"Er hatte eine unglaubliche Aura"
Humorvoll, bescheiden, ein Diener seines Volkes: So beschreibt der langjährige Afrika-Korrespondent Claus Stäcker den verstorbenen Nelson Mandela.
Liane von Billerbeck: Gigant für die Gerechtigkeit, größte politische Persönlichkeit unserer Zeit, moralischer Kompass, Freiheitsikone, Vater Südafrikas, oder auch größter Sohn der Nation. Das sind einige der Bezeichnungen, die ihm schon zu Lebzeiten verliehen wurden. Gestern Abend ist Nelson Mandela in Johannesburg mit 95 Jahren gestorben. Ein Mann, der fast drei Jahrzehnte in Gefängnissen des Apartheidregimes eingesperrt war. Nach seiner Freilassung sagte er damals, am 11.02.1990:
"Ich habe gegen die weiße Vorherrschaft gekämpft und gegen die schwarze; ich habe das Ideal einer demokratischen Gesellschaft hochgehalten, in der alle Menschen in Harmonie und mit den gleichen Möglichkeiten zusammenleben. Es ist auch ein Ideal, für das ich zu leben und das ich zu erreichen hoffe, und bei Gott, so sagte es Mandela nach seiner Freilassung, wenn es nötig ist, bin ich auch bereit, dafür zu sterben."
Über diese Ikone eines Landes und eines Kontinents will ich jetzt mit Claus Stäcker sprechen. Lange Jahre war er ARD-Korrespondent für das südliche Afrika, hat dort gelebt, ist jetzt Leiter der Afrika-Programme der Deutschen Welle. Mit ihm bin ich telefonisch in Afrika verbunden. Claus Stäcker, ich grüße Sie!
Claus Stäcker: Guten Morgen!
von Billerbeck: Wie haben Sie diesen Mann in Ihrer Zeit in Südafrika erlebt?
Stäcker: Das ist eine sehr schwere Frage, und die Lebensleistung dieses Mannes irgendwie markant in Worte zu fassen, fällt mir natürlich unglaublich schwer. All die schönen Attribute, die Sie in der Anmoderation genannt haben, die jetzt auch die Politiker aller Welt für ihn verwenden, sind sicherlich richtig. Mir gefällt am besten der moralische Kompass, denn der moralische Kompass, wenn man in der Metapher bleibt, schließt ja auch mit ein, dass die Nadel nach Norden oder in eine andere Himmelsrichtung zeigt und man nicht unbedingt diesen Weg beschreiten muss, in diese Richtung gehen muss.
Er hat mit Sicherheit ein moralisches Wertesystem vorgelebt, glaubhaft vorgelebt, und das ist, glaube ich, für mich die größte Leistung. Die Versöhnung in seinem Land, die Regenbogennation, auf jede Rachegelüste und Missgunst nach seiner langen, schmerzhaften, mit der Trennung seiner Familie verbundenen Haft einfach genau nicht den naheliegenden Weg zu gehen und alle Macht für sich zu okkupieren, sondern auf seine Feinde, auf seine Peiniger zuzugehen. Das ist seine große Leistung. Er hat es glaubhaft vorgelebt. Und insofern ist er tatsächlich ein moralischer Kompass und kann in meinen Augen auch nur mit so großen historischen Figuren wie Mahatma Gandhi verglichen werden. Und es ist ja auch kein Zufall, dass auch Mahatma Gandhi seine große Lebensinspiration in seinen frühen Tagen in Südafrika gewonnen hat und auch dort mit der Rassentrennung konfrontiert war. Da gibt es also ganz direkte Parallelen.
von Billerbeck: Wie haben Sie ihn denn als Korrespondent selbst erlebt? Was war der für ein Mensch?
"Wenn er den Raum betritt, dann halten alle den Atem an"
Stäcker: Nelson Mandela, wenn er den Raum betritt, dann halten alle den Atem an. Er hat eine unglaubliche Aura, von der man sofort gefangen ist. Man kann sich dagegen nicht wehren. Was mich am meisten beeindruckt hat, wie menschlich er war. Man hatte nie das Gefühl, dass er über einem steht, obwohl er ja diesen ikonenhaften, fast heiligen Charakter hatte. Bei jeder Pressekonferenz hat er alle freundlich gegrüßt, man hatte das Gefühl, er kennt mich ja schon fast, dieses Gefühl vermittelte er einem.
