Birdman oder Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit
USA 2014 - Regie: Alejandro González Inárritu, Darsteller: Michael Keaton, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone - 119 Minuten, ab 12 Jahren
Fantastisches Blockbuster-Kammerspiel
Bunt, beweglich, rotierend. "Birdman" von Regisseur Alejandro González Inárritu ist Mainstream-Kino mit Poesie und außergewöhnlichen visuellen Ideen. Der US-Schauspieler Michael Keaton feiert darin in der Hauptrolle ein sensationelles Comeback.
Im Kollegenkreis ist man sich sonst nie einig, hier schon: Der gemeinsame Jubel ist immens. Motto: Endlich einmal ein "erwachsener" Film, endlich einmal starke Charaktere, endlich einmal eine permanent reizvolle Geschichte mit hochinteressanten Menschen-Figuren. "Birdman" ist kein Produkt der belanglosen Fiktion, sondern ein packendes, faszinierendes Drama. "Superheldenkino", das sich "mit der Filmkunst" versöhnt, urteilte die "FAZ" Ende August letzten Jahres über diesen Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Venedig.
"Birdman" wie "Batman". Dieser legendäre amerikanische Comic-Held existiert seit 1939; seit 1954 tauchte er auch bei uns auf. Hollywood-Real-Verfilmungen mit ihm gibt es seit 1943. George Clooney ("Batman & Robin"/1997), Christian Bale (3 x von 2005 – 2012) sowie demnächst Ben Affleck (2016) schlüpften/schlüpfen in das Fledermaus-Kