Nepal-Erdbeben

"Die internationale Hilfe ist nicht gut koordiniert"

Andreas Settje im Gespräch mit Ute Welty |
90 Prozent der Häuser sind zerstört, mehr als 8600 Tote wurden gezählt: Vier Wochen nach den schweren Erdbeben ist die Lage in Nepal immer noch dramatisch, berichtet der Vorsitzende der Organisation "Man Maya Med" nach seiner Rückkehr von einer Hilfsaktion.
Nach dem schweren Erdbeben vor vier Wochen ist die Situation in Nepal immer noch dramatisch, berichtet der Chirurg Andreas Settje, der für die Hilfsorganisation "Man Maya Med" in den letzten Wochen im Land unterwegs war.
90 Prozent aller Häuser in den am stärksten betroffenen Regionen seien zerstört, bestätigte der Mediziner, der gerade aus Nepal zurückgekommen ist, im Deutschlandradio Kultur.
Alle älteren Gebäude in den Dörfern sind eingestürzt
"Egal durch welches Dorf man fährt, die älteren Gebäude sind alle eingestürzt", sagte Settje, der sich in Nepal in dem am meisten betroffenen Distrikt Sindhupalchok nördlich von Kathmandu aufhielt, um bei der Nachsorge von verletzten Erdbebenopfern zu helfen. Nach UN-Angaben seien 500 000 Gebäude zerstört und noch einmal die Hälfte müsse voraussichtlich abgerissen werden. Als Chirurg habe er bei der Nachoperation von Amputierten geholfen. Die allermeisten Erdbebenopfer seien aber in den ersten Tagen zentral in die Hauptstadt gebracht und dort von nepalesischen Ärzten versorgt worden. Internationale Helfer in der Peripherie seien daher eher hausärztlich tätig gewesen.
Internationale Hilfe könnte durch eine Info-Plattform besser koordiniert werden
Die Organisation von internationalen Hilfsaktionen schilderte Settje als "etwas unkoordiniert." Insbesondere die Lage für kleinere Hilfsorganisationen sei sehr unübersichtlich: "Es fehlt eine Plattform, wo alle sich Informationen holen können. Über das Internet müsste das sehr einfach möglich sein: Wer wo was macht, wo Bedarf ist."
Die Warnung großer Hilfsorganisationen vor privatem Engagement sei aber sinnvoll: "Es sollten auf keinen Fall Helfer ins Land strömen, die kein Netzwerk haben, die sich mit der Kultur im Land nicht auskennen, die irgendwie Reis verteilen möchten. Das hilft nicht wirklich." Dies könne lediglich in der Bevölkerung zu weiteren Spannungen führen, erklärte der plastische Chirurg, der acht Jahre lang mit seiner Familie in Nepal gelebt hat, wo er zwischen 1999 und 2008 in Nepal ein Krankenhaus für wiederherstellende Chirurgie für Brandverletzte aufbaute, Fachärzte ausbildete sowie Operationscamps in unterversorgten Gebieten durchgeführt hat.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Vier Wochen ist es jetzt her, dass jenes schwere Erdbeben in Nepal Menschen tötete, Gebäude zerstörte, das Land erschütterte. Hilfe ist auch weiterhin nötig, vor allem im Hinblick auf die nächsten Monate und den nächsten Monsun: Zehntausende sind ohne oder mit nur wenig Schutz vor Regen, es fehlt an Zelten, Decken, sauberem Wasser und medizinischer Hilfe. Und spätestens an dieser Stelle greift Dr. Andreas Settje ein: Der plastische Chirurg hat jahrelang in Nepal gelebt und eine kleine Hilfsorganisation gegründet. Man Maya Med kümmert sich schon vor dem Beben um die Leute dort, und jetzt natürlich erst recht. Gerade ist Andreas Settje aus Nepal zurückgekommen und kann uns jetzt hier in „Studio 9" berichten. Guten Morgen, Herr Settje!
Andreas Settje: Ja, guten Morgen!
Welty: Wo genau in Nepal waren Sie, wo konnten Sie helfen?
Settje: Ja, ich war natürlich in Kathmandu und bin dann mit meinen Leuten auch in den am meist betroffenen Disktrikt Sindhupalchok, also nördlich von Kathmandu, gefahren und habe mich dort einmal umgesehen in den Gesundheitseinrichtungen, in denen wir quasi vor dem Beben schon gearbeitet haben, um uns einfach erst mal einen Überblick zu verschaffen, wie es sozusagen später weitergeht.
Welty: Und wie fällt ihre Bilanz aus? Es heißt ja, dass in diesen am stärksten betroffenen Regionen 90 Prozent aller Häuser zerstört seien.
In den Dörfern sind so gut wie alle Häuser zerstört
Settje: Ja, das ist wirklich so. Also ich konnte es mir gar nicht vorstellen vorher, aber wie gesagt, sie sind also alle kollabiert, egal, durch welches Dorf man fährt. Die älteren Gebäude sind also komplett eingestürzt. Es gibt natürlich auch in der Peripherie, an den Straßen schon neuere Betonständerbauwerke, die haben das überstanden. Das ist aber in der Peripherie im Gegensatz zu Kathmandu die Ausnahme. Also dort sind wirklich extrem viele Gebäude zerstört, die UN spricht irgendwie von 500.000 Gebäuden, die vollständig zerstört sind und noch mal die Hälfte, die sehr stark beschädigt sind und wahrscheinlich abgerissen werden müssen.
Welty: Haben Sie denn dann überhaupt arbeiten können? Haben Sie also Ihrem Beruf nachgehen können und medizinisch helfen können?