Er grüßte jeden Rezeptionisten, jeden Wachmann, jede Putzfrau. Er hatte immer einen Scherz auf den Lippen. Er war auch ein grandioser Charmeur. Wann immer junge, hübsche Frauen in der Nähe waren, hatte er einen kleinen Scherz auf den Lippen, den man anderen Politikern nie und nimmer verziehen hätte. Ein Nelson Mandela mit all seiner Altersweisheit, dem hat man das nachgesehen. Also ein unglaublich humorvoller Mensch und ein bescheidener Mensch. Das ist für mich eigentlich das Markante gewesen. Egal, bei welchen Auftritten ich ihn gesehen habe, er vermittelte immer das Gefühl, ganz nah am Volk zu sein, und gab jedem dieses Gefühl, ich bin einer für euch.
von Billerbeck: Trotzdem ist er ja fast, oder gerade deshalb, als eine Art Heiliger verehrt worden.
Stäcker: Er hat selbst zu dem Thema gesagt, ich bin kein Heiliger, nie gewesen, es sei denn, man findet einen Sünder heilig, der sich immer ehrlich bemüht hat in seinem Leben. Auch das zeichnete ihn aus, dieser bescheidene Satz, ich habe mich bemüht. Wir kennen das von Willy Brandt, der hat das, glaube ich, sogar auf seinem Grabstein stehen. Aber das ist Nelson Mandela gewesen, ein Mann voller Demut vor seinem Amt. Seine ersten Worte 1990, Sie haben Ausschnitte aus der Rede ja gerade eingespielt – übrigens ja eine Reminiszenz an seine eigene Rede vor dem Rivonia-Prozess, als er noch mit der Todesstrafe rechnen musste. Er hat die dann einfach 1990 bei seiner Freilassung wiederholt. Und er hat gesagt, ich stehe hier nicht vor euch als Prophet, sondern ich stehe vor euch, um euch zu dienen. Und das mag so ein bisschen populistisch klingen, aber Mandela hat das ernst gemeint. Er sah sich als Diener des Volkes und war sogar bereit, sein eigenes Familienleben, sein eigenes Privatleben dafür zu opfern.
von Billerbeck: Wir haben das eben ja auch gehört, Nelson Mandela war ein Versöhner zwischen den Weißen und Schwarzen, das ist eines seiner zentralen Vermächtnisse. Aber war ihm dieses Versöhnende eigentlich schon als junger Mann eigen? Immerhin hat er ja nach dem Verbot des ANC, des African National Congress 1961 den militanten Flügel des ANC mitbegründet.
Stäcker: Genau. Er hat im Prinzip den paramilitärischen Flügel, den Umkhonto we Sizwe gegründet, das heißt, er wollte den Widerstand, nachdem er viele Versuche gemacht hat, auf friedliche Weise auf die Gerechtigkeit, auf dieses Ende oder zumindest die Abmilderung der Rassentrennung hinzuwirken, er aber nur auf eine Mauer des Starrsinns gestoßen ist, hat er den Militärflügel Umkhonto we Sizwe, Speer der Nation, gegründet. Das heißt, er war ein junger, aufbrausender Kerl. Er war sehr leidenschaftlich. Er musste auch von seinen älteren Mentoren wie Walter Sisulu hin und wieder mal gebremst werden. Walter Sisulu, sagt man der Legende nach, begann viele Sätze, wenn Nelson Mandela sich geäußert hatte, damit, dass er sagte, wir wollen noch mal kurz drüber nachdenken. Das heißt, er hat ihn auch auf mancher Versammlung in seinen jungen Jahren auch ein bisschen gebremst und auch ein bisschen geschützt.
Also Nelson Mandela ist nicht immer dieser altersgute, weise Mann gewesen, als der er dann später, nach dieser endlos langen Haft von 27 Jahren dann der Öffentlichkeit bekannt wurde. Ich glaube, es waren tatsächlich die Gefängnisjahre, die ein Umdenken in ihm hervorgerufen haben, und er hat bemerkt, auch in langen Gesprächen mit seinen weißen Gefängniswärtern, wo sie herkommen. Er hat sich sehr genau beschäftigt, wie sie denken, warum er in ihren Augen der Staatsfeind Nummer eins ist, der Terrorist, und hat die Gemeinsamkeiten herausgefunden, und ich glaube, das war der entscheidende Antrieb später für seine große Versöhnungsleistung.
von Billerbeck: Er hat ja auch sehr genau gesagt, wie es ihm gegangen ist im Gefängnis. Sie hätten ihm die Post nicht vorenthalten, aber sie haben dafür gesorgt, dass er kein anderes Gesicht von anderen Gefangenen gesehen hat und nur die Wächter vor Augen hatte. 27 Jahre lang auf Robben Island. 1994 wurde Nelson Mandela dann der erste schwarze Präsident Südafrikas. Sie waren damals auch da. Kann man einschätzen, was dieser einzelne Mann für Südafrika bedeutet hat? Wäre das Ende der Apartheid ohne ihn überhaupt denkbar gewesen?
