"Negative Lernmotivation führt nicht zum Lernerfolg"
Ist Sitzenbleiben sinnlos, teuer und schädlich? Der Bildungsexperte Jörg Dräger plädiert für die Abschaffung der "Ehrenrunde" und bessere Förderung von schwächeren Schülern. Ihm widerspricht der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger: Vor allem Jungs würden sich durch die Androhung der Nichtversetzung "auf den Hosenboden setzen".
Joachim Scholl: Was haben Abraham Lincoln, Otto von Bismarck, Thomas Mann, Peer Steinbrück und Thomas Gottschalk gemeinsam? Alle sind in ihrer Schulzeit einmal sitzengeblieben. Ihren Lebensläufen und Karrieren hat es nicht geschadet, doch das weiß man natürlich erst immer hinterher. Eine triste Erfahrung ihrer Kindheit war es wohl dennoch vermutlich, und solcherlei Demütigung will die frisch installierte rot-grüne Koalition in Niedersachsen Kindern zukünftig komplett ersparen – keiner soll mehr sitzenbleiben.
Dieser Plan hat bundesweite Diskussionen erzeugt, und wir wollen uns Pro und Kontra anhören von Jörg Dräger, Bildungsexperte und im Vorstand der Bertelsmann Stiftung, die eine entsprechende Studie vorgelegt hat, schon längere Zeit her, wonach Sitzenbleiben erstens wirtschaftlich ineffizient ist, viel zu viel kostet, und auch dem Sitzengebliebenen nichts bringt. Guten Tag, Herr Dräger.
Jörg Dräger: Ja, schönen guten Tag, Herr Scholl.
Scholl: Wir sind ebenfalls verbunden mit Heinz-Peter Meidinger, er ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Ich grüße Sie, Herr Meidinger.
Heinz-Peter Meidinger: Guten Tag, hallo.
Scholl: Sie halten nichts davon, dass das Sitzenbleiben abgeschafft werden soll. Warum?
Meidinger: Ich bin kein Fan des Sitzenbleibens, mich freut jeder Schüler, der das Klassenziel erreicht, aber es ist eben für viele, viele Schüler durchaus eine Chance – und das ist alleine das Entscheidende –, den angestrebten Abschluss doch noch zu erreichen. Und diesen Schülern nützt das Sitzenbleiben, das ist eine bestimmte Gruppe. Und warum soll man eine Chance abschaffen? Das sehe ich nicht ein.
Scholl: Was meinen Sie, Herr Dräger?
Dräger: Also die Daten zeigen so ein bisschen ein anderes Bild – man kann inzwischen einfach Sitzenbleiber nicht mit Sitzenbleiber vergleichen –, und sieht eben, dass jemand, der sitzenbleibt, zwar in dem ersten Jahr nach dem Sitzenbleiben in kleinen Leistungen Schub hat, in dem zweiten Jahr dann aber noch weiter zurückfällt als er eh schon war. Und das brauchen wir eben nicht für den Einzelnen. Das Erstaunliche ist auch, der Klasse, aus der der Sitzenbleiber ausgeschieden ist, der bringt es auch nichts, wahrscheinlich insbesondere deswegen, weil ja von oben der nächste Sitzenbleiber nachrückt mit den bekannten Motivationsproblemen. Und das heißt, der Kern muss sein, kann ich eine Unterrichtskultur, einen Unterricht so gestalten, dass Sitzenbleiben eben nicht mehr nötig wird. Es geht ja nicht darum, ein sanktionsloses Unterrichten, eine Kuschelpädagogik einzuführen, sondern eben die Frage, brauche ich diese Sanktion oder gibt es intelligentere Modelle? Und die gibt es inzwischen.
Scholl: Knapp über 163.000 Schüler sind im Schuljahr 2010/2011 sitzengeblieben, das sind zwei Prozent, Herr Dräger. Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung haben Sie ausrechnen lassen, dass diese Sitzenbleiber uns jährlich eine Milliarde Euro kosten. Wie kommt denn diese gewaltige Summe zustande?
