"Nehmt euer Radio und geht auf die Straße!"

Von Petra Marchewka |
Die Künstlergruppe LIGNA ruft über das Freie Sender Kombinat Hamburg dazu auf, sich an einem bestimmten Ort zu versammeln, um nach den Anweisungen aus dem mitgebrachten Radiogerät bestimmte Handlungen zu vollziehen. Sie sorgen so für synchrones Aus-der-Reihe-tanzen.
Hauptbahnhof, Hamburg. Alles wie immer. Züge rollen ein, Menschen steigen aus. Gehen, kommen, warten. Zeitungsverkäufer, Bahnpersonal. Tauben, die flattern, Rolltreppen rollen.

Plötzlich ... Etwa 30 Frauen und Männer auf Gleis sieben bleiben stehen. Unterbrechen den Alltagsfluss. Strecken die Arme nach rechts und links aus. Das gleiche passiert auf Gleis neun, elf, vierzehn, überall im Bahnhof, wie auf ein geisterhaftes Kommando.

" Stellt die Füße ein wenig auseinander, Arme auf Schulterhöhe ausbreiten, Hände ausstrecken, die Handflächen nach vorne drehen! "

Passanten lächeln, oder schütteln verwundert den Kopf. Sie wenden sich ab, sind irritiert. Können dem skurrilen Geschehen aber nicht entkommen: Fünf Meter weiter verhält sich der nächste nicht normal. Synchrones Aus-der-Reihe-tanzen.

" Tanzen. Selbstvergessen Tänzeln! "

Michael Hüners, von der Künstlergruppe LIGNA: " Da hatten sich 350 bis 400 Menschen versammelt, sind mit einem tragbaren Radiogerät in den Hauptbahnhof hineingegangen. (…) Wir hatten versucht, das Verhältnis von öffentlichen und privaten Räumen zu thematisieren, was sich an Hauptbahnhöfen relativ gut machen lässt, weil eigentlich Hauptbahnhöfe per Definition öffentlich zugängliche Räume sind, und aber zusehends durch die Kommerzialisierung einem privaten Hausrecht unterliegen."

Über das Freie Sender Kombinat Hamburg hatte LIGNA zum "Radioballett" eingeladen, das war im Mai 2002. Zum gemeinsamen Fest der verbotenen Handlungen: betteln, auf dem Boden sitzen, herumdösen. Der Hamburger Bahnhof: reinweiß und gesäubert von unerwünschten Personen und gestischem Unrat, Tempel ausschließlich für Reisende und Konsumenten.

LIGNA-Mann Ole Frahm: " Die Geste, die wir alle kennen am Hauptbahnhof, ist ja, jemandem die Hand zu geben. (...) Und die Geste, die verboten ist, ist die Hand aufzuhalten. Man muss die Hand nur von der senkrechten zur waagerechten Hand umdrehen. Und schon ist man von der erlaubten Geste zu einer verbotenen übergegangen. Eine stille Arbeit, die auch ein bisschen unheimlich war, weil die Leute natürlich auch Kopfhörer hatten, das heißt, von außen war gar nicht sichtbar, was passiert. Es wird gezeigt: Ihr könnt alles überwachen, aber mit den Radiowellen kommen wir auch überall hin."

Fußgängerzone, Stralsund. Sommer 2005. Alles wie immer. Menschen kommen, gehen, kaufen.

Plötzlich ...

" Hallo... "

Irritation des Alltagsgeschäfts.

" Can you hear me? "

Eine Stimme. Aus acht Gettoblastern, an verschiedenen Stellen der Fußgängerzone. Ein LIGNA-Experiment zur Identität der Radiostimme.


" Bürger der Stadt Frankfurt: Hörerinnen und Hörer von Radio X. Auf zur zerstreuten Barrikade! "

Frankfurt. Februar 2005. Kalte Luft. Alles wie immer.

Plötzlich...

" Bleibt nicht zu Hause in euren Sesseln! ... Begebt euch auf die Suche nach der zerstreuten Barrikade! (...) Nehmt Euer Radio in die Hand und geht auf die Straße! "

LIGNAS bevorzugte Bühne ist der öffentliche Raum. Akteur und Regisseur: der Hörer selbst.

Torsten Michaelsen, der Dritte bei LIGNA: " Das Interessante daran, an den Aktionen, die wir machen, die wir in vielen Fällen ‘Radioballett‘ nennen, ist eigentlich, dass sie tatsächlich erst als Produktion zustande kommen, wenn Leute daran teilnehmen. (...) Tatsächlich ist es das, was wir unter aktivem Hören verstehen würden."

LIGNAs Experimente mit dem Medium Radio erzeugen Situationen, die ihren Reiz in einer zügellosen Unkontrollierbarkeit haben. Diese Situationen sollen die Orte tatsächlich verändern. Ole Frahm, Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker.

Ole Frahm: " Wir sind anders als die Traditionslinken, die eben glauben, dass man zum Beispiel mit einer Demonstration viele Leute erreicht, die daraufhin anfangen, anders über irgendwas nachzudenken. (...) Wir glauben daran, dass sich eine Situation durch Bewegung ändern lässt."

" Ihr hört das LIGNA Radioballett im Freien Sender Kombinat auf 83,0..."

Für ihr Radioballett erhielt LIGNA 2003 den alternativen Medienpreis. LIGNA, deren Begründer schon seit 1997 miteinander arbeiten, sprengt Hörgewohnheiten, weil die Gruppe mit den Rollen des Senders und Empfängers experimentiert. Um gewohnte Blickwinkel zu verändern, um Verstörung zu erzeugen.

Ole Frahm: " Da gehört natürlich auch schon eine Portion Liebe auch zum Medium dazu, immer wieder zu sagen, nee, wir verteidigen das Medium gegen alle Leute, (...) als ob die Zeit eines Mediums, das eine gesellschaftliche Funktion haben könnte, je vorbei sein kann. Wir glauben, dass die Zukunft des Radios noch überhaupt nicht entdeckt ist, das ist der andere Punkt. "