Anarchie ist seit 40 Jahren druckbar
Die Verleger bezeichnen sich noch heute als Anarchisten - sie sind nicht verbürgerlicht wie die 68er-Generation. 40 Jahre ist die Edition Nautilus nun alt, aber kein bisschen verstaubt. Junge Autoren gesellen sich gerne zu den Alt-Anarchisten, erklärt Verlagschefin Hanna Mittelstädt.
Klaus Pokatzky: Früher gab es die 68er und es gab sogar Anarchisten! Die 68er sind schon lange Lehrer und Professoren und manchmal werden sie Außenminister. Und die alten Anarchisten sind Chefärzte oder Chefredakteure und sagen sich abends beim exzellenten Rotwein den alten Spruch auf: Anarchie ist machbar, Herr Nachbar! Und der Nachbar ist eben Professor oder Bischof und ein alter 68er. Das ganze alte linke Deutschland ist so verbürgerlicht und eingepasst in ein behaglich-komfortables Leben. Ganz Deutschland? Nein! Ein kleiner, unbeugsamer Verlag in Hamburg ist sich treu geblieben und sagt im Zweifel immer noch: Anarchie ist druckbar! Die Edition Nautilus feiert jetzt ihren 40. Geburtstag und die Verlagschefin Hanna Mittelstädt ist nun im Studio in Hamburg! Herzlichen Glückwunsch, Frau Mittelstädt!
Hanna Mittelstädt: Ja, ganz herzlichen Dank!
Pokatzky: War das jetzt zu platt, was ich zur Einführung gesagt habe?
Mittelstädt: Ja, das war ein bisschen platt, vor allen Dingen haben der Verlagsgründer Lutz Schulenburg und ich, die wir das ja 40 Jahre gemacht haben, uns nie wirklich als 68er verstanden.
Pokatzky: Aber als Anarchisten?
Mittelstädt: Als Anarchisten, ja.
Pokatzky: Wie hat sich dieses anarchistische, das Sie ja schon in der Schule durch einen Klassenkameraden gelernt haben, der Bakunin eifrig studiert hat, wie hat sich dieses Anarchistische damals unterschieden von den 68ern?
Mittelstädt: Ja, ich würde sagen, wir waren also wirklich keine intellektuelle Bewegung. Wir haben uns in einem Keller in einem wirklich damals sehr heruntergekommenen Viertel getroffen, da gab es wöchentliche Treffen, alles war schwarz gestrichen. Und es waren sehr viele Jugendliche dabei, die aus dem normalen Verhältnissen herausgefallen sind, also mehr proletarisch, subproletarisch, sehr viele Freaks, sehr viele Drogen waren im Spiel. Die Anarchisten lehnten ja jede Parteipolitik ab und wir selber waren sozusagen irgendwie die Intellektuellen unter diesen Außenseitern und Outcasts.
Pokatzky: Und zehn Jahre später wären die alle Punks geworden?
Mittelstädt: Ja, doch, das ist so. Davon sind viele Punks geworden, ehrlich gesagt sind auch viele in die Rote-Armee-Fraktion gegangen.
Eine Strömung für den neuen Menschen
Pokatzky: Der Name Nautilus, das war ja Kapitän Nemos Boot aus Jules Vernes Roman "20.000 Meilen unter dem Meer". Aber der Nautilus ist auch ein Tierchen im Meer. Wie ist damals der Name entstanden, bevor der Verlag am 1. April 1974 in das Hamburger Handelsregister eingetragen wurde?
Mittelstädt: Gestartet haben wir mit einer Zeitschrift, die hieß "MAD – Materialien, Analysen, Dokumente". Und diese Zeitschrift ist dem satirischen Blatt "Mad" quer in den Magen gekommen und die haben gegen uns eine einstweilige Verfügung erwirkt, weil sie fanden, dass wir ihren Namen werbeunwirksam benutzen. Und wir waren dann gezwungen, relativ schnell einen neuen Namen auszudenken. Und dieser Nautilus, dieser Kopffüßler, dieses Urtier, was ja Jahrhunderte, Jahrtausende alt ist, und das fantastische U-Boot aus dem Kosmos von Jules Verne hat uns sehr gefallen, und auch der Querschnitt durch diese Muschel war lange Zeit und ist bis heute eigentlich in abgewandelter Form unser Signet.
Pokatzky: Lutz Schulenburg haben Sie schon erwähnt, der im letzten Jahr gestorben ist. Dann war Pierre Gallissaires aus Frankreich noch dabei, und Sie eben. Ja, welche politischen, philosophischen Strömungen haben damals in diesen drei Personen zusammengefunden?
Mittelstädt: Also, Pierre Gallissaire war 20 Jahre älter als wir und kam aus dem Mai 68 in Paris. Und der hatte wirklich diesen revolutionären Schwung im Gepäck. Die Theoretiker waren einerseits die Situationisten, die in Deutschland nie so besonders groß rausgekommen sind, aber in Frankreich sehr, sehr bekannt waren und sehr einflussreich für den Mai 68 waren.
Pokatzky: Wer war das?
Mittelstädt: Das war eine Gruppe von Künstlern, Theoretikern, Philosophen, die versucht haben, die Trennung zwischen Politik, Alltagsleben und Kunst aufzuheben. Das sollte eine Strömung für den neuen Menschen mit all seinen Fähigkeiten sein, also in dem Marx'schen Sinne des ganz befreiten Menschen, der alle seine Kompetenzen nutzen kann. Und die Situationisten haben sehr viel Kunst mit Parolen, die Comics und auch die moderne Kunst mit in den politischen Diskurs gebracht. Das war damals für die damaligen deutschen, parteipolitisch orientierten und radikal orientierten Leute sehr ungewöhnlich. Und über diese situationistische Brille haben wir dann die klassische Moderne entdeckt, also die Franzosen, die Surrealisten, die Dadaisten. Die anarchistischen Klassiker waren für uns jetzt nicht ganz so wichtig, wichtig waren immer diese Poètes maudites, also die Abtrünnigen, die Andersartigen, die wirklich quer zu jeder Strömung Stehenden. Und wir haben dann angefangen, sehr viel aus diesem französischen Kosmos zu übersetzen.