Dräger: Die Zahl klingt erst mal klein, aber wenn man die pro Jahr aufsummiert, bedeutet das, dass ein Viertel der deutschen Jugendlichen zu dem Zeitpunkt, wo sie die Schule beenden, mindestens einmal sitzen geblieben ist. Und das bedeutet, die werden zweimal durch eine Klasse geschleust, manchmal dreimal, das generiert Mehrkosten, die bei ungefähr einer Milliarde Euro liegen, und die würde ich eben lieber in individuelle Förderung im Unterricht stecken als in die unnötige Klassenwiederholung.
Scholl: Was sagen Sie dazu, Herr Meidinger?
Dieser Plan hat bundesweite Diskussionen erzeugt, und wir wollen uns Pro und Kontra anhören von Jörg Dräger, Bildungsexperte und im Vorstand der Bertelsmann Stiftung, die eine entsprechende Studie vorgelegt hat, schon längere Zeit her, wonach Sitzenbleiben erstens wirtschaftlich ineffizient ist, viel zu viel kostet, und auch dem Sitzengebliebenen nichts bringt. Guten Tag, Herr Dräger.
Jörg Dräger: Ja, schönen guten Tag, Herr Scholl.
Scholl: Wir sind ebenfalls verbunden mit Heinz-Peter Meidinger, er ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Ich grüße Sie, Herr Meidinger.
Heinz-Peter Meidinger: Guten Tag, hallo.
Scholl: Sie halten nichts davon, dass das Sitzenbleiben abgeschafft werden soll. Warum?
Meidinger: Ich bin kein Fan des Sitzenbleibens, mich freut jeder Schüler, der das Klassenziel erreicht, aber es ist eben für viele, viele Schüler durchaus eine Chance – und das ist alleine das Entscheidende –, den angestrebten Abschluss doch noch zu erreichen. Und diesen Schülern nützt das Sitzenbleiben, das ist eine bestimmte Gruppe. Und warum soll man eine Chance abschaffen? Das sehe ich nicht ein.
Scholl: Was meinen Sie, Herr Dräger?
Dräger: Also die Daten zeigen so ein bisschen ein anderes Bild – man kann inzwischen einfach Sitzenbleiber nicht mit Sitzenbleiber vergleichen –, und sieht eben, dass jemand, der sitzenbleibt, zwar in dem ersten Jahr nach dem Sitzenbleiben in kleinen Leistungen Schub hat, in dem zweiten Jahr dann aber noch weiter zurückfällt als er eh schon war. Und das brauchen wir eben nicht für den Einzelnen. Das Erstaunliche ist auch, der Klasse, aus der der Sitzenbleiber ausgeschieden ist, der bringt es auch nichts, wahrscheinlich insbesondere deswegen, weil ja von oben der nächste Sitzenbleiber nachrückt mit den bekannten Motivationsproblemen. Und das heißt, der Kern muss sein, kann ich eine Unterrichtskultur, einen Unterricht so gestalten, dass Sitzenbleiben eben nicht mehr nötig wird. Es geht ja nicht darum, ein sanktionsloses Unterrichten, eine Kuschelpädagogik einzuführen, sondern eben die Frage, brauche ich diese Sanktion oder gibt es intelligentere Modelle? Und die gibt es inzwischen.
Scholl: Knapp über 163.000 Schüler sind im Schuljahr 2010/2011 sitzengeblieben, das sind zwei Prozent, Herr Dräger. Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung haben Sie ausrechnen lassen, dass diese Sitzenbleiber uns jährlich eine Milliarde Euro kosten. Wie kommt denn diese gewaltige Summe zustande?
Dräger: Die Zahl klingt erst mal klein, aber wenn man die pro Jahr aufsummiert, bedeutet das, dass ein Viertel der deutschen Jugendlichen zu dem Zeitpunkt, wo sie die Schule beenden, mindestens einmal sitzen geblieben ist. Und das bedeutet, die werden zweimal durch eine Klasse geschleust, manchmal dreimal, das generiert Mehrkosten, die bei ungefähr einer Milliarde Euro liegen, und die würde ich eben lieber in individuelle Förderung im Unterricht stecken als in die unnötige Klassenwiederholung.
Scholl: Was sagen Sie dazu, Herr Meidinger?
