Nazideutschland - Italien - Argentinien
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches entkamen zahlreiche hochrangige NS-Verbrecher nach Übersee. Der Historiker Gerald Steinacher zeigt in seinem Buch "Nazis auf der Flucht", dass sich vor allem die katholische Kirche, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die US-amerikanischen Geheimdienste als Fluchthelfer betätigten.
Sie wollen nicht verstummen, die Legenden um das geheime SS-Netzwerk "Odessa", das hochrangigen NS-Verbrechern nach dem Krieg zur Flucht nach Südamerika verholfen haben soll. Simon Wiesenthal war es, der den Mythos von "Odessa" Ende der 60er Jahre in die Welt gesetzt hat. Die SS als weltweit agierende Untergrundorganisation, die auch nach dem Krieg noch über unerschöpfliche Finanzmittel und enormen Einfluss auf die Machtzentren der Welt verfügte: Der britische Thrillerautor Frederick Forsyth griff den Stoff dankbar auf und schuf mit seiner "Akte Odessa" einen der meistdiskutierten Bestseller der 70er Jahre. Dabei war alles nur Schimäre. Nach sechsjähriger intensiver Beschäftigung mit dem Thema stellt der Tiroler Zeithistoriker Gerald Steinacher eindeutig fest:
Steinacher: "Die Odessa ist ein reines Fantasiegebilde, sie ist ein Mythos. Es gab keine zentral gesteuerte, allmächtige, mit unglaublichen finanziellen Ressourcen ausgestattete Organisation von ehemaligen SS-Angehörigen. Eine solche Organisation hat es nie gegeben. Die Wirklichkeit war viel komplexer und viel komplizierter."
Das eine große Netzwerk gab es nicht. Was es stattdessen gab: Viele kleine Netzwerke, die dafür sorgten, dass Massenmörder wie Adolf Eichmann oder der Treblinka-Kommandant Franz Stangl sich ihrer gerechten Strafe für Jahre und Jahrzehnte entziehen konnten. Die Hauptfluchtroute führte über Innsbruck und den Brenner nach Genua.
Steinacher: "Die Reichsautobahn nach Argentinien und nach Übersee führte ganz klar über Italien. Das war die Strada del Sole für alle Kriegsverbrecher und NS-Flüchtigen. 90 Prozent sind über Italien geflüchtet."
Gerald Steinacher arbeitet es in seinem Buch noch einmal deutlich heraus: Es waren vor allem drei Großorganisationen, die sich als Fluchthelfer für schwer belastete Nazis hervortaten: die katholische Kirche, das "Internationale Komitee vom Roten Kreuz" und die US-amerikanischen Geheimdienste.
Steinacher: "Man darf nicht vergessen: Die NS-Flucht wird nur verständlich vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs. Die NS-Flucht beginnt erst langsam 1946/47, zu dieser Zeit setzt der Kalte Krieg ein, und die westlichen Nachrichtendienste haben Interesse an sogenannten antikommunistischen Fachleuten, und viele SS-Offiziere mit wirklichem oder angeblichem Spezialwissen über die Sowjetunion wurden wieder recycelt und in Dienst gestellt und in der Folge von alliierten Nachrichtendiensten geschützt."
Das alles wusste man schon. Unzählige Einzeluntersuchungen haben sich mit der Fluchtbewegung ehemaliger Nazis nach dem Krieg auseinandergesetzt. Was ist nun das Neue an Steinachers Buch? Erstens bietet der in Innsbruck und München lehrende Zeithistoriker zum ersten Mal eine Gesamtschau der Dinge, zweitens hat er gewisse Reinwaschungspraktiken der katholischen Kirche detaillierter untersucht als frühere Zeithistoriker, vor allem die sogenannten Wiedertaufen ehemaliger Nazis, drittens hat Steinacher zum ersten Mal den internen Briefwechsel des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" eingesehen. Und der zeigt deutlich: tausende von NS-Tätern konnten mit gefälschten Reisedokumenten des "Roten Kreuzes" nach Übersee fliehen – und zwar mit Wissen der Rotkreuz-Nomenklatura:
Steinacher: "Beide Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes in Genf, Carl Jacob Burckhardt und später Paul Ruegger, waren ausgesprochen deutschfreundlich, das ist ja kein Geheimnis, beide hatten enge Kontakte zu Funktionären des Dritten Reiches und beide waren in ihrer Einstellung latent antisemitisch. Das ist ein Faktum. Es ist auch ein Faktum, dass Paul Ruegger – und das zeigt die interne Korrespondenz des Roten Kreuzes – dass man von diesem Missbrauch der Rotkreuz-Dokumente genau wusste. Und das Rote Kreuz hat sich dann sehr schwer damit getan, diese Praxis dann wieder abzustellen."
