Navid Kermani bereist China

"Man spricht nicht viel über die eigenen Gefühle"

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Der Autor Navid Kermani sitzt bei einer Veranstaltung im Rahmen des Literatur-Festivals Lit.Cologne im März 2019 auf dem Podium.
Navid Kermani auf Lesereise. Hier während der Lit.Cologne im März 2019. © dpa / Henning Kaiser
Navid Kermani im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
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Bei seiner Lesereise in China hat Autor Navid Kermani bemerkt, dass es den Menschen dort schwer fällt, über erlebte Traumata zu sprechen. So werde die Erfahrung des Hungers während der Kulturrevolution in den Familien auch heute nicht thematisiert.
Stephan Karkowsky: Ich wollte es eigentlich nicht sagen, ist mir ein bisschen peinlich, auch weil es so abgegriffen ist, aber hier passt das Claudius-Wort einfach mal: Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Für den Schriftsteller Navid Kermani gilt das gleich doppelt. Er ist nämlich gerade zurück von einer Lesereise nach China, und da hat er auch noch ein Reisebuch vorgestellt, sein eigenes, "Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan" im Iran. Wie dieser Reisebericht in Peking angekommen ist, das soll er uns nun selbst verraten.
Zunächst mal, unterscheiden sich eigentlich Buchvorstellungen in China groß von denen bei uns in Deutschland, oder sind auch Lesereisen längst durchglobalisiert?
Kermani: Es gibt schon ein paar Unterschiede. Das Setting ist das gleiche wie in Deutschland, aber die Leute sind sehr, sehr geduldig und aufmerksam. Die chinesische Übersetzung wird nicht von einem Schauspieler gelesen, wie das hier üblich wäre, sondern projiziert. Ich habe auf Deutsch gelesen und zwar durchaus auch sehr lang, also 45, 50 Minuten, und die Zuhörer – das ist wohl auch üblich – sehr konzentriert, und die Veranstaltungen gehen auch länger als in Deutschland. Also zweieinhalb Stunden ist da eigentlich so eher die Regel gewesen offenbar.
Und noch ein Detail, was ganz lustig war: Ich hatte eine Lesung mit Yu Hua, das ist der Autor des auch in Deutschland sehr bekannt gewordenen Romans "Brüder", der in China gegenwärtig wohl der bekannteste ist. Da mussten wir – nicht wegen mir, sondern wegen ihm – regelrecht aus dem Saal fliehen, also wie so Popstars, weil er sonst nicht mehr rausgekommen wäre. So bestürmt wurde er, und ich in seinem Gepäck.
Karkowsky: Also eine Lesung mit Untertiteln. Schauen denn die Chinesen anders auf die Geschichten, die Sie erzählen von Ihrer Reise Richtung Iran?
Kermani: Ja, das habe ich schon gemerkt, weil ich erzähle ja in dem Buch von sehr vielen Geschichten, die mir Menschen aus Osteuropa erzählt haben, ältere Menschen, von den Traumata, von den schrecklich Dingen des 20. Jahrhunderts (im O-Ton "des 20. Weltkriegs", Anm. d. Red.), von persönlichen Erfahrungen.
Und das ist etwas in China, das habe ich immer wieder gemerkt, auch bei meiner eigenen Reise im Land, darüber spricht man nicht viel. Man spricht nicht viel über die eigenen Gefühle. Es fehlt auch stellenweise das Vokabular im Chinesischen, vor allem auch in den Dialekten, über persönliche Gefühle zu sprechen. Und wenn das dann öffentlich zur Sprache kommt und auch noch von einem chinesischen Kollegen sozusagen auch kulturell übersetzt wird, der das Buch gelesen hat, dann ist das für die Menschen jedenfalls doch ein aufregender Moment.

