Neonazis im Anzug
"Wer verstehen will, wie etabliert, integriert und cool bürgerlich unsere extrem rechten Mitbürger sind, muss sich abseits der Schlagzeilen mit ihrem Alltag befassen", heißt es im Vorwort. Abseits der rund 1000 Gewalttaten pro Jahr also, die der Verfassungsschutz Nazi-Schlägern zuordnet.
Deren Anstifter tragen nämlich keine Springerstiefel und Baseballschläger, sondern Businesshemd und Blackberry, sie sitzen in Gemeinderäten, Landtagen, Sportvereinsvorständen und harmlos klingenden Bürgerinitiativen ("Gemeinschaft Deutscher Frauen", "Heimatbund Pommern").
In neun akribisch recherchierten Einzelreportagen schildert das Autorenduo, wie nicht etwa der von Ex-Kanzler Schröder verlangte "Aufstand der Anständigen" gegen Rechts, sondern ein Einmarsch der Randständigen von Rechts stattgefunden hat. Wenn eine 36-jährige NPD-Frau beim Amtsgericht Riesa als Schöffin tätig sein darf, obwohl sie für die Todesstrafe eintritt. Wenn Landeskriminalämter straffälligen Jugendlichen wirklichkeitsferne Aussteigerprogramme anbieten, während die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene, HNG" Neonazis im Knast besucht und geradezu seelsorglich betreut. Wenn ein stellvertretender Bürgermeister in Sachsen-Anhalt einen Zusammengeschlagenen tadelt, er hätte eben kein T-Shirt gegen Rechts tragen sollen.
Die Brücke zur Mitte wird den Neonazis von Zeitungen wie "Junge Freiheit" oder "Preußische Allgemeine" gebaut, wenn hetzerische Publizisten als "Ausländerexperten" präsentiert werden. Und in den seriösen Blättern sollten die Opfer rechter Gewalt am besten Juden oder schwarze Intellektuelle sein: Wenn Antifa-Linke, Punker oder Hartz-IV-Empfänger auf dem Asphalt liegen, fallen die Meldungen schon kleiner aus. Astrid Geisler und Christoph Schultheis sagen das selbstkritisch, denn sie sind beziehungsweise waren Redakteure der linksalternativen "taz".
Meine Befürchtung, diese erkenne man meist am Schaum vorm Mund, war unbegründet: Statt inflationär stimulierter Empörung – die sich schnell abnutzen würde – bietet ihr Buch konturenstarke Innenansichten der völkisch-nordischen "heilen Welt" und, jawohl, es erzeugt sogar Mitgefühl, oder jedenfalls: den Nachvollzug dessen, was etwa in der rat- und hilflosen Unternehmergattin und Mutter vorgeht, deren Sohn zu Hause ausländische Geschäftspartner höflich bewirtet und nachts "Sieg Heil"-Parolen an türkische Gemüseläden sprüht. Oder im eingeklemmten Dorf-Bürgermeister an der Ostsee, der keine Neonazis dulden, aber auch keine frustriert konservativen Bürger verlieren will.
Astrid Geisler wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis geehrt, Christoph Schultheis mit dem Grimme-Online-Award – zwei in der Recherche mutige, im Tonfall maßvolle Journalisten haben ein "lesensnotwendiges" Sachbuch geschrieben.
Besprochen von Andreas Malessa
Astrid Geisler/Christoph Schultheis: Heile Welten. Rechter Alltag in Deutschland
Carl Hanser Verlag, München 2011
224 Seiten, 14,90 Euro
In neun akribisch recherchierten Einzelreportagen schildert das Autorenduo, wie nicht etwa der von Ex-Kanzler Schröder verlangte "Aufstand der Anständigen" gegen Rechts, sondern ein Einmarsch der Randständigen von Rechts stattgefunden hat. Wenn eine 36-jährige NPD-Frau beim Amtsgericht Riesa als Schöffin tätig sein darf, obwohl sie für die Todesstrafe eintritt. Wenn Landeskriminalämter straffälligen Jugendlichen wirklichkeitsferne Aussteigerprogramme anbieten, während die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene, HNG" Neonazis im Knast besucht und geradezu seelsorglich betreut. Wenn ein stellvertretender Bürgermeister in Sachsen-Anhalt einen Zusammengeschlagenen tadelt, er hätte eben kein T-Shirt gegen Rechts tragen sollen.
Die Brücke zur Mitte wird den Neonazis von Zeitungen wie "Junge Freiheit" oder "Preußische Allgemeine" gebaut, wenn hetzerische Publizisten als "Ausländerexperten" präsentiert werden. Und in den seriösen Blättern sollten die Opfer rechter Gewalt am besten Juden oder schwarze Intellektuelle sein: Wenn Antifa-Linke, Punker oder Hartz-IV-Empfänger auf dem Asphalt liegen, fallen die Meldungen schon kleiner aus. Astrid Geisler und Christoph Schultheis sagen das selbstkritisch, denn sie sind beziehungsweise waren Redakteure der linksalternativen "taz".
Meine Befürchtung, diese erkenne man meist am Schaum vorm Mund, war unbegründet: Statt inflationär stimulierter Empörung – die sich schnell abnutzen würde – bietet ihr Buch konturenstarke Innenansichten der völkisch-nordischen "heilen Welt" und, jawohl, es erzeugt sogar Mitgefühl, oder jedenfalls: den Nachvollzug dessen, was etwa in der rat- und hilflosen Unternehmergattin und Mutter vorgeht, deren Sohn zu Hause ausländische Geschäftspartner höflich bewirtet und nachts "Sieg Heil"-Parolen an türkische Gemüseläden sprüht. Oder im eingeklemmten Dorf-Bürgermeister an der Ostsee, der keine Neonazis dulden, aber auch keine frustriert konservativen Bürger verlieren will.
Astrid Geisler wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis geehrt, Christoph Schultheis mit dem Grimme-Online-Award – zwei in der Recherche mutige, im Tonfall maßvolle Journalisten haben ein "lesensnotwendiges" Sachbuch geschrieben.
Besprochen von Andreas Malessa
Astrid Geisler/Christoph Schultheis: Heile Welten. Rechter Alltag in Deutschland
Carl Hanser Verlag, München 2011
224 Seiten, 14,90 Euro