"Er hätte mit einer falschen Rede einen Bürgerkrieg auslösen können"
Stäcker: Das ist eine sehr schwere Frage. Es gab natürlich viele große Männer an seiner Seite. Es ist natürlich eine Kollektivleistung gewesen, die Befreiung vom Apartheidregime wäre ohne so einen genialen Lenker wie Oliver Tambo zum Beispiel nie geschehen. Ohne Oliver Tambo wäre auch ein Nelson Mandela nie so berühmt geworden. Er war ja quasi aus der Öffentlichkeit verschwunden. Man wusste, er ist im Gefängnis, aber er war lange Jahre ja überhaupt nicht diese Ikone. Insofern ist es immer eine Kollektivleistung von vielen Menschen gewesen, die einfach von ihrer Sache überzeugt waren. Da kann man Nelson Mandela gar nicht alleine nennen.
Trotzdem denke ich, dass es ohne ihn so nicht geworden wäre, weil Südafrika – Sie haben 1994 angesprochen – ganz kritische Jahre zwischen 1990 und 1994 bis zu den ersten freien Wahlen hatte, in der das Land mehrfach am Rande des Bürgerkriegs stand. Am kritischsten Punkt, als der populäre Politiker Chris Hani ermordet wurde, da war es ein Nelson Mandela, der das Ruder in die Hand genommen hat und in die richtige Richtung gelenkt hat. Er hätte mit einer falschen Rede einen Bürgerkrieg auslösen können. Und das hat ihn ausgezeichnet.
von Billerbeck: Aber er hat es geschafft, auch die hinter sich zu bringen, die eben überhaupt nicht versöhnlich gestimmt waren, unter den Weißen, unter den Schwarzen. Nun haben wir in den letzten Jahren erlebt, wie es ruhiger wurde um Mandela. Es war letztlich ein langsamer Abschied. Nelson Mandela hatte sich ja schon seit einiger Zeit nicht mehr öffentlich geäußert, sein Gesundheitszustand war ernst, sein Tod daher sicher keine Überraschung, kein Schock. Dennoch – wie schätzen Sie das ein? Was wird anders sein in einem Südafrika, in einem Kontinent ohne Mandela.
Stäcker: Ich glaube, dass es jetzt im Moment die Nation Südafrika, die wirklich auch in einer kritischen Phase sich befindet, erst mal wieder zusammenschweißt. Man hat das ja in der Nacht schon gesehen, dass vor seinem Haus in Johannesburg, in Houten, die Menschen sich zusammengefunden haben, gesungen haben. Das war keine traurige Stimmung, das war eine Stimmung, wie in Afrika der Tod von nahen Angehörigen gefeiert wird. Man feiert das Leben. Und auch da waren wieder alle Hautfarben miteinander vereint. Man sah Weiße, man sah sogenannte coloureds, die Farbigen, man sah natürlich die Schwarzen, Zulus, Xhosa. Also erst mal wird es die Nation wieder zusammenbringen. Man wird sich in diesen Tagen noch mal sehr bewusst sein, was man eigentlich erreicht hat seit 1994.
Auf der anderen Seite fürchte ich, dass das nicht ewig anhalten wird. In ein paar Monaten, vielleicht nach einer Schamfrist, werden die Rivalitäten insbesondere im regierenden Afrikanischen Nationalkongress noch härter zutage treten. Und da bin ich allerdings nicht sehr optimistisch, was die moralische Qualität zur Selbsterneuerung des Afrikanischen Nationalkongresses angeht. Ich glaube, die politische Landschaft in Südafrika wird sich in den nächsten Jahren verändern. Und es werden auch die Fraktionskämpfe innerhalb der starken Regierungspartei, glaube ich, viel brutaler, viel offener ausgefochten werden als bisher, als Nelson Mandela ja zumindest moralisch, physisch noch anwesend war.
Sie haben es gesagt, eine lange Agonie liegt hinter ihm. Er hat sich ja schon lange nicht mehr ins politische Tagesgeschehen eingeschaltet. Und er ist ja sogar oft auf in meinen Augen sehr entwürdigende Weise auch für die Wahlkampagnen von Jacob Zuma eingespannt worden. Ich glaube, da hatte er schon selbst keine große Kontrolle mehr drüber, obwohl er bis zuletzt, solange sein Verstand klar war, auch ein Parteisoldat geblieben ist. Er hat sein ganzes Leben auch dem Afrikanischen Nationalkongress untergeordnet, und ich glaube, er hätte nie die Kraft gehabt, sich von dem ANC loszusagen. Das ist auch seine Familie gewesen.
von Billerbeck: Claus Stäcker war das, der langjährige ARD-Korrespondent und heutige Chef der Afrika-Programme der Deutschen Welle, über den gestern Abend mit 95 Jahren in Johannesburg gestorbenen Nelson Mandela. Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.