin gefunden. Auch Gefahren und Ängste gehen von ihm aus und werden mit Opferriten und religiösen Zeremonien beruhigt. Jedes Tabu bei Naturvölkern dient der Verarbeitung eines Traumas und will die Wiederkehr eines schrecklichen Ereignisses verhindern. So entsteht ein Orientierungswissen, das für ein Leben in einer bestimmten Region zugeschnitten ist, sogar noch mehr: eine von Tradition und Erfahrungen gesättigte Leitkultur. Hierin liegt die Vielfalt der Völker begründet und der Kulturen. Kulturen sind ihre Überlebensprogramme, die in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt entstanden sind und nach geistiger Verarbeitung in den Gruppen zum festen Traditions- und Wissensbestand der Nation werden.
Aufklärung, Wissenschaft und Industrie sind die neuen Götter und sie verheißen einen gewaltigen Sprung aus der Naturabhängigkeit. Es ist gegen die neuen Verhältnisse auch nicht zu argumentieren: zu keiner Zeit konnten so viele Menschen ernährt werden und so lange am Leben bleiben wie durch den Modernisierungsprozess seit 150 Jahren. Alles, was mit Fortschritt und Emanzipation zu tun hat, fußt auf Naturbeherrschung, Technologie und Konzentration von Menschenmassen um die neuen Fertigungsstätten und Rohstofflager.
Mit dem Untergang der Titanic waren die Träume des "Immer größer, immer schneller" untergegangen. Das 20. Jahrhundert war gewarnt. Auch in den Weltkriegen war "Krieg der Vater aller Dinge" gewesen. Triumph und Schrecken der Erfindungen wohnten nahe beieinander; die Kluft zwischen Naturerkenntnis und Naturbeherrschung tat sich in den Bereichen Kernphysik, Chemie und Biologie auf.
Doch das Ende des Zweiten Weltkriegs in Hiroshima und Nagasaki hatte den Eindruck noch verstärkt, dass hier eine schreckliche, aber immerhin beherrschbare Technik eingesetzt werde. Alle Verantwortlichen, von den Wissenschaftlern, Bomberpiloten bis hin zu Präsident Truman sind namentlich bekannt. Daher hatte auch der nahtlose Übergang zur "friedlichen Nutzung der Kernkraft" nichts Beunruhigendes. Es wundert daher nicht, dass die Japaner die unberechenbare Erdbebenkatastrophe für das eigentliche Trauma ihres Inseldaseins halten und weniger die kalkulierten, bis ins kleinste geplanten Atombombenabwürfe 1945 auf ihre Städte. Letzteres war ein grauenvoller, aber einmaliger strategischer Vorgang, während alltäglich spürbare Erdbewegungen ein dauerhaftes Unbehagen auslösen, das Völker hart macht – hart zu sich selber. Im Katastrophenfalle werden wir auf Umwegen davon profitieren.
Josef Schmid, Bevölkerungswissenschaftler und Soziologe, zählt zu den profiliertesten Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Geboren 1937 in Linz, Österreich, studierte er Volkswirtschaft, sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie und hatte von 1980 bis 2007 den Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bamberg inne. Hauptarbeitsgebiete sind Bevölkerungsprobleme der modernen Welt und der Entwicklungsländer, kulturelle Evolution und Systemökologie. Josef Schmid ist Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (DGH).
Veröffentlichungen u. a.: Bevölkerung und Soziale Entwicklung (1984), Bevölkerungsveränderungen – Eine Revolution auf leisen Sohlen (1984), Das verlorene Gleichgewicht – Eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000; mit A. Heigl und R. Mai); Bevölkerungswissenschaft im Werden (2007; mit P. Henssler), über Denkschulen in der deutschen Bevölkerungs- und Industriegeschichte von Friedrich List bis Ludwig Erhard.
Die menschliche Existenz war durch alle Zeiten hindurch naturabhängig. Wissen, Tun und Können von Völkerstämmen ist geprägt vom Raum, aus dem heraus man sich zu ernähren gedenkt. Das jeweilige Naturerleben findet sich in allen Handlungs- und Denkmustern. Die Verschiedenheit der Kulturen dürfte von da aus ihren Anfang genommen haben.
