Neil Shubin: "Die Geschichte des Lebens. Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt"
Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2021
352 Seiten, 24 Euro
Die Evolution spielt mit gezinkten Würfeln
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Der Evolutionsforscher Neil Shubin, der schon mit "Der Fisch in uns" einen Bestseller schrieb, beleuchtet erneut die Entwicklung des Lebens. Große und grundsätzliche Fragen beantwortet er mit dem Blick auf feinste Details.
Folgt die Evolution allein dem Zufall? Oder hat sie mit "gezinkten Würfeln" gespielt, als sie ihre berühmten sprunghaften Bauplanänderungen erzeugte, wie den von der Echse zum fliegenden Vogel?
Grob in acht Kapitel teilt Neil Shubin sein neues Buch "Die Geschichte des Lebens", das die großen Fragen des Faches untersucht. Als begabter Erzähler legt er sein Buch allerdings in einem großen Wurf an und folgt einem dramaturgisch bewährten Prinzip: Er rollt die Geschichte der Evolution als Geschichte ihrer Erforschung auf – leidenswillige Forscherinnen und Forscher, zeitraubende Experimente, Rückschläge, Ahnungen, Durchbrüche und erstaunliche neue Perspektiven.
Spannende Bekehrungsgeschichte
Neil Shubin beginnt nicht bei Charles Darwin, sondern stellt die Evolutions- und Molekulargenetik ins Zentrum seines Buches. Das ist umso faszinierender, als er selbst ursprünglich aus der Fossilienforschung stammt und vor vielen Jahren zunächst zur genetischen Forschung "bekehrt" werden musste.
Auch Konversionsgeschichten lesen sich bekanntermaßen reizvoll. Ohnehin schreibt Neil Shubin sehr persönlich, hat als junger Mann viele Größen des Faches kennengelernt und setzt solche Begegnungen in Szene, während er neueste Forschungsinformationen liefert.
Viren treiben die Evolution an
Die permanente Auseinandersetzung mit Viren, so betont der Autor und berührt damit ein hochaktuelles Thema, gehört zu den wichtigsten Antriebsmechanismen der Evolution. Deshalb machen stillgelegte alte Viren etwa zehn Prozent des menschlichen Genoms aus. Mindestens 60 weitere Prozent bestehen aus Wiederholungselementen, entstanden aus wild im Erbgut umherspringenden Genen.
Auch das beförderte die Evolution, schien aber lange Zeit so unglaublich, dass die etablierte Forschung es ignorierte. Die Jahrzehnte lang völlig unterschätzte Barbara McClintock (1902–1992) hat die springenden Gene an Maispflanzen entdeckt.
Ihren hartnäckigen Lebens- und Forschungsweg zeichnet der Autor liebevoll nach, wie er überhaupt den Beitrag weiblicher Evolutionswissenschaftlerinnen immer im Blick hat.
Aus alt mach neu
Ebenso gekonnt leitet Neil Shubin her, wie die Evolution als "Restekoch" aus alten Strukturen ständig neue Anpassungen bastelte, was sprunghafte Entwicklungsschritte wie die erwähnten Bauplanänderungen erst möglich machte.
In all dem müssen sensible Leserinnen und Leser allerdings damit umgehen, dass sie hautnah erfahren, welche Mengen an Mäusen und anderen Tieren im Labor für solches Wissen in Mutanten verwandelt wurden, denn die künstliche Erzeugung monströser Aberrationen ist so etwas wie der Königsweg in der Evolutionsforschung.
Der Griff zur Natur und ihre Vernichtung
Der Autor hat daran weiter keine kritischen Fragen, doch die Rezensentin bleibt nachdenklich zurück. Ist es nicht genau dieser gedankenlos gewaltsame Zugriff auf die Natur allerorten, der dazu geführt hat, dass uns ein Buch heute mehr denn je über die feinen Details der Evolutionsgeschichte erzählen kann, Millionen leidensfähiger Lebewesen säumen den Weg des Erkenntnisgewinns – aber von dem Resultat der Evolution, der atemberaubenden Vielfalt des Lebens, kaum noch etwas übrig geblieben ist?