Pokatzky: Und die auch keine Chance gehabt hätten, in anderen großen Verlagen …
Mittelstädt: Nee.
Solide Verachtung für Bestsellerlisten
Pokatzky: Es gab damals ja zumindest schon die legendäre Reihe rororo aktuell beim Rowohlt Taschenbuch Verlag, es gab bei Fischer als Taschenbuch eine vergleichbare Reihe, die nach damaligem Verständnis links einzuordnen war … die da keine Chance hatten, wo Sie Ihre Nische gefunden hatten?
Mittelstädt: Ja, die waren viel mehr an den deutschen Universitäten verankert. Wir waren eben nicht an den Universitäten und wir hatten unsere Freiheit, das zu machen, was uns persönlich als damals Jugendliche von Anfang 20 … Wir fanden das faszinierend, so Figuren wie Francis Picabia, diesen wahnsinnigen Maler und Philosophen, und ja, die Surrealisten mit ihrer großartigen Geste, mit dem Pathos, was sie verbreitet haben für Revolution und Kunst, das fanden wir damals ganz großartig. Und die Dadaisten waren ja die großen Zertrümmerer. Also, das spielte dann auch mit den Anarchisten eigentlich ganz gut zusammen, mit unseren theoretischen Vorstellungen, dass man erst mal das zerstören muss, bevor man wieder etwas Neues aufbaut.
Pokatzky: Und die meisten Bücher, die Sie machen, sind Zuschussgeschäft, und deshalb sind Sie glücklich, wenn Sie Bestseller landen, etwa Andrea Maria Schenkel mit ihren Krimis, bevor die dann zu Hoffmann und Campe abgewandert ist.
Mittelstädt: Das stimmt.
Pokatzky: Aber das war ein Bestseller, in 20 Sprachen übersetzt, und hat Ihnen so viel Geld gebracht, dass Sie neue Verlagsräume in Hamburg-Bahrenfeld beziehen konnten.
Mittelstädt: Ja.
Pokatzky: Wie politisch muss ein Krimi sein, dass er bei Nautilus veröffentlicht wird?
Mittelstädt: Er muss nicht im landläufigen Sinne politisch sein. Schenkels Debüt "Tannöd" war ein ganz außergewöhnlich literarischer Krimi, er hat uns ganz, ganz außergewöhnlich gut gefallen von Anfang an, wir haben ihn ohne jede Spekulation gemacht, dass das ein gut gehender Titel ist. Wir haben das gehofft, aber solche Ausmaße … Also, auf die Bestsellerlisten hatten wir all die Jahre vorher nie geguckt, da hatten wir eine solide Verachtung, wo wir dann aber mit Andrea Maria Schenkel doch mit zwei Büchern gleichzeitig auf Platz eins und Platz zwei nachher waren.
Pokatzky: Der Verlag hat nun einen Beirat gegründet, das soll ein Thinktank aus Buchhändlern, Vertriebsleuten und Autoren sein, er ist in eine GmbH umgewandelt worden, an der die Mitarbeiter, die das wollen, beteiligt sind. Ist das jetzt das stabile Bein für die Zukunft oder landet Nautilus in 40 Jahren doch auch bei Bertelsmann und seinem Verlagsgiganten Random House?
Mittelstädt: In 40 Jahren bin ich natürlich nicht mehr dabei. Ich bin auch in der GmbH gar nicht mehr drin. Unsere langjährige Lektorin Katharina Picandet wird die Geschäftsführung übernehmen. Ich finde das ganz super und ich glaube, dass sie bei Nautilus 40 Jahre weitermachen wollen, heißt, sie wollen nicht zu Bertelsmann.
"Junge Autoren wollen sich von der Tradition bestrahlen lassen"
Pokatzky: 2004, zu Ihrem 30. Geburtstag, sind Sie mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet worden, einem Preis für unabhängige Verlage, hinter dem unter anderem der Kulturstaatsminister im Kanzleramt steht. Wir leben heute in einer Konsensdemokratie, mit einer sozialdemokratischen Bundeskanzlerin, die in der CDU ist. Wo ist da der Platz für einen Verlag, der immer noch anarchistische Literatur verlegt?
Mittelstädt: Der ist natürlich ganz wichtig. Wir sind immer natürlich noch so eine Art Gegenpol und ein Sammelbecken für Andersdenkende. Ich bin auch sehr stolz, dass zum Beispiel aus der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung drei junge Autoren bei uns gelandet sind. Die jüngeren Leute verstehen, was unsere Tradition ist, und es bedeutet für sie noch was. Und sie wollen sich gerne dazustellen und etwas von der Tradition bestrahlen lassen.
Pokatzky: Danke, Hanna Mittelstädt! Und ihre Edition Nautilus wird heute Abend ab 20:00 Uhr im Golem in der Großen Elbstraße 14 in Hamburg großartig feiern, für alle Hamburgerinnen und Hamburger, die dazustoßen wollen! Und selbstverständlich, wie es sich für Ihren Verlag gehört, ist der Eintritt frei!
Mittelstädt: Ja. Vielen Dank, ich bedanke mich auch für das Gespräch!
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