Wohl auch, weil die Führung des Roten Kreuzes auch nach dem Krieg mehr oder weniger offen mit der NS-Ideologie sympathisiert hat. Und die katholische Kirche? Dass Nazi-Sympathisanten wie Bischof Alois Hudal in Rom oder der Genueser Erzbischof Giuseppe Siri die Flucht ehemaliger Kriegsverbrecher offen unterstützt haben, war bekannt. Waren das tatsächlich einzelne schwarze Schafe, wie der Vatikan später behauptet hat?
Steinacher: "Nein, dahinter stand ein klares System. Es handelt sich keinesfalls nur um einzelne schwarze Schafe wie den österreichischen Bischof Alois Hudal in Rom oder den kroatischen Ustascha-Pater Krunoslav Draganovic. Da stand wirklich ein klares System dahinter. Es ging um eine Rechristianisierung Europas, die die katholische Kirche anstrebte. Es ging auch um einen neuen Kampf gegen den wahren Feind, wie man das aus katholischer Sicht gesehen hat, nämlich den 'gottlosen Kommunismus'."
Argentinien war das bevorzugte Fluchtland ehemaliger Nazis. Diktator Juan Peron nahm die braunen Emigranten mit offenen Armen auf. Er konnte sie gut gebrauchen – als Experten für den Aufbau der argentinischen Luftwaffe etwa. Frage an Gerald Steinacher: Wie viele NS-Verbrecher konnten sich nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt nach Übersee absetzen?
Steinacher: "Es gibt ungefähre Schätzungen. Die Situation in Argentinien etwa ist relativ gut erforscht. Dort hat man etwa 350 hochrangige NS-Verbrecher ausgemacht. Aber natürlich, die Zahl von einfachen SS-Angehörigen und von NS-Kollaborateuren aus Kroatien oder Ungarn, diese Zahl geht in die Zehntausende."
Gerald Steinachers akkurat recherchiertes Buch besticht durch seinen Faktenreichtum und seinen unprätentiösen, auch Nicht-Historiker unmittelbar fesselnden Stil. Mit "Nazis auf der Flucht" hat der österreichische Zeitgeschichtler eine wesentliche Forschungslücke geschlossen.
Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht
Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen
Studienverlag, Innsbruck 2008
Steinacher: "Die Odessa ist ein reines Fantasiegebilde, sie ist ein Mythos. Es gab keine zentral gesteuerte, allmächtige, mit unglaublichen finanziellen Ressourcen ausgestattete Organisation von ehemaligen SS-Angehörigen. Eine solche Organisation hat es nie gegeben. Die Wirklichkeit war viel komplexer und viel komplizierter."
Das eine große Netzwerk gab es nicht. Was es stattdessen gab: Viele kleine Netzwerke, die dafür sorgten, dass Massenmörder wie Adolf Eichmann oder der Treblinka-Kommandant Franz Stangl sich ihrer gerechten Strafe für Jahre und Jahrzehnte entziehen konnten. Die Hauptfluchtroute führte über Innsbruck und den Brenner nach Genua.
Steinacher: "Die Reichsautobahn nach Argentinien und nach Übersee führte ganz klar über Italien. Das war die Strada del Sole für alle Kriegsverbrecher und NS-Flüchtigen. 90 Prozent sind über Italien geflüchtet."
Gerald Steinacher arbeitet es in seinem Buch noch einmal deutlich heraus: Es waren vor allem drei Großorganisationen, die sich als Fluchthelfer für schwer belastete Nazis hervortaten: die katholische Kirche, das "Internationale Komitee vom Roten Kreuz" und die US-amerikanischen Geheimdienste.
