Nell Zink: "Virginia"
Aus dem Englischen von Michael Kellner
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
318 Seiten, 22 Euro
Wenn ein weißes Kind plötzlich schwarz ist
06:14 Minuten
Nell Zinks lesbische Heldin verfällt einem schwulen Dichter, zeugt mit ihm zwei Kinder und flieht später aus ihrem tristen Alltag. Heraus kommt ein Roman, der sowohl Provinzposse als auch Ehedrama und Verwechslungskomödie ist.
Es gibt kaum eine amerikanische heilige Kuh, die Nell Zink in ihrem rasanten Roman "Virginia" nicht niedermetzelt. Genussvoll brettert die 1964 in Kalifornien geborene Wahl-Deutsche durch die Alltagskultur der USA und verwurstet alles, was ihr zwischen die Finger kommt. Das Ergebnis ist eine hochamüsante Geisterbahnfahrt durch die Zeitgeschichte, eine Mischung aus College-Klamotte, Provinzposse, Ehedrama, Verwechslungskomödie, satirischem Bildungsroman, Handbuch zur Irreführung der Behörden und Leitfaden für junge Mütter ohne Berufsausbildung. Wie kann das gehen?
Ganz einfach, scheint sich Nell Zink gedacht zu haben. Die Autorin entwarf eine Frauenbiografie der frühen sechziger Jahre, ergänzte sie mit ihrem eigenen Lebensmaterial, tauchte das Ganze in ein ätzendes Literaturbad, setzte effektvoll Übertreibungen ein und schmiedete es zu einer lesbaren Geschichte um. "Virginia" ist Zinks zweiter Roman, der im Original 2015 erschien und nach ihrem großen Erfolg mit Der Mauerläufer (2016) und Nikotin (2018) nun auch auf Deutsch nachgereicht wird.
Drei Monate haltloser Sex, Schwangerschaft - und dann?
Ihre Heldin heißt Peggy Vaillaincourt, ist Jahrgang 1948 und landet nach einer Kindheit in einem gleichgültigen Elternhaus an dem Frauencollege Stillwater. Eigentlich ist sie lesbisch, doch mit ihrer Androgynität bringt sie ausgerechnet das einzige männliche und stockschwule Mitglied des Lehrkörpers in Wallung: Lee Fleming, schwarzes Schaf einer alteingesessenen Ostküstendynastie, begabter Dichter, Dozent und Herausgeber einer Lyrikzeitschrift. Nach drei Monaten haltlosem Sex und einem Rausschmiss aus dem College ist Peggy schwanger, wird von Lee zwar geheiratet, aber muss von nun an sein Leben der Bohème als Zuschauerin ertragen.
Der Sohn Byrdie verzückt beide, doch Peggys eigene literarische Ambitionen spielen keine Rolle mehr. Sie bekommt Kind Nummer zwei, eine Tochter namens Mireille, und als ihr Mann seine Libido vor ihren Augen mit einem Knaben austobt, fährt sie kurzerhand Lees Auto in den Stillwater See, entgeht knapp der Einweisung in die Psychiatrie, schnappt sich die Tochter und taucht in Virginia unter. Mithilfe einer gestohlenen Geburtsurkunde verpasst sie der dreijährigen Mireille eine neue Identität.
Am Ende eine Persiflage auf Zwangs-Happyend
Der Clou an der Sache: das verstorbene Mädchen Karen war schwarz, und von nun an gelten die flachsblonde Tochter und damit auch Peggy, die sich jetzt Meg nennt, als Schwarze. Jahrelang schlägt sich Meg erfolgreich mit kleinerem Drogenhandel durch. Parallel dazu entspinnt sich auch das Schicksal Byrdies, der zu einem sympathischen Nerd heranwächst. Am Ende kommt es dann in einer Persiflage auf amerikanische Zwangs-Happyendings sogar zu einer Familienzusammenführung.
"Virginia" schlägt mit seiner programmatischen Überdrehtheit zwischendurch über die Stränge, aber Form und Sprache entfalten etwas Soghaftes, und der Erkenntnisgewinn hat es in sich. Nell Zink zeigt, wie fragwürdig die gängigen Kategorisierungen von Geschlecht, Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit sind. Eine Portion Zink bringt unsere Wahrnehmungsmuster aufs Angenehmste ins Taumeln.