Warum Menschen für ihren Glauben kämpfen
Vor 50 Jahren hat Religion in der Gesellschaft kaum mehr eine Rolle gespielt. Das hat sich grundlegend geändert. Neil MacGregor, Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, hat ein Buch zur Bedeutung von Gott und Göttern veröffentlicht.
Ute Welty: Neil MacGregor vorzustellen, das ist so ein bisschen wie Eulen nach Athen tragen. In Deutschland ist der britische Kunsthistoriker bekannt als Gründungsintendant des Humboldt-Forums. Bis 2015 war er Direktor des British Museum, und dort hat er die Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" organisiert, die ist derart zum Publikumsmagneten geworden, dass auch die Bundeskanzlerin angezogen wurde.
Mit der BBC hat Neil MacGregor viel zusammengearbeitet, unter anderem für eine Serie über Jesusbilder. Sein neues Buch, das nächste Woche erscheint, knüpft vielleicht ein wenig da an: "Leben mit den Göttern" heißt es. "Leben mit den Göttern", wie kann das sein, wenn es doch in den Zehn Geboten heißt, du sollst keinen anderen Gott neben mir haben?
MacGregor: Es geht hier um Gesellschaften aus aller Welt und über 40.000 Jahre. Also es gibt ja viele Götter in der Welt, und in diesem Buch habe ich versucht, die Frage zu stellen, was bedeutet das, wenn eine Gemeinschaft mit einem Gott, mit Göttern umgeht, und in welchem und mit welcher Praxis wird die Gemeinschaft dadurch gestärkt. Was bedeutet es für die Gesellschaft, der Glaube. Das ist die Frage, weil in der jetzigen Welt spielt noch einmal die Religion häufig eine bestimmende Rolle in der Politik, und vor 50 Jahren hätte man, glaube ich, gesagt, dass eine solche Rolle für die Religion nicht mehr möglich war. Jetzt in aller Welt ist die Religion eine politische Frage.
Ist ein Buch über den Glauben noch zeitgemäß?
Welty: Welche Rolle spielen denn Götter noch in einer Zeit, die vor allem global und digital ist, oder anders gefragt: Ist Ihr Buch tatsächlich zeitgemäß?
MacGregor: Es geht weniger um die Götter und vor allem um das Leben. Was sind die Rituale, was sind die Praxis, die für eine Gesellschaft wichtig sind, was für ein Narrativ. Es geht um ein Narrativ der Gesellschaft, ein Narrativ, wo es auch Hoffnung für die Zukunft gibt. Solche Narrative sind in der Geschichte und auch heute für die meisten Leute der Welt religiöse Narrative. Es hat natürlich andere Narrative gegeben, wie der Nationalismus, und wir haben alle gesehen, was daraus geworden ist. Es gab auch Narrative wie den Kommunismus, aber für die Leute, wo es keinen Staat mehr gibt, wo der Staat gescheitert ist vor allem, da spielt die Religion die führende Rolle, um eine Gesellschaft, um eine Gemeinschaft zu stärken und Hoffnung zu geben.
Welty: Tatsächlich ist Glaube – Sie haben es auch gerade schon beschrieben – wieder mehr gesellschaftliches Gesprächsthema. Er dient sogar als Rechtfertigung für Kriege. Hat Glaube das verdient?
MacGregor: Im Buch versuchen wir zu verstehen, warum der Glaube für eine Gemeinschaft so wichtig ist, dass man bereit ist, dafür zu kämpfen. Für Europäer ist diese Frage, glaube ich, jetzt schwierig. Wir hatten seit der Aufklärung die Idee, dass Wissenschaft die Rolle der Religion übernommen hatte, weil wir in der Religion nur eine Erklärung der Welt sahen. Die Religion ist aber auch ein Versuch, über die Bedeutung der Existenz zu reden, und diesen Aspekt haben wir, glaube ich, vernachlässigt. Was ist die Bedeutung der Existenz des Individuums im Leben der Gemeinschaft, was ist die Rolle des Individuums in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft, und in allen Religionen und in der Praxis aller Religionen ist genau dieses Thema wichtig.
Welty: Was wollen Sie da mit Ihrem Buch erreichen, dass auch den Göttern und dem Glauben in Europa an sich wieder ein größerer Stellenwert eingeräumt wird?
