Navid Kermani zur Situation der Geflüchteten

"Es hat sich erschreckend wenig in der EU geändert"

09:33 Minuten
Migranten stehen am 2. März 2020 an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei an einem Stacheldrahtzaun.
Migranten stehen am 2. März 2020 an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei an einem Stacheldrahtzaun. © imago images / Dimitris Tosidis
Moderation: Sigrid Brinkmann |
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Eine vernünftige Flüchtlingspolitik sei überfällig, sagt der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani. Stattdessen beschränke man sich weitgehend darauf, die Menschen von Europa fernzuhalten.
Nachdem der türkische Präsident Recep Erdogan am Wochenende verbreitet hatte, dass die Grenzen offen stünden, sind tausende Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Im türkisch-griechischen Grenzgebiet ist die humanitäre Lage der Flüchtlinge besonders dramatisch.
Die Bilder in den Berichten über die EU-Außengrenze erinnerten ihn an seine Reise, als er für seinen Reportageband "Einbruch der Wirklichkeit" 2015 auf den Flüchtlingsrouten durch Europa fuhr, sagt der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani.

"Irgendwann resigniert man"

Der Stillstand der Situation auf der griechischen Insel sei schlimm. "Die Kälte, die Not, der Schlamm, die jeden Tag unwürdige Situation bei der Verteilung des Essens. Die Kinder, die nicht zur Schule gehen können, die nicht wissen, wo sie morgen, wo sie nächstes Jahr aufwachsen werden. Das hält man ein paar Wochen aus, aber irgendwann resigniert man innerlich oder man wird aggressiv."
Der Schriftsteller Navid Kermani sitzt in seinem Arbeitszimmer in Köln.
Schockiert über die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern: Navid Kermani.© dpa / picure alliance / Oliver Berg
Auch die Gastfreundschaft der Inselbewohner sei nach Jahren gekippt. Immer größer würden die Menschenmassen in den Lagern. Was dort passiert, ist für Kermani schockierend:
"Die meisten Menschen campieren einfach in einem Nichts, unter Bäumen, zwischen Sträuchern. Also, ich bin viel gereist auf der Welt. Ich war in vielen Kriegen. Ich hätte mir einfach nicht ausmalen können, dass solche Bilder, dass solche Zustände innerhalb der Europäischen Union jemals möglich sein würden, wie wir sie jetzt im Augenblick oder seit langem auf den griechischen Inseln sehen."

Unmenschliche Zustände verbessern

Bei der Lösung der Flüchtlingsprobleme müssten zwei Dinge im Vordergrund stehen, sagt Kermani: Die unmenschlichen Zustände in den Flüchtlingslagern müssten kurzfristig verbessert werden, und auf lange Sicht müsse sich Europa Gedanken machen, wie es zu einer friedlichen Umgebung und einer geregelten Flüchtlingspolitik beitragen könne: Ohne alle Tore zu öffnen – aber konstruktiver, als es in Libyen geschehe.
Seit den Flüchtlingswellen im Jahr 2005 aus Afrika habe sich im Kern erschreckend wenig in der EU geändert. "Flüchtlingsschutz" heiße immer noch im Wesentlichen "Schutz vor Flüchtlingen". Das Argument, dass beispielsweise Afrikas Probleme vor Ort gelöst werden müssten, sei immer noch aktuell.

Folgen der Untätigkeit Europas

"Aber wenn faktisch das Gegenteil geschieht, wenn die Probleme anwachsen, wenn man auf Krisen wie den Syrienkrieg, auf den Arabischen Frühling mit völliger Untätigkeit reagiert, wenn man nichts tut, dann werden eben andere aktiv sein, dann wachsen die Krisen", sagt Kermani.
Und weiter: "Nehmen Sie nur Libyen, wo Europa zwei verfeindete Kriegsparteien unterstützt" - also, einen Stellvertreterkrieg führe in der unmittelbaren Nachbarschaft. Natürlich habe eine solche katastrophale oder nicht vorhandene Außenpolitik Folgen. "Die sichtbarsten Folgen sind Flüchtlinge, sind Terroranschläge. Die mittelbaren Folgen einer solch desaströsen Außenpolitik, einer nichtvorhandenen Flüchtlingspolitik sind Rechtspopulismus und auch natürlich die Entkernung des europäischen Projektes."
(mle)
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