Nur mühsam können wir "Kontinentalen" uns in die Mentalität der Inselvölker einfühlen: Machtkämpfe und Friedfertigkeitsgebote existieren nebeneinander, strenge Heiratsvorschriften, Geburtenkontrolle und ablehnende Haltung gegenüber Einwanderung besagen letztlich: der Raum ist begrenzt und so sind es auch die individuellen Freiheiten. Aus Erfahrung mit Knappheit und Enge entstehen disziplinierte Völker. Sie tun gut daran, ihre alten Tugenden nicht neuen Zeiten zu opfern, denn sie werden noch gebraucht. Sie sind das Rückzugsgebiet. Japan hat mit dem Bestand seiner Tugenden, man könnte sagen: unter ihrem Schutz, den Weg in die industrielle Moderne angetreten – schnell und erfolgreich. Im japanischen Auto steckt etwas von der Präzision und Kraft, mit der einst ein Samurai-Schwert hergestellt wurde.
Die Völker- und Staatenbildung ist ohne Naturverhältnis nicht zu denken. Heimat und Geborgenheit wird darin gefunden. Auch Gefahren und Ängste gehen von ihm aus und werden mit Opferriten und religiösen Zeremonien beruhigt. Jedes Tabu bei Naturvölkern dient der Verarbeitung eines Traumas und will die Wiederkehr eines schrecklichen Ereignisses verhindern. So entsteht ein Orientierungswissen, das für ein Leben in einer bestimmten Region zugeschnitten ist, sogar noch mehr: eine von Tradition und Erfahrungen gesättigte Leitkultur. Hierin liegt die Vielfalt der Völker begründet und der Kulturen. Kulturen sind ihre Überlebensprogramme, die in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt entstanden sind und nach geistiger Verarbeitung in den Gruppen zum festen Traditions- und Wissensbestand der Nation werden.
Aufklärung, Wissenschaft und Industrie sind die neuen Götter und sie verheißen einen gewaltigen Sprung aus der Naturabhängigkeit. Es ist gegen die neuen Verhältnisse auch nicht zu argumentieren: zu keiner Zeit konnten so viele Menschen ernährt werden und so lange am Leben bleiben wie durch den Modernisierungsprozess seit 150 Jahren. Alles, was mit Fortschritt und Emanzipation zu tun hat, fußt auf Naturbeherrschung, Technologie und Konzentration von Menschenmassen um die neuen Fertigungsstätten und Rohstofflager.
Mit dem Untergang der Titanic waren die Träume des "Immer größer, immer schneller" untergegangen. Das 20. Jahrhundert war gewarnt. Auch in den Weltkriegen war "Krieg der Vater aller Dinge" gewesen. Triumph und Schrecken der Erfindungen wohnten nahe beieinander; die Kluft zwischen Naturerkenntnis und Naturbeherrschung tat sich in den Bereichen Kernphysik, Chemie und Biologie auf.
Doch das Ende des Zweiten Weltkriegs in Hiroshima und Nagasaki hatte den Eindruck noch verstärkt, dass hier eine schreckliche, aber immerhin beherrschbare Technik eingesetzt werde. Alle Verantwortlichen, von den Wissenschaftlern, Bomberpiloten bis hin zu Präsident Truman sind namentlich bekannt. Daher hatte auch der nahtlose Übergang zur "friedlichen Nutzung der Kernkraft" nichts Beunruhigendes. Es wundert daher nicht, dass die Japaner die unberechenbare Erdbebenkatastrophe für das eigentliche Trauma ihres Inseldaseins halten und weniger die kalkulierten, bis ins kleinste geplanten Atombombenabwürfe 1945 auf ihre Städte. Letzteres war ein grauenvoller, aber einmaliger strategischer Vorgang, während alltäglich spürbare Erdbewegungen ein dauerhaftes Unbehagen auslösen, das Völker hart macht – hart zu sich selber. Im Katastrophenfalle werden wir auf Umwegen davon profitieren.
Josef Schmid, Bevölkerungswissenschaftler und Soziologe, zählt zu den profiliertesten Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Geboren 1937 in Linz, Österreich, studierte er Volkswirtschaft, sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie und hatte von 1980 bis 2007 den Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bamberg inne. Hauptarbeitsgebiete sind Bevölkerungsprobleme der modernen Welt und der Entwicklungsländer, kulturelle Evolution und Systemökologie. Josef Schmid ist Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (DGH).
Veröffentlichungen u. a.: Bevölkerung und Soziale Entwicklung (1984), Bevölkerungsveränderungen – Eine Revolution auf leisen Sohlen (1984), Das verlorene Gleichgewicht – Eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000; mit A. Heigl und R. Mai); Bevölkerungswissenschaft im Werden (2007; mit P. Henssler), über Denkschulen in der deutschen Bevölkerungs- und Industriegeschichte von Friedrich List bis Ludwig Erhard.