"Sitzenbleiben erhöht die Chance auf den angestrebten Abschluß"
Meidinger: Zunächst mal, das ist natürlich viel zu pauschal gesagt, im zweiten Jahr nach dem Wiederholen wird er wieder schlechter. Wir haben eine ganz große Studie in Deutschland gehabt 2004, vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung: 2.500 Schülerinnen und Schüler sind in ihren Schülerkarrieren, nicht nur ein punktueller Blick drauf auf Klassen, sondern in ihren Schülerkarrieren verfolgt worden, und man hat rausgefunden, dass für eine beträchtliche Gruppe, etwa ein Drittel dieser Schüler, das Sitzenbleiben die Chance um 50 Prozent erhöht hat, den angestrebten Abschluss zu erreichen.
Und das ist ja genau der Punkt: Was nützt mir das Aufheben des Sitzenbleibens, wenn dann bei den Abschlussprüfungen sozusagen die Versagerquote steigt? Und noch etwas, Förderangebote sind gut, ich wünsche mir viel mehr, allerdings zu einer erfolgreichen Förderung gehört auch jemand, der das Förderangebot annimmt, und wir wissen alle, dass es in der Pubertät Phasen gibt, wo Schüler eben für Förderangebote nicht oder kaum erreichbar sind.
Dräger: Es gibt ohne Frage Schüler, denen das Sitzenbleiben nutzt, das sind insbesondere diejenigen, die eine lange Krankheit durchgemacht haben, und die aus eigener Initiative sagen, sie würden gerne eine Klasse wiederholen, das sieht man dann auch an den Daten …
Meidinger: Oder Entwicklungsverzögerungen, ja?
Dräger: … ja, das sieht man auch an den Daten insgesamt. Der Mehrheit und dem Durchschnitt nutzt es eben nicht. Und deswegen muss man da fragen, ob es wirklich die Sanktionsmöglichkeit auch bei den pubertierenden Jugendlichen am Ende des Jahres gibt, im Zuge des Abschlusszeugnisses, oder ob nicht durch eine Individualisierung wöchentlich ein Lernplan zwischen Lehrer und Schüler vereinbart wird, und wenn der am Ende der Woche nicht erledigt ist, es zu dem ernsten Gespräch kommt, und nicht erst am Ende des Jahres. Und das ist wirklich das, was Unterricht und Individualisierung erreichen muss, das Problem nicht zu verschieben, und hinterher den Problemschüler nicht wegzuschieben, sondern eben kontinuierlich sich mit ihm auseinanderzusetzen, kontinuierlich auch den Lernfortschritt zu beobachten.
Scholl: Soll das Sitzenbleiben abgeschafft werden? Im Deutschlandradio Kultur diskutieren Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung und Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des deutschen Philologenverbandes. Jetzt haben wir praktisch ja zwei Studien zitiert bekommen von Ihnen, meine Herren, jetzt steht Studie gegen Studie. In manchen Bundesländern ist die sogenannte Ehrenrunde ja schon in weiten Teilen abgeschafft, also Hamburg etwa verdonnert Schüler, die in einem Kernfach eine Fünf haben, zur schulischen Nachhilfe und lässt aber bis zur neunten Klasse überhaupt niemanden mehr sitzenbleiben. Gebe es denn für Sie, Herr Meidinger, andere ähnliche sinnvolle Möglichkeiten, das Sitzenbleiben in dieser Form zu verhindern?
Meidinger: Also es gibt ja schon eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Bundesländer ergriffen haben, um überflüssiges Sitzenbleiben zu vermeiden, also etwa Nachprüfungen, Ferienseminare, Vorrücken auf Probe und vieles mehr. Übrigens, Sie haben Hamburg angesprochen, da hat diese Maßnahme natürlich auch sehr negative Wirkungen, also beispielsweise Gymnasien, die dann bis zur neunten Jahrgangsstufe oder siebten Jahrgangsstufe zurzeit niemanden sitzenbleiben lassen können, werfen zurzeit viel mehr Schüler nach der Probezeit raus, weil sie sagen, diese Schüler werden es nicht schaffen, während sie vorher die Chance hatten, eben dann doch noch weiterzukommen.
