Negative Erfahrungen als Chance
"Das psychische Allgemeinbefinden ist schlecht und die Stimmung vieler Menschen auch." Mit dieser Diagnose beginnt der Psychologe Arnold Retzer seine Streitschrift gegen das positives Denken: "Miese Stimmung" ist eine rasante Abrechnung mit der gesellschaftlich geforderten Selbstoptimierung.
Für den Autor sind individuell erlebte Krisen wie Depression oder Burn-Out immer auch durch das allgemeine Weltverständnis bedingt. Diese soziokulturelle Großwetterlage analysiert er in vielen Einzelaspekten und sucht immer wieder nach dem rechten menschlichen Maß. Sein umfassender Ansatz sorgt an manchen Stellen zwar für große Detailverliebtheit, dennoch gelingt es Retzer, die flüchtige Essenz des Zeitgeistes luzide und präzise auf den Punkt zu bringen. Wir leben in einer Erfolgsgesellschaft, so der Autor, in der die Vorstellung persönlicher Autonomie und der damit einhergehende Zwang zur Selbstoptimierung in Kombination mit schrankenlosem Ehrgeiz den Einzelnen in nie dagewesener Weise unter Druck setzen.
Besonders die Überzeugung, für sein Lebensglück selbst verantwortlich zu sein, verwandelt alles Unglück und alles Scheitern in persönliche Schuld. Doch wie entkommt man dieser Optimierungsfalle? Heilsam sei es, die eigene Schwäche, Bedingtheit und Abhängigkeit in den Blick zu nehmen und sich von übertriebenen Autonomievorstellungen zu befreien.
Dazu demontiert Retzer zunächst Leitwerte wie Heldentum, Hoffnung und die perfektionistische Null-Fehler-Kultur. Mit vielen Beispielen aus Poltik, Wirtschaft und Medizin weist er nach, das Hoffen oft genug "nicht nur blind macht, sondern auch blöd" und erst Fehler uns ermöglichen, automatisierte Handlungsabläufe zu unterbrechen und neu oder anders weiterzumachen. Dann wendet er sich dem sogenannten Hirndoping zu, also der Leistungssteigerung durch Medikamente, die er aufs Schärfste verurteilt.
Sein Anliegen ist stattdessen die Verteidigung all dessen, was entweder chemisch ausgeschaltet oder gar nicht erst zugelassen wird: Angst, Irrtum, Versagen. Diese negativen Erfahrung sind ein notwendiger Teil des menschlichen Lebens.
Eine Gesellschaft, die diese Schattenseiten nicht mehr zulässt, produziert früher oder später Depression und Erschöpfung. Dabei besteht der Autor darauf, Depressionen in einen lebensgeschichtlichen Kontext einzuortnen, anstatt sie als rein biologische Erkrankungen anzusehen. Er empfielt, sich den miesen Stimmungen zu stellen und sie als Chance zu begreifen, das eigene Leben zu überdenken, realistischere Erwartungen an sich zu stellen und "mit der eigenen Unzulänglichkeit und Mittelmäßigkeit barmherzig umzugehen".
Immer wieder betont Retzer, dass gerade Irrtümer, Fehler und Niederlagen uns klug machen, weiterbringen und uns menschlich machen. In einer zunehmend perfektionswütigen Zeit hat das etwas sehr Entlastendes. Denn nicht das Leben ist das Problem, sondern unsere falschen Vorstellungen und Ansprüche. Und die liegen, das macht die Lektüre dieses klugen Buches überzeugend deutlich, ganz allein in unserer Hand.
Besprochen von Ariadne von Schirach
Arnold Retzer: Miese Stimmung - Eine Streitschrift gegen positives Denken
Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012
336 Seiten, 19,99 Euro
Besonders die Überzeugung, für sein Lebensglück selbst verantwortlich zu sein, verwandelt alles Unglück und alles Scheitern in persönliche Schuld. Doch wie entkommt man dieser Optimierungsfalle? Heilsam sei es, die eigene Schwäche, Bedingtheit und Abhängigkeit in den Blick zu nehmen und sich von übertriebenen Autonomievorstellungen zu befreien.
Dazu demontiert Retzer zunächst Leitwerte wie Heldentum, Hoffnung und die perfektionistische Null-Fehler-Kultur. Mit vielen Beispielen aus Poltik, Wirtschaft und Medizin weist er nach, das Hoffen oft genug "nicht nur blind macht, sondern auch blöd" und erst Fehler uns ermöglichen, automatisierte Handlungsabläufe zu unterbrechen und neu oder anders weiterzumachen. Dann wendet er sich dem sogenannten Hirndoping zu, also der Leistungssteigerung durch Medikamente, die er aufs Schärfste verurteilt.
Sein Anliegen ist stattdessen die Verteidigung all dessen, was entweder chemisch ausgeschaltet oder gar nicht erst zugelassen wird: Angst, Irrtum, Versagen. Diese negativen Erfahrung sind ein notwendiger Teil des menschlichen Lebens.
Eine Gesellschaft, die diese Schattenseiten nicht mehr zulässt, produziert früher oder später Depression und Erschöpfung. Dabei besteht der Autor darauf, Depressionen in einen lebensgeschichtlichen Kontext einzuortnen, anstatt sie als rein biologische Erkrankungen anzusehen. Er empfielt, sich den miesen Stimmungen zu stellen und sie als Chance zu begreifen, das eigene Leben zu überdenken, realistischere Erwartungen an sich zu stellen und "mit der eigenen Unzulänglichkeit und Mittelmäßigkeit barmherzig umzugehen".
Immer wieder betont Retzer, dass gerade Irrtümer, Fehler und Niederlagen uns klug machen, weiterbringen und uns menschlich machen. In einer zunehmend perfektionswütigen Zeit hat das etwas sehr Entlastendes. Denn nicht das Leben ist das Problem, sondern unsere falschen Vorstellungen und Ansprüche. Und die liegen, das macht die Lektüre dieses klugen Buches überzeugend deutlich, ganz allein in unserer Hand.
Besprochen von Ariadne von Schirach
Arnold Retzer: Miese Stimmung - Eine Streitschrift gegen positives Denken
Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012
336 Seiten, 19,99 Euro