Neu im Kino: "Birdman"

Die fiebrige Faszination des Theaters

Der Schauspieler Michael Keaton bei der Eröffnung der 71. Filmfestspiele von Venedig.
Eröffnungsfilm "Birdman": Hauptdarsteller Michael Keaton bei den 71. Filmfestspielen von Venedig. © picture alliance / dpa
Von Stefan Keim |
Künstlerdrama, Komödie, Satire: "Birdman" mit Michael Keaton lässt sich kaum in eine filmische Kategorie einordnen. Mit neun Nominierungen ist der Film von Alejandro Gonzáles Inárritu einer der großen Favoriten bei der kommenden Oscarverleihung.
Der Soundtrack des Jazzschlagzeugers Antonio Sanchez treibt den Film "Birdman" voran. Die Musik gibt ihm eine fiebrige Atmosphäre, wie die rasante Kamera, die mal dem einen, mal dem anderen Schauspieler hinterher fliegt, durch lange Gänge, schäbige Garderoben und auf die Bühne eines New Yorker Theaters. Die Proben zu der Bühnenadaption von Raymond Carvers Erzählungen "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" geraten im Film in die heiße Phase. Die ersten Vorpremieren stehen an.
Regisseur, Textbearbeiter und Hauptdarsteller ist Riggan Thompson, gespielt von Michael Keaton. Er wurde vor 20 Jahren in Comicverfilmungen berühmt, als "Birdman". Nun will er allen beweisen, dass er ein ernsthafter Künstler ist. Deshalb macht er Theater:
"Das ist meine Chance, endlich etwas zu schaffen, was wirklich von Bedeutung ist." – "Von Bedeutung für wen? Du hattest deine Karriere, Dad, vor der dritten Comicverfilmung."
Kritik, Druck und Verachtung von allen Seiten
Riggan bekommt Druck von allen Seiten. Die allmächtige Kritikerin der "New York Times" steht ihm mehr als skeptisch gegenüber, einem Darsteller fällt ein Scheinwerfer auf den Kopf, und seine Tochter, die als seine Assistentin arbeitet, speit ihm ihre Verachtung ins Gesicht:
"Du tust das nur, weil du eine Scheißangst hast, genau wie alle anderen, dass du unwichtig bist. Und weißt du was? Du hast Recht. Du bist unwichtig. Das ist unbedeutend. Du bist unbedeutend. Also gewöhn dich dran."
Das Theater ist im Film "Birdman" ein Ort, an dem Wahrheiten ausgesprochen werden, auf und hinter der Bühne. Vier Drehbuchautoren haben an "Birdman" gearbeitet. Diesmal haben viele Köche den berühmten Brei veredelt und mit einer Vielfalt an Geschmacksnuancen angereichert. Manche Dialoge tauchen tief ein in die Emotionen, andere haben den schnellen, pointierten Biss der besten Woody-Allen-Filme.
Emotional und bissig
Eine Schauspielerin schlägt einen Ersatz für den verletzten Kollegen vor, den Broadwaystar Mike Shiner:
"O, mein Gott, woher kennst du Mike Shiner?" – "Wir teilen uns eine Vagina." – "Denkst du, er würde es machen?" – "Woher weißt du das?" "Er hat gesagt, er würde es machen." – "Ja! Frag mich, ob er Karten verkauft!" – "Verkauft er Karten?" – "Er verkauft tonnenweise Karten. Frag mich, ob die Kritiker ihn lieben!" – "Lieben ihn die Kritiker?" – "So sehr, dass sie am liebsten auf ihn wichsen würden." – "Hey!" – "Und zwar ins Gesicht." – "Nichts passiert ohne Grund."
Edward Norton erinnert als Mike Shiner an den jungen Marlon Brando. Ein method actor, eingebildet, charismatisch, der gleich die Regie an sich reißt und dem älteren Kollegen sagt, was Sache ist. Bei einer Vorpremiere schmeißt Shiner die Vorstellung, bricht eine Szene ab und meckert vor den Zuschauern über falsche Requisiten. Dann folgt ein offener Streit mit Riggan Thompson:
"Wenn das ein Schuss in den Ofen wird, verpisst du dich wieder zu deinen Studiokumpels und fabrizierst diesen kulturellen Völkermord. Jede Minute wird ein Blödmann geboren. Das war P. T. Barnums Hypothese, als er den Zirkus gründete. Und es hat sich nicht viel geändert. Und ihr wisst genau, wenn ihr einen Scheißschrottfilm nach dem anderen raus bringt, werden die Leute anstehen und bezahlen. Aber wenn du nicht mehr da bist, stehe ich immer noch auf der Theaterbühne, verdiene mein Geld, offenbare meine Seele und ringe mit komplexen menschlichen Emotionen, denn das tun wir." – "Ja, das war das heute Abend, du hast mit komplexen menschlichen Emotionen gerungen." – "Heute Abend ging´s eigentlich nur darum, ob das Stück noch lebt, ob es blutet. Das ist kein Filmstudio, Riggan, das ist New York City, und so läuft das hier."
Eitelkeiten, Machtspiele, Absurditäten
Das Kino als zynische Marktmaschine, das Theater als Ort der hehren Kunst – so einfach macht es sich Regisseur Alejandro González Inarritu nicht. Er zeigt auch die Eitelkeit, die Machtspiele, die Absurditäten der Bühnenwelt. Dennoch ist sein Film "Birdman" eine Verneigung vor dem Theater.
Michael Keaton, der in den Tim-Burton-Filmen Batman war, spielt eine der besten Rollen seines Lebens. Wütend, verzweifelnd, stets auf der Kippe zwischen der Realität und einer Traumwelt, in der er die Stimme Birdmans hört, in der er fliegen und Dinge mit Geisteskraft bewegen kann. Regisseur Inarritu lässt die Wirklichkeitsebenen ineinander fließen und schafft immer wieder Irritationen, Schocks, spannungsgeladene Momente.
Die Verführungskraft des Theaters war immer wieder ein bedeutendes Motiv in der Filmgeschichte. Jeremy Irons verfällt zum Beispiel in David Cronenbergs "M. Butterfly" einer Sängerin der Peking-Oper, die sich als Mann entpuppt. Oft wendet sich die Faszination der Bühne ins Dämonische, wie in den vielen Verfilmungen von "Das Phantom der Oper" oder der herrlichen schwarzen Komödie "Theater des Grauens", in der Vincent Price als Shakespearemime seine Kritiker dahin meuchelt.
Eine der besten Filme über das Theaterleben
Seelendramen hinter den Kulissen hat zum Beispiel Mike Leigh in "Topsy Turvy – Auf den Kopf gestellt" beleuchtet, der Geschichte des Komponistenduos Gilbert & Sullivan. Die Angst eines Bühnenstars vor dem Alter und dem Karriereende beschreibt John Cassavetes packend in "Opening Night". All diese Elemente führt nun "Birdman" in zwei Stunden zusammen, die ganze Faszination, den Wahnsinn, die absurde Komik des Theaterlebens. Ohne Zweifel ist er einer der besten Filme über das Theater, die bisher gedreht wurden.

Birdman oder Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit
USA 2014 - Regie: Alejandro González Inárritu, Darsteller: Michael Keaton, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone - 119 Minuten, ab 12 Jahren

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