Ich sage einmal, es gibt drei Gruppen von Sitzenbleibern: Eine Gruppe, die würde von der individuellen Förderung mehr ... und das, was der Herr Dräger gesagt hat, das kostet auch Milliarden, wenn ich tatsächlich so viel Personal an Schulen gebe, dass ich mit jedem Schüler individuelle Lehrpläne verfolgen kann, diese Gruppe, die würden profitieren. Es gibt eine Gruppe, die ist eigentlich an der jeweiligen Schule überfordert, freier Elternwillen, haben wir auch genügend. Und es gibt eine Gruppe, die im Endeffekt eigentlich sozusagen ein Wiederholungsjahr braucht, und die kann ich nicht über einen Kamm scheren.
Dräger: Ja, wobei wir ja schon sehen müssen, dass es andere Länder in der Welt schaffen, ohne Sitzenbleiben auszukommen.
Meidinger: Ja, aber wie?
Dräger: … die aber sowohl bei den schwächsten Schülern als auch bei den besten Schülern einfach deutlich besser sind als Deutschland. Sie haben eben eine andere Lernkultur. Ich würde aber gerne noch mal auf die Bundesländer in Deutschland eingehen, weil daran zeigt sich, ein Gesetz alleine bringt überhaupt nichts.
Meidinger: Ja.
Dräger: Ich finde, das sieht man ganz schön: Bremen zum Beispiel hat per Gesetz das Sitzenbleiben abgeschafft, hat aber noch eine sehr hohe Sitzenbleiberquote.
Meidinger: Berlin auch.
Und das ist ja genau der Punkt: Was nützt mir das Aufheben des Sitzenbleibens, wenn dann bei den Abschlussprüfungen sozusagen die Versagerquote steigt? Und noch etwas, Förderangebote sind gut, ich wünsche mir viel mehr, allerdings zu einer erfolgreichen Förderung gehört auch jemand, der das Förderangebot annimmt, und wir wissen alle, dass es in der Pubertät Phasen gibt, wo Schüler eben für Förderangebote nicht oder kaum erreichbar sind.
Dräger: Es gibt ohne Frage Schüler, denen das Sitzenbleiben nutzt, das sind insbesondere diejenigen, die eine lange Krankheit durchgemacht haben, und die aus eigener Initiative sagen, sie würden gerne eine Klasse wiederholen, das sieht man dann auch an den Daten …
Meidinger: Oder Entwicklungsverzögerungen, ja?
Dräger: … ja, das sieht man auch an den Daten insgesamt. Der Mehrheit und dem Durchschnitt nutzt es eben nicht. Und deswegen muss man da fragen, ob es wirklich die Sanktionsmöglichkeit auch bei den pubertierenden Jugendlichen am Ende des Jahres gibt, im Zuge des Abschlusszeugnisses, oder ob nicht durch eine Individualisierung wöchentlich ein Lernplan zwischen Lehrer und Schüler vereinbart wird, und wenn der am Ende der Woche nicht erledigt ist, es zu dem ernsten Gespräch kommt, und nicht erst am Ende des Jahres. Und das ist wirklich das, was Unterricht und Individualisierung erreichen muss, das Problem nicht zu verschieben, und hinterher den Problemschüler nicht wegzuschieben, sondern eben kontinuierlich sich mit ihm auseinanderzusetzen, kontinuierlich auch den Lernfortschritt zu beobachten.
Scholl: Soll das Sitzenbleiben abgeschafft werden? Im Deutschlandradio Kultur diskutieren Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung und Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des deutschen Philologenverbandes. Jetzt haben wir praktisch ja zwei Studien zitiert bekommen von Ihnen, meine Herren, jetzt steht Studie gegen Studie. In manchen Bundesländern ist die sogenannte Ehrenrunde ja schon in weiten Teilen abgeschafft, also Hamburg etwa verdonnert Schüler, die in einem Kernfach eine Fünf haben, zur schulischen Nachhilfe und lässt aber bis zur neunten Klasse überhaupt niemanden mehr sitzenbleiben. Gebe es denn für Sie, Herr Meidinger, andere ähnliche sinnvolle Möglichkeiten, das Sitzenbleiben in dieser Form zu verhindern?
