Versenkung in katholische Bilderwelten
Bei der Betrachtung von Gemälden und Plastiken entwickelt Navid Kermani meditative Texte, in denen er berichtet, was ihn an christlichen Überlieferungen fasziniert oder aber abstößt. Kermani sei ein moderner Mystiker, meint unser Rezensent.
Navid Kermani, der bekannteste muslimische Intellektuelle im Lande, ist im calvinistisch geprägten Siegen aufgewachsen. Früh wurde er mit einem moralisch besonders strengen, auch anstrengenden asketischen Protestantismus konfrontiert, dem alles Sinnliche, Lustbetonte fremd war. Zwar ist Navid Kermani noch immer sehr stolz darauf, gemeinsam mit Freunden am Siegener Gymnasium durchgesetzt zu haben, daß man auch für sie eigens einen "Leistungskurs Evangelische Religionslehre" einrichtete. Aber seinen Sinn und Geschmack fürs Unendliche hat er dann vor allem in katholischen Glaubenswelten entwickelt.
Seit einem einjährigen Aufenthalt in Rom als Stipendiat der Villa Massimo hat er einen ganz eigenen, faszinierenden Weg gefunden, sich das Christentum anzueignen, ohne seine muslimische Herkunft preiszugeben. Er ist in zahllose vom Barock geprägte römische Kirchen gegangen und hat sich in die über den Altären hängenden großen Glaubensbilder mit biblischen Gestalten, Heiligen und Wundertätern versenkt. Ganz meditative Texte sind daraus entstanden, nachdenkliche Bildbetrachtungen, in denen Kermani darüber berichtet, was ihn an christlichen Überlieferungen fasziniert oder aber abstößt.
Augenreligion mit drastischer Sinnlichkeit
Auch im neuesten Buch mit dem wunderbaren Titel "Ungläubiges Staunen" nähert sich Kermani "dem Christentum" über Bilder und Plastiken. Ausgangspunkt ist eine klare Grundunterscheidung: Kermani versteht den Glauben seiner Väter als eine Ohrenreligion des Wortes, das Christentum hingegen als eine Augenreligion mit viel drastischer Sinnlichkeit. Für den Protestantismus hat er deshalb nicht allzu viel übrig, und das Christentum, das er sich erschließt, ist weithin nur römisch-katholisch geprägt.
Botticellis "Kreuztragung", Bellinis "Segnender Christus", Leonardo da Vincis "Der heilige Hieronymus in der Wildnis" oder Hieronymus Boschs "Sturz der Verdammten" sind Bilder, die er so lange und intensiv betrachtet, bis sie ihm zu Quellen einer ganz individuellen Frömmigkeit werden. Unter den in Rom tätigen Malern um 1600 fasziniert ihn Caravaggio mit seinem harten, von Jakob Burckhardt einst als "ordinär" kritisierten Naturalismus besonders stark. Hier findet er den Realismus eines Inkarnationsglaubens, für den Gott wirklich Fleisch geworden ist.
Allerdings bietet Kermani auch sehr einfühlsame Deutungen von Rembrandts "Auferstehung des Lazarus", Hans Memlings "Bildnis eines betenden jungen Mannes", Albrecht Dürers "Hiob auf dem Misthaufen" oder Gerhard Richters wunderbarem Kölner "Domfenster". Ganz erbaulich versucht Kermani zu demonstrieren, daß religiöse Erfahrung primär sinnlich konkret ist, als eine elementare Erfahrung der Begrenztheit und Endlichkeit des eigenen Ich, aber auch der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. So kann er konventionelle Stereotypen der Entgegensetzung von Christentum und Islam auch hinter sich lassen und immer wieder von "meinem Christentum" reden − einer aus religiöser Neugier am anderen Glauben genährten individuellen Christlichkeit, die mit den bleibenden und bewußt gelebten Glaubensprägungen durch die muslimische Herkunftswelt kompatibel ist.
Man kann dies als eine gelungene subjektive "Aneignung" des Anderen, Fremden bezeichnen. Kermani beschreibt sie als eine Bereicherung, so wie es ja auch ein großer Gewinn ist, wenn man neben der Muttersprache noch eine andere oder mehrere andere Sprachen erlernt.
Nächstenliebe ist für Kermani das genuin Christliche
Das längste, wohl wichtigste Kapitel dieses Glaubenszeugnisses gilt nicht einem Bild, sondern einem Menschen, den Kermani als einen Heiligen der Gegenwart vorstellt. Paolo dall'Oglio gründete in der syrischen Wüste das Kloster Mar Musa und weihte es der Freundschaft mit dem Islam. Auf seinen vielen Reisen in den Nahen Osten fand Kermani hier besonders eindrücklich, ihn tief prägend, was er für das genuin Christliche hält: eine bedingungslos ernste Nächstenliebe, die wirklich auch Liebe des anderen, Fremden, gar des Feindes ist. Dies sei, so Kermani, eine Liebe, die "über das Maß hinausgehe, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte". Dann spielt es in der Tat gar keine Rolle mehr, auf welchen Glaubenswegen man sich diesem Gott der Liebe anzunähern versucht.
Kermani ist ein moderner Mystiker. Und für die mystischen Traditionen in Judentum, Christentum und Islam war schon immer kennzeichnend, über die Grenzen von Konfession und positiver Religion hinaus auch vermeintlich ferne, andere religiöse Suchbewegungen ernst zu nehmen.