Verletzte Erdbebenopfer wurden von den nepalesischen Ärzten versorgt
Settje: Ja, also ich war jetzt als Ersthelfer nicht gefragt, sage ich mal. Ich habe in der Vergangenheit einige nepalesische Ärzte aus- und weitergebildet, die waren natürlich alle fleißig. Die Masse der Verletzten wurde von den Nepalesen selber in den ersten Tagen nach Kathmandu geschafft und dort operativ versorgt. Also die Masse der Patienten wurde von nepalesischen Ärzten versorgt. Wir sozusagen als plastische Chirurgen, also das ist ja in Nepal etwas umfangreicher, das geht auch so ein bis hin in die Unfallchirurgie hinein, kümmern uns eher um die Folgezustände, also die infizierten Frakturen, Stumpfprobleme. Wir mussten also einige Stümpfe nachkürzen und besser formen, damit die Patienten dann mit Prothesen versorgt werden können, weil viele Sachen natürlich auch nur notfallmäßig gelaufen sind.
Welty: Das heißt, die Nepalesen helfen sich vor allen Dingen im Moment gegenseitig?
Koordination der internationalen Hilfe überzeugt nicht
Settje: Ja, sie sind da sehr solidarisch, und das, was ich also an internationaler Hilfe gesehen habe, hat mich nicht wirklich überzeugt, es war vieles ...
Welty: Warum nicht?
Settje: Na ja, es war vieles, ich sage mal, ein bisschen unkoordiniert trotz der vielen schönen Grafiken, die man so im Internet von der UN und anderen Organisationen sieht. In der Peripherie, ich sage mal, an Stellen, die gut mit dem Auto zu erreichen sind, hat man schon verschiedene, Rotes Kreuz und andere Organisationen, gesehen, und die hatten natürlich alle nichts zu tun dort, denn wie gesagt, die Patienten wurden ja in den ersten Tagen sofort nach Kathmandu geschafft und die sind da jetzt mehr oder weniger hausärztlich tätig. Und wie gesagt, die Koordination, das ist das, was mich am meisten stört, dass auch zum Beispiel kleinere Vereine wie unsere, dass es für die schwer ist, dann sozusagen in dieses Netzwerk reinzukommen von UN und anderen. Es ist noch sehr elitär und auch sehr bürokratisch, sodass man ... Also das fehlt mir irgendwo, also so eine Plattform, wo sozusagen alle sich Informationen holen können, über das Internet müsste es ja sehr einfach möglich sein, wo man Informationen erhält, wer wo ist, wer was macht, wo welcher Bedarf ist. Das müsste heutzutage viel einfacher und schneller gehen.
Welty: Was können Sie denn als kleine Organisation besser als die großen Hilfsorganisationen? Die gehen ja sogar noch einen Schritt weiter und warnen vor privatem Engagement, weil dadurch die Koordination eben noch schwieriger werden würde.
Helfer ohne Landeskenntnisse und Netzwerke sollten besser zuhause bleiben
Settje: Ja, es sollten auf jeden Fall keine Helfer ins Land strömen, die noch nie in Nepal waren, die kein Netzwerk haben, die sich mit, sagen wir mal, mit der Kultur und den Leuten nicht auskennen, die da einfach hinfahren und irgendwie Reis verteilen möchten. Die kommen gar nicht an die richtige Stelle. Das ist dann auch so ein bisschen, ich sage mal, willkürlich, und das hilft nicht wirklich. Ich habe jetzt eine Gruppe Amerikaner getroffen, die mit 20 Leuten irgendwie 60 Sack Reis verteilen wollten. Die habe ich auch gefragt: Was macht ihr, wenn ihr in eine Region kommt, wo es 1000 Bedürftige oder mehr gibt, und da kommt ihr mit euren 50 Säcken an? Das gibt Ärger, das gibt Probleme. Das ist sicherlich gut gemeint, aber ...
Welty: ... schlecht gemacht halt.
Settje: ... ja, zusätzlichen Ärger- und Gräuel verursachen - und damit ist dann den Leuten nicht geholfen.
Welty: Sie investieren Zeit, Geld und Können in diesem Land, in Nepal. Warum ist Ihnen Nepal eine Herzensangelegenheit?
Auch bestehende Hilfsprojekte müssen nach dem Erdbeben wieder bei Null anfangen
Settje: Ja, ich habe da mit meiner Familie über acht Jahre gelebt, meine Kinder sind dort mehr oder weniger aufgewachsen als sie noch klein waren in so einem kleinen Dörfchen außerhalb von Kathmandu, sind also extrem gastfreundlich aufgenommen worden, unsere Kinder. Man hatte zu keinem Zeitpunkt irgendwie Angst. Die konnten morgens im Dorf verschwinden, man hat sich toll um die gekümmert, und, ja, so ist einem das Land ans Herz gewachsen. Und auf der anderen Seite mache ich Sachen auch gerne zu Ende, das heißt, die Projekte, die ich damals angefangen habe. Wir sind mit so einem Krankenhausprojekt angefangen, und dann ging das über die Ausbildung, Facharztausbildung von Ärzten weiter – ich habe das Gefühl, man ist noch nicht ganz fertig, und jetzt natürlich dieses Erdbeben, das viele Sachen jetzt wieder bei null anfangen lässt.
Welty: Nichtsdestotrotz, der Chirurg Andreas Settje und seine Organisation Man Maya Med helfen nach dem Beben in Nepal. Dafür Danke und auch für dieses Gespräch hier heute Morgen in Deutschlandradio Kultur. Alles Gute für Sie!
Settje: Ja, danke schön, ich bedanke mich auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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