Neidgefühle

Nicht jede Missgunst ist moralisch verwerflich

Eifersüchtiger Kollege schubst Kollegen von einer Leiter
Nach der christlichen Lehre ist Neid als Todsünde verschrien. Der Rechtsanwalt und Autor Bijan Moini fordert, Neid moralisch neutraler zu bewerten. © Getty Images / iStockphoto / Nuthawut Somsuk
Ein Plädoyer von Bijan Moini · 19.04.2022
Die Deutschen können einfach nicht gönnen - so jedenfalls die Klage von Reichen. Doch Neid auf den Ferrari sei das Mindeste, was die Elite ertragen können müsse, meint Bijan Moini. Er plädiert für eine Neubewertung der vermeintlichen Todsünde Neid.
Neulich erzählte mir ein Jugendlicher von seinem letzten Familienurlaub am Gardasee. Seine Eltern besitzen dort ein Haus direkt am Wasser, samt stattlichem Boot zum Wakeboardfahren.
Mutter, Schwester und er selbst seien mit dem Familienwagen hingefahren, der Vater habe den Ferrari genommen. Zu Hause in Frankfurt nutze Papa den Flitzer nicht gern, die Nachbarn seien darauf neidisch. In Italien sei das anders, dort pfiffen die Menschen anerkennend, wenn sie damit vorbeiführen. Der Junge seufzte. Seine Eltern sagten, es sei traurig, dass in Deutschland Leistung so wenig geschätzt werde.
Dieses Lied habe ich schon oft gehört. Das Lied vom angeblichen Neid der Deutschen. Natürlich immer aus reichem Mund. Ich weiß nicht, ob wir Deutschen neidischer sind als andere Völker. Vielleicht ist das so, aber mir geht es hier um etwas anderes: Reiche haben keinen Anspruch darauf, dass man ihnen ihren Reichtum nicht neidet. Erst recht haben sie keinen Anspruch auf Bewunderung.

Moralisch neutralere Bewertung von Neid 

Neid ist nach der christlichen Lehre eine der sieben Todsünden. Diese Einordnung fußt auf seiner destruktiven Ausprägung, der Missgunst. In seiner konstruktiven Ausprägung begründet Neid den Ehrgeiz, das Neidobjekt selbst zu erlangen. Dieses Streben nach Erfolg, Anerkennung und Geld wird positiv oder zumindest moralisch neutral bewertet. Die Missgunst hingegen gilt als verwerflich.
Doch dieses harsche Urteil über sie ist zu undifferenziert. Missgunst ist moralisch nicht verwerflich, soweit sie sich auf ungerechte Verhältnisse bezieht. Es macht einen Unterschied, ob jemand einem anderen den selbst erarbeiteten, bescheidenen Sommerurlaub missgönnt oder ein Milliardenerbe.

Reichtum basiert nicht nur auf Eigenleistung

Doch nicht einmal für das Erarbeitete können Menschen Anerkennung fordern. Nur die Leistung ist das richtige Bezugsobjekt für diese Anerkennung, der durch sie erworbene Reichtum ist es nicht. Er ist nur Ausweis eines Systems, das Leistung sehr unterschiedlich mit Geld honoriert und extreme materielle Ungleichheit hervorbringt.
Diese Ungleichheit, so der Philosoph John Rawls, ist nur in dem Maße gerechtfertigt, wie sie das Wohl der Ärmsten mehrt. Die Aussicht auf Privilegien kann und soll also produktive Menschen zu Höchstleistungen im Sinne aller motivieren. Doch dafür ist weder ein überzogenes Einkommen erforderlich noch leistungslos erworbenes Vermögen wie etwa eine Erbschaft.
Zudem hängen Erfolg und Reichtum in hohem Maße von Dingen ab, auf die niemand selbst Einfluss hat: von Genen, Geburtsort, Elternhaus, Umfeld, Gesundheit, Zufall.
Auf einer in dieser Hinsicht günstigen Grundlage erzielten Erfolg betrachten Menschen außerdem zu oft als Resultat ihrer eigenen Leistung. Dabei leben sie von Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen haben: von qualifizierten Angestellten, guter Infrastruktur, einem verlässlichen Rechtssystem, einem funktionierenden Kreditwesen und einem Sozialsystem, das Risiken abfedert. Und schließlich verdanken sie ihr Vermögen in hohem Maße der Arbeit, den Mieten, den Daten und dem Konsum ärmerer Menschen.

Konstruktiver Neid steigert Gerechtigkeit

Reiche und Erfolgreiche sollten deshalb der breiten Masse Anerkennung zollen, die ihren Reichtum und Erfolg ermöglicht, nicht umgekehrt. Neid auf den Ferrari ist das Mindeste, das die Elite unseres Landes ertragen können muss. Diesen Neid moralisch zu verdammen, lenkt von seinen Ursachen ab. Wir sollten ihn als Antrieb sehen, der uns die bestehenden Strukturen hinterfragen und für gerechtere Verhältnisse kämpfen lässt. Nur ein konstruktiver Umgang mit Neid führt uns in eine gerechtere Gesellschaft.

Bijan Moini ist Rechtsanwalt und Politologe und leitet das Legal Team der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Nach dem Rechtsreferendariat in Berlin und Hong Kong arbeitete er drei Jahre für eine Wirtschaftskanzlei. Dann kündigte er, um seinen Roman „Der Würfel“ zu schreiben (2019, Atrium). Zuletzt erschien von ihm bei Hoffmann und Campe „Unser gutes Recht. Was hinter den Gesetzen steckt“ – ein anekdotischer Überblick über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Bijan Moini
© Thomas Friedrich Schäfer
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