Nerven unter Strom

Von Michael Engel |
Es war ein Zufall am 6. November 1789, der zur Entdeckung der "tierischen Elektrizität" führte. Luigi Galvani, ein Arzt aus Bologna, sah, wie präparierte Froschschenkel zusammenzuckten, wenn Elektrizität im Spiel war. Die Versuche aus dem 18. Jahrhundert sind bis heute aktuell.
Denn noch immer werden Nervenzellen mit Elektroden verbunden, um sie elektrisch zu stimulieren. Nicht mit Blitz und Donner, sondern mit sehr kleinen Computern, die in den Körper des Patienten implantiert werden.

Im Jahre 2005 hatte Lothar Kienzler den ersten Bandscheibenvorfall. Drei weitere folgten – und heftige Schmerzen. 140 Milligramm Morphium musste der Patient täglich einnehmen. Dann endlich die erlösende Operation. Ein streichholzschachtelgroßes Stimulationsgerät wurde unter die Bauchhaut implantiert. Von dort aus führt ein Verbindungskabel zum Rückenmark. Dorthin, wo der Schmerz herkommt.

"Das externe Gerät habe ich hier immer bei mir bei. Da kann ich immer die Stärke, die Intensität einstellen, und kann auch das Gerät an- und ausschalten. Der Impuls geht dann zum Rückenmark. Da ist dann eine Elektrode und das wird dann zum Rückenmark geleitet, über das Hirn und wieder zurück."

Auf Knopfdruck – im wörtlichen Sinne - kann der ehemalige Gastwirt seine Schmerzen ausschalten. Er geht zwar durch die Schädigung der Bandscheiben am Stock, aber er kann wieder Freunde besuchen, am sozialen Leben teilnehmen. Der kleine Computer unter seiner Bauchdecke macht es möglich.

"Früher habe ich immer gedacht, mit Technik muss man ein bisschen vorsichtig sein. Aber letztendlich kann ich jetzt so sagen, ich bin froh, dass es diese Technik gibt, sonst hätte man mir gar nicht helfen können. Ich kann es nur jedem empfehlen es machen zu lassen. Ich bin froh, dass ich es getan habe, es hat mir sehr, sehr geholfen, auch auf meinem neuen Lebensweg."

Bei der Neurostimulation werden Nervenzellen mit Hilfe von metallischen Elektroden elektrisch gereizt. Erste Versuche - mit Herzschrittmachern - reichen bis in die 50er-Jahre zurück. Doch nicht nur das Herz, sondern auch die Blase und Gehirn können so erreicht werden. Wie bei Michael Krone, der an einer besonderen Form der Parkinsonschen Krankheit litt: Wie eingefroren saß er auf einem Stuhl und konnte nicht einmal mehr mit Unterstützung aufstehen. Prof. Hans-Joachim Freund vom "International Neuroscience Institute" Hannover führte mehrere Elektroden in das Gehirn des Patienten – dorthin, wo die kranken Nerven liegen.

"Ganz wichtig dabei, dass man Gefäße nicht ansticht, und das, was man nicht haben möchte, nämlich eine Blutung im Gehirn erzeugt. Sodass man an den Gefäßen vorbei, an bestimmten anderen Strukturen vorbei, zum Beispiel den Hirnkammern, an den kleinen Kern kommt. Beim Parkinson ist es der "subthalamische Kern". Der ist vier mal sechs mal acht Millimeter klein. Und den muss man treffen. Da soll die Elektrode möglichst optimal drin positioniert werden."

Sechs Stunden dauert der Eingriff. Bei vollem Bewusstsein des Patienten. Das ist wichtig, weil die Elektroden im Gehirn noch während der Operation aktiviert werden. Verschwinden die Symptome der Parkinsonschen Krankheit, dann wissen die Ärzte, dass sie an der richtigen Stelle gelandet sind. Michael Krone erinnert sich.

"Also jedem, dem man das erzählt, der sagt, um Gottes Willen, und bei vollem Bewusstsein, also das kann doch gar nicht gut gehen. Die Zeit war natürlich lange, aber man hat kein Zeitgefühl mehr, und es kommt dann auch auf das Umfeld an. Ich kann erzählen: Bei meiner OP wurde im OP wurde darüber gesprochen, wer den Toner beim Drucker nachgefüllt hat. Und dann hab’ ich erst gedacht, um Gottes Willen, habe aber nach kurzem Überlegen festgestellt: Eigentlich ist das ein gutes Zeichen. Denn wenn die sich über solche Banalitäten bei der Operation unterhalten, ist da alles im Lot. Und so war es ja auch."

Der Stimulator liegt bei Michael Krone unsichtbar verborgen unter dem Schlüsselbein. Von dort aus führen Kabel zum Gehirn, die 140 Stromimpulse pro Sekunde auf die Nervenzellen übertragen. Michael Krone bewegt sich völlig normal, jedenfalls solange das Gerät angeschaltet ist. Wenn er den Impulsgenerator abschaltet, erstarren seine Muskeln augenblicklich.

Auch Waltraud von der Osten profitiert von der Technik der "Neurostimulation". Bei ihr liegen die Elektroden an den sogenannten "Sakralnerven", die am unteren Ende der Wirbelsäule zu Blase und Schließmuskel führen.

"Ja, ich habe Darminkontinenz, hervorgerufen durch einen Darmvorfall, der extrem blutig, schmerzhaft und unangenehme war. Und durch diese Technik, also ich habe soviel Hoffnung in diese neue Technik, sodass ich denke, mal wieder ganz normal leben zu können, ohne Rücksichten auf diese Erkrankung."

"Neurostimulation" ist auch bei der Schmerztherapie erfolgreich. Hier sind es plattenförmige Elektroden, die zwischen Schädeldecke und Hirnhaut platziert werden. Durch die Reizung der Großhirnrinde wird die Wahrnehmung verändert, erklärt Prof. Dieter Hellwig von Neuroscience Institute.

"Ja, das sind Minicomputer und wir hoffen auch, dass die Computer beziehungsweise Impulsgeneratoren noch kleiner werden, sodass man auch keine Verlängerungen mehr braucht zu den Elektroden, dass sie direkt an den Elektroden angehängt werden und dann vielleicht sogar in kleine Vertiefungen am Schädel platziert werden können ohne dass man Verlängerungen im Halsbereich oder im Bauchbereich braucht."

Kabelverbindungen, die heute noch im Körper des Patienten verlegt werden müssen, sind dann nicht mehr nötig. Mittlerweile denken Mediziner an neue Therapiefelder - zum Beispiel Fettleibigkeit und Bluthochdruck mithilfe der Neurostimulation zu bekämpfen. Erste Heilversuche auch bei Menschen mit psychischen Leiden: Depressionen, Epilepsie, Zwangsneurosen und Demenz.