Meidinger: Also es gibt ja schon eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Bundesländer ergriffen haben, um überflüssiges Sitzenbleiben zu vermeiden, also etwa Nachprüfungen, Ferienseminare, Vorrücken auf Probe und vieles mehr. Übrigens, Sie haben Hamburg angesprochen, da hat diese Maßnahme natürlich auch sehr negative Wirkungen, also beispielsweise Gymnasien, die dann bis zur neunten Jahrgangsstufe oder siebten Jahrgangsstufe zurzeit niemanden sitzenbleiben lassen können, werfen zurzeit viel mehr Schüler nach der Probezeit raus, weil sie sagen, diese Schüler werden es nicht schaffen, während sie vorher die Chance hatten, eben dann doch noch weiterzukommen.
Ich sage einmal, es gibt drei Gruppen von Sitzenbleibern: Eine Gruppe, die würde von der individuellen Förderung mehr ... und das, was der Herr Dräger gesagt hat, das kostet auch Milliarden, wenn ich tatsächlich so viel Personal an Schulen gebe, dass ich mit jedem Schüler individuelle Lehrpläne verfolgen kann, diese Gruppe, die würden profitieren. Es gibt eine Gruppe, die ist eigentlich an der jeweiligen Schule überfordert, freier Elternwillen, haben wir auch genügend. Und es gibt eine Gruppe, die im Endeffekt eigentlich sozusagen ein Wiederholungsjahr braucht, und die kann ich nicht über einen Kamm scheren.
Dräger: Ja, wobei wir ja schon sehen müssen, dass es andere Länder in der Welt schaffen, ohne Sitzenbleiben auszukommen.
Meidinger: Ja, aber wie?
Dräger: … die aber sowohl bei den schwächsten Schülern als auch bei den besten Schülern einfach deutlich besser sind als Deutschland. Sie haben eben eine andere Lernkultur. Ich würde aber gerne noch mal auf die Bundesländer in Deutschland eingehen, weil daran zeigt sich, ein Gesetz alleine bringt überhaupt nichts.
Meidinger: Ja.
Dräger: Ich finde, das sieht man ganz schön: Bremen zum Beispiel hat per Gesetz das Sitzenbleiben abgeschafft, hat aber noch eine sehr hohe Sitzenbleiberquote.
Meidinger: Berlin auch.
"Veränderte Lernkultur im Klassenzimmer"
Dräger: Baden-Württemberg, und zwar noch zu Zeiten der CDU-Regierung, die Daten sind von 2011/2012, wo das Sitzenbleiben erlaubt war, hat die niedrigste Sitzenbleiberquote in der Bundesrepublik. Das heißt, es ist wirklich eine Frage, wie Lehrer und Schüler im Unterricht in der Klasse miteinander umgehen, nicht eine Frage, welches Gesetz ich erlasse. Und die Abschaffung des Sitzenbleibens ist die Konsequenz einer veränderten Lernkultur im Klassenzimmer, nicht der Startpunkt.
Meidinger: Ich würde vielleicht noch gerne einen Blick werfen auf andere Länder, weil immer gesagt wird, es gibt Länder, die kennen kein Sitzenbleiben. Also beispielsweise in England hat man kein Sitzenbleiben, aber wie wird der Fall gelöst? Die Kinder können dann in der Oberstufe, die Jugendlichen, die Fächer, wo sie schwach sind, abwählen, die haben halt eben keine Mathematik dann mehr, sondern stattdessen soziale Wissenschaften – es sind keine vergleichbaren Abschlusszeugnisse mehr. Mit einem, wo ich keine Mathematik drin habe, komme ich auch an eine renommierte Universität nicht. Und in Finnland habe ich auch kein Sitzenbleiben, aber eine ganz starke Selektion, wenn es drum geht, in die Oberstufe zu kommen, eine Universitätszugangsberechtigung zu bekommen. Also es hat alles seine Vor- und Nachteile.
Dräger: Ja, ich würde gar nicht für ein System plädieren, in dem die Fächer dann abgewählt werden können, aber wir haben eben auch Jugendliche, die in – ich sage mal – Mathematik und Physik die Fünf haben, und in sonstigen Fächern eigentlich prima mitkommen, die dann eine gesamte Klasse wiederholen müssen, obwohl sie nur zwei Schwachstellen haben. Und da stellt sich mindestens die Frage, ob ich nicht diesen Schülern in den Fächern eher helfen kann, als dass ich sie insgesamt wiederhole.