Der Kult um die Madonna di Guadalupe
MacGregor: Nein, nein. Es ist kein Plädoyer für die Religion. Es ist ein Versuch zu verstehen, warum für die meisten Leute in der Welt die Religion so wichtig ist. Zum Beispiel in Mexiko gibt es den Kult der Madonna von Guadalupe. Es geht um ein Bildnis von Maria, ein Bildnis, das mirakulös auf einem Tuch erschienen ist. Dieser Kult ist vor allem der Kult der Armen, der Entrechteten, die haben in diesem Kult die Hoffnung, die haben in diesem Kult eine Person, die sie gegen die Macht verteidigt, und mit diesem Kult der Madonna di Guadalupe haben die armseligsten Leute in Mexiko eine Hoffnung und vor allem die Mexikaner, die in den Vereinigten Staaten arbeiten. Da findet man überall Kirchen der Madonna di Guadalupe. Wenn sie demonstrieren gegen die wirtschaftliche Ausbeutung zum Beispiel, das machen sie unter dem Zeichen der Madonna di Guadalupe. Deshalb sind diese religiösen Traditionen so wichtig, dass die Leute bereit sind, für sie zu kämpfen. Das merkt man vor allem derzeit im Nahen Osten, wo der Staat nicht mehr in der Lage ist, die Leute zu verteidigen, den Leuten Hoffnung zu stiften. Die finden in den Religionen, in der Religion, in den religiösen Traditionen genau diesen Sinn von Gemeinschaft und von Hoffnung.
Welty: Aber kann das die Rechtfertigung sein dafür, Gewalt anzuwenden und andere Menschen umzubringen?
MacGregor: Nein, natürlich nicht, aber wenn man die Religion so ansieht, dann versteht man vielleicht besser, in welchem Maße die religiöse Traditionen identitätsstiftend sind, und es geht überall in der Welt um Identität der Gruppe, vor allem, wo große wirtschaftliche, politische Ungerechtigkeit herrscht, und wenn wir besser verstehen, dass die Religionen diese Rolle, diese Identität stiftet und stärkt, dann kann man besser verstehen – nicht rechtfertigen, verstehen –, warum es als Zeichen der Identität im Kampf, im Krieg benutzt wird.
Der Löwenmann von der Schwäbischen Alb
Welty: Sie thematisieren unter anderem eine Skulptur, die mehr als 40.000 Jahre alt ist, das ist der Löwenmann, der auf der Schwäbischen Alb gefunden wurde. Inwieweit prägt dieser Löwenmann unser Gottes- oder unser Götterbild bis heute?
MacGregor: Ich glaube, im Sinne, den ich schon beschrieben habe. Diese kleine Skulptur zeigt den Körper eines Mannes mit dem Kopf eines Löwen. Es ist der erste Beleg, den wir haben, für eine Idee, die physisch begreiflich gemacht worden ist. Diese Idee kann nicht in der Natur existieren. Dieses Objekt führt uns sofort in eine Welt jenseits der Natur und der menschlichen Erfahrung. Das Objekt öffnet uns den Zugang zu einer Welt der Abstraktion und der Ideen. Was besonders interessant ist, ist, dass diese Skulptur kein reines Kunstwerk ist. Es ist von hunderten von Leuten in der Hand gehalten worden. Das kann man sehen und fühlen. Das heißt, dieses Narrativ war von Anfang an Teil des Lebens der ganzen Gemeinschaft. Warum würde man in der Eiszeit ein solches schönes Objekt machen. Für die Gemeinschaft. Man kann nicht damit besser essen oder heiß bleiben. Das hat eine andere Funktion. Es geht um die Psychologie der Gruppe, die Stärkung des Gefühls der Gemeinschaft. Das ist das Leben mit den Göttern.
Welty: Leben mit den Göttern und ein bisschen Leben mit Neil MacGregor, dem britischen Kunsthistoriker – ich danke für dieses "Studio 9"-Gespräch!
MacGregor: Danke!
Welty: Und das Buch von Neil MacGregor erscheint am 12. Oktober und zwar bei C.H. Beck, knapp 550 Seiten gibt es für knapp 40 Euro.
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