Steinacher: "Man darf nicht vergessen: Die NS-Flucht wird nur verständlich vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs. Die NS-Flucht beginnt erst langsam 1946/47, zu dieser Zeit setzt der Kalte Krieg ein, und die westlichen Nachrichtendienste haben Interesse an sogenannten antikommunistischen Fachleuten, und viele SS-Offiziere mit wirklichem oder angeblichem Spezialwissen über die Sowjetunion wurden wieder recycelt und in Dienst gestellt und in der Folge von alliierten Nachrichtendiensten geschützt."
Das alles wusste man schon. Unzählige Einzeluntersuchungen haben sich mit der Fluchtbewegung ehemaliger Nazis nach dem Krieg auseinandergesetzt. Was ist nun das Neue an Steinachers Buch? Erstens bietet der in Innsbruck und München lehrende Zeithistoriker zum ersten Mal eine Gesamtschau der Dinge, zweitens hat er gewisse Reinwaschungspraktiken der katholischen Kirche detaillierter untersucht als frühere Zeithistoriker, vor allem die sogenannten Wiedertaufen ehemaliger Nazis, drittens hat Steinacher zum ersten Mal den internen Briefwechsel des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" eingesehen. Und der zeigt deutlich: tausende von NS-Tätern konnten mit gefälschten Reisedokumenten des "Roten Kreuzes" nach Übersee fliehen – und zwar mit Wissen der Rotkreuz-Nomenklatura:
Steinacher: "Beide Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes in Genf, Carl Jacob Burckhardt und später Paul Ruegger, waren ausgesprochen deutschfreundlich, das ist ja kein Geheimnis, beide hatten enge Kontakte zu Funktionären des Dritten Reiches und beide waren in ihrer Einstellung latent antisemitisch. Das ist ein Faktum. Es ist auch ein Faktum, dass Paul Ruegger – und das zeigt die interne Korrespondenz des Roten Kreuzes – dass man von diesem Missbrauch der Rotkreuz-Dokumente genau wusste. Und das Rote Kreuz hat sich dann sehr schwer damit getan, diese Praxis dann wieder abzustellen."
Wohl auch, weil die Führung des Roten Kreuzes auch nach dem Krieg mehr oder weniger offen mit der NS-Ideologie sympathisiert hat. Und die katholische Kirche? Dass Nazi-Sympathisanten wie Bischof Alois Hudal in Rom oder der Genueser Erzbischof Giuseppe Siri die Flucht ehemaliger Kriegsverbrecher offen unterstützt haben, war bekannt. Waren das tatsächlich einzelne schwarze Schafe, wie der Vatikan später behauptet hat?
Steinacher: "Nein, dahinter stand ein klares System. Es handelt sich keinesfalls nur um einzelne schwarze Schafe wie den österreichischen Bischof Alois Hudal in Rom oder den kroatischen Ustascha-Pater Krunoslav Draganovic. Da stand wirklich ein klares System dahinter. Es ging um eine Rechristianisierung Europas, die die katholische Kirche anstrebte. Es ging auch um einen neuen Kampf gegen den wahren Feind, wie man das aus katholischer Sicht gesehen hat, nämlich den 'gottlosen Kommunismus'."
Argentinien war das bevorzugte Fluchtland ehemaliger Nazis. Diktator Juan Peron nahm die braunen Emigranten mit offenen Armen auf. Er konnte sie gut gebrauchen – als Experten für den Aufbau der argentinischen Luftwaffe etwa. Frage an Gerald Steinacher: Wie viele NS-Verbrecher konnten sich nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt nach Übersee absetzen?
Steinacher: "Es gibt ungefähre Schätzungen. Die Situation in Argentinien etwa ist relativ gut erforscht. Dort hat man etwa 350 hochrangige NS-Verbrecher ausgemacht. Aber natürlich, die Zahl von einfachen SS-Angehörigen und von NS-Kollaborateuren aus Kroatien oder Ungarn, diese Zahl geht in die Zehntausende."
Gerald Steinachers akkurat recherchiertes Buch besticht durch seinen Faktenreichtum und seinen unprätentiösen, auch Nicht-Historiker unmittelbar fesselnden Stil. Mit "Nazis auf der Flucht" hat der österreichische Zeitgeschichtler eine wesentliche Forschungslücke geschlossen.
Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht
Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen
Studienverlag, Innsbruck 2008