Meidinger: Doch, da bin ich voll einverstanden, denen müsste man intelligent durch Zusatzförderung helfen, diese Klippe zu überwinden.
Scholl: Ich möchte noch kurz auf diesen Punkt zu sprechen kommen, Herr Dräger, den Sie genannt haben, mit der unterschiedlichen Lernkultur. Also wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, war Sitzenbleiben eine Art von sozialem Regulativ. Niemand wollte sitzenbleiben, weil er nämlich dann der Versager war oder der Dummkopf, und Eltern und Lehrer haben sozusagen gleichermaßen diesen Druck ausgeübt. Ist dieses Modell obsolet? Also ich will es jetzt gar nicht verteidigen, um Gottes willen, aber es war natürlich ein immenser Druck, der auf den Kindern geherrscht hat.
Dräger: Also per se eine negative Lernmotivation führt nicht zum Lernerfolg. Ein Kind, genau übrigens wie ein Erwachsener, lernt dann, wenn es Spaß bringt, wenn man Freude dran hat und wenn man den Erfolg erlebt. Das heißt, das Grundsatzziel einer Pädagogik muss sein, ein Erfolgserlebnis zu vermitteln und nicht so sehr ein Negativerlebnis zu vermitteln. Natürlich muss ein Kind in der Lage sein, auch darüber zu reflektieren, wenn es was nicht kann. Nur das geschieht nicht am Endjahreszeugnis, sondern im wöchentlichen Umgang mit dem Unterrichtsstoff. Das heißt, ich will überhaupt gar keine Abkehr von der Tatsache, dass es um Leistung geht, ganz im Gegenteil, ich will sie nur nicht an einem Sanktionsmechanismus mit Druck am Ende des Jahres haben, sondern die kontinuierliche Leistungskontrolle während des Jahres, die dann eben die Chance gibt, dass ich in meinen Kompetenzen nach oben komme, ohne hinterher eine Sanktion zu kriegen.
Scholl: Wie sehen Sie das, Herr Meidinger?
Meidinger: Ich würde mich freuen, wenn es eine Schule gibt, wo nur von positiven Lernerfolgserlebnissen lebt, aber ich erlebe eben auch, dass zum Halbjahr, beispielsweise, wenn dann Gefährdungsvermerke im Zeugnis sind, tatsächlich dann sich, insbesondere sind es ja Jungs, auf den Hosenboden setzen und sagen, okay, jetzt muss ich aber was tun. Ich fürchte, wenn es sozusagen keine Gefahr mehr gäbe des Sitzenbleibens, dann würden sie es nicht tun.
Scholl: Pro und Kontra zur möglichen Abschaffung des Sitzenbleibens in der Schule, dazu haben wir Heinz-Peter Meidinger vom deutschen Philologenverband und Jörg Dräger vom der Bertelsmann-Stiftung gehört. Die Debatte wollen wir auch nochmals mit Ihnen, unseren Hörern führen, und zwar in unserer nächtlichen Gesprächssendung "2254" in der Nacht von Sonntag auf Montag um ein Uhr früh, eine Stunde lang ausführlich, und dann sollen Sie Ihre Meinung, Ihre Erfahrung erläutern unter der Rufnummer 00800-2254-2254. Die Haltung unserer beiden Gäste werden Sie dazu vielleicht hoffentlich inspirieren – Herr Meidinger, Herr Dräger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Meidinger: Ja, ich bedanke mich auch, danke.
Dräger: Herzlichen Dank, Herr Scholl.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Meidinger: Ich würde vielleicht noch gerne einen Blick werfen auf andere Länder, weil immer gesagt wird, es gibt Länder, die kennen kein Sitzenbleiben. Also beispielsweise in England hat man kein Sitzenbleiben, aber wie wird der Fall gelöst? Die Kinder können dann in der Oberstufe, die Jugendlichen, die Fächer, wo sie schwach sind, abwählen, die haben halt eben keine Mathematik dann mehr, sondern stattdessen soziale Wissenschaften – es sind keine vergleichbaren Abschlusszeugnisse mehr. Mit einem, wo ich keine Mathematik drin habe, komme ich auch an eine renommierte Universität nicht. Und in Finnland habe ich auch kein Sitzenbleiben, aber eine ganz starke Selektion, wenn es drum geht, in die Oberstufe zu kommen, eine Universitätszugangsberechtigung zu bekommen. Also es hat alles seine Vor- und Nachteile.