Eltern und Kinder sprechen nicht über die Kulturrevolution

Karkowsky: Diese Sprachlosigkeit, von der Sie berichten, ist das nicht einfach bedingt durch 70 Jahre Unterdrückung der Meinungsfreiheit? Ich meine, mittlerweile hat das Regime ja bereits vier Generationen von Chinesen mit seinen Regeln quasi erzogen. Es wäre ein Wunder, wenn das keine Folgen hätte, oder?
Kermani: Das stimmt, aber das würde ja auch für die ehemalige Sowjetunion gelten. Und was ich dort gemerkt habe, was mir auch dort immer wieder berichtet wurde, ist, dass man dort im Privaten immer erzählt hat, immer gesprochen hat. Als ich dann in Weißrussland oder in Russland oder in Tschetschenien oder wo auch immer ins Dorf gekommen bin, waren die Menschen begierig zu erzählen von ihren Erfahrungen.
Aber in China, es gab eine Situation, ich war eine Woche dann wirklich in abgelegenen Regionen, bin gewandert, wirklich von Dorf zu Dorf teilweise. Und es gab eine Situation, bei der ich eine alte Dame nach ihren Erfahrungen mit der Kulturrevolution, mit dem Hunger, also physischem Hunger über Jahre, so dass sie ihre Kinder nicht ernähren konnte, befragt habe, nach den Verhaftungen, Prügeleien der Nachbarn.
Das Erschütternde war für mich nicht so sehr, dass sie da nicht richtig sprechen konnte, sondern dass die Kinder von ihr, so alle im Alter von 40, 45 Jahren, offenbar noch nie danach gefragt hatten. Als ich dann die Kollegen in Shanghai danach fragte, meinten die: Ja, das ist ziemlich typisch hier in China.
Karkowsky: Ist denn Russland – Sie sind ja auch durch Russland gereist für Ihr Buch –, ist Russland im kollektiven Gedächtnis der Chinesen immer noch der Feind, als sich Chruschtschow und Mao zerstritten haben über den einzig wahren Kommunismus?
Kermani: Nein, nicht wirklich. Ich glaube, Russland ist weniger relevant. Es geht jetzt wirklich darum, dass man ein enormes Selbstbewusstsein hat. Jedenfalls aktuell nicht so sehr. Die sehen die politischen Unfreiheiten und die Beschränkungen, aber das Land entwickelt sich rasend schnell, und man trifft überall auf Menschen, die stolz sind auf das, was in den letzten zehn, zwanzig Jahren wirtschaftlich, ökonomisch passiert ist.
Man muss auch sagen, das war mein Eindruck von der Reise, die ganzen politischen Dinge, die man über China im Augenblick sagt, also die Unterdrückung der Uiguren und die Niederschlagung der Proteste in Hongkong, die Verengung der Meinungsfreiheit, natürlich die Überwachung, all das kann man sehen, das ist wirklich teilweise auch schlimm.
Aber anders als andere Länder, andere Schwellenländer der Dritten Welt, die ich bereist habe, ist die Armutsbekämpfung in China ziemlich effizient. Von der kann sich die westliche Entwicklungshilfe auch mal eine Scheibe abschneiden.
Die Menschen, die ich in den Dörfern getroffen habe, die haben vor 20 Jahren noch wirklich gehungert, vor 20, 30 Jahren, und die sind jetzt erst mal froh, dass sie genug zu essen haben. Entsprechend ist da auch die Protestmasse, die '89 ja auch … - da kamen ja nicht nur Studenten, sondern da kamen ja Arbeiter auf die Straße, ist die Protestmasse, glaube ich, im Augenblick doch eher gering oder beschränkt sich auf die studentischen oder intellektuellen Kreise in den Großstädten.

"Die Leute laufen dennoch bei Rot über die Straße"

Karkowsky: Hatten Sie denn einen staatlichen Aufpasser an Ihrer Seite, oder konnten Sie sich frei bewegen?
Kermani: Nein, überhaupt nicht. Also das ist ein falsches Bild, auch von mir selbst, das ich vielleicht so hatte, dass man da irgendwie permanent aufpassen muss. Ich konnte da völlig frei reisen, auch diese Überwachung, von der man immer hört, also die Leute laufen dennoch bei Rot über die Straße. Dieses Punktesystem ist nur in einigen Provinzen eingeführt, also dass das soziale Verhalten da bewertet wird, dass durch die Kameras aufgenommen wird.
Also diesen Eindruck, man sei da so in einem totalitären Staat, das trifft einerseits zu, weil man überall die Kameras hat, aber im persönlichen Umgang habe ich ziemlich selbstbewusste und aktive Menschen erlebt. Dieses Bild der Chinesen als kollektive Masse, das vergeht einem ziemlich schnell, wenn man das Land bereist.
Karkowsky: Wie offen kann man denn als Ausländer mit Inländern in China über die Problempunkte sprechen – Hongkong, die Uiguren, das Massaker am Tian’anmen-Platz?
Kermani: Die Menschen sind da offen, nur das Problem ist eher eine Sache der Information. Also wenn man nicht Auslandsmedien wahrnimmt, also wie das die Studenten etwa tun über bestimmte Server, dann bekommt man von den Protesten in Hongkong oder auch von der Unterdrückung der Uiguren überhaupt nichts mit oder jedenfalls alles nur gefiltert. Das ist eher das Problem.
Klar, ich habe bei den Lesungen diese Dinge angesprochen. Und dann etwas, was sehr typisch war, auch das Massaker von Tian’anmen, und was sehr typisch war, mein chinesischer Gesprächspartner konnte das nicht sozusagen explizit ansprechen, aber als ich es ansprach, etwa '89 oder die Proteste in Hongkong oder eben auch die Lage der Uiguren, dann ging ein kollektives Nicken durch den gesamten Saal. Alle wussten, worüber ich spreche. Aber auf dem Land, bei den Leuten, die überhaupt keine internationalen Medien verfolgen, die wissen das einfach nicht.
Karkowsky: Jetzt haben wir gar nicht mehr über Ihr neuestes Buch gesprochen, aber erwähnen darf ich es noch. Es heißt "Morgen ist da", eine Redensammlung, erschienen bei C.H. Beck.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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