Dräger: Ja, ich würde gar nicht für ein System plädieren, in dem die Fächer dann abgewählt werden können, aber wir haben eben auch Jugendliche, die in – ich sage mal – Mathematik und Physik die Fünf haben, und in sonstigen Fächern eigentlich prima mitkommen, die dann eine gesamte Klasse wiederholen müssen, obwohl sie nur zwei Schwachstellen haben. Und da stellt sich mindestens die Frage, ob ich nicht diesen Schülern in den Fächern eher helfen kann, als dass ich sie insgesamt wiederhole.
Meidinger: Doch, da bin ich voll einverstanden, denen müsste man intelligent durch Zusatzförderung helfen, diese Klippe zu überwinden.
Scholl: Ich möchte noch kurz auf diesen Punkt zu sprechen kommen, Herr Dräger, den Sie genannt haben, mit der unterschiedlichen Lernkultur. Also wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, war Sitzenbleiben eine Art von sozialem Regulativ. Niemand wollte sitzenbleiben, weil er nämlich dann der Versager war oder der Dummkopf, und Eltern und Lehrer haben sozusagen gleichermaßen diesen Druck ausgeübt. Ist dieses Modell obsolet? Also ich will es jetzt gar nicht verteidigen, um Gottes willen, aber es war natürlich ein immenser Druck, der auf den Kindern geherrscht hat.
Dräger: Also per se eine negative Lernmotivation führt nicht zum Lernerfolg. Ein Kind, genau übrigens wie ein Erwachsener, lernt dann, wenn es Spaß bringt, wenn man Freude dran hat und wenn man den Erfolg erlebt. Das heißt, das Grundsatzziel einer Pädagogik muss sein, ein Erfolgserlebnis zu vermitteln und nicht so sehr ein Negativerlebnis zu vermitteln. Natürlich muss ein Kind in der Lage sein, auch darüber zu reflektieren, wenn es was nicht kann. Nur das geschieht nicht am Endjahreszeugnis, sondern im wöchentlichen Umgang mit dem Unterrichtsstoff. Das heißt, ich will überhaupt gar keine Abkehr von der Tatsache, dass es um Leistung geht, ganz im Gegenteil, ich will sie nur nicht an einem Sanktionsmechanismus mit Druck am Ende des Jahres haben, sondern die kontinuierliche Leistungskontrolle während des Jahres, die dann eben die Chance gibt, dass ich in meinen Kompetenzen nach oben komme, ohne hinterher eine Sanktion zu kriegen.
Scholl: Wie sehen Sie das, Herr Meidinger?
Meidinger: Ich würde mich freuen, wenn es eine Schule gibt, wo nur von positiven Lernerfolgserlebnissen lebt, aber ich erlebe eben auch, dass zum Halbjahr, beispielsweise, wenn dann Gefährdungsvermerke im Zeugnis sind, tatsächlich dann sich, insbesondere sind es ja Jungs, auf den Hosenboden setzen und sagen, okay, jetzt muss ich aber was tun. Ich fürchte, wenn es sozusagen keine Gefahr mehr gäbe des Sitzenbleibens, dann würden sie es nicht tun.
Scholl: Pro und Kontra zur möglichen Abschaffung des Sitzenbleibens in der Schule, dazu haben wir Heinz-Peter Meidinger vom deutschen Philologenverband und Jörg Dräger vom der Bertelsmann-Stiftung gehört. Die Debatte wollen wir auch nochmals mit Ihnen, unseren Hörern führen, und zwar in unserer nächtlichen Gesprächssendung "2254" in der Nacht von Sonntag auf Montag um ein Uhr früh, eine Stunde lang ausführlich, und dann sollen Sie Ihre Meinung, Ihre Erfahrung erläutern unter der Rufnummer 00800-2254-2254. Die Haltung unserer beiden Gäste werden Sie dazu vielleicht hoffentlich inspirieren – Herr Meidinger, Herr Dräger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Meidinger: Ja, ich bedanke mich auch, danke.
Dräger: Herzlichen Dank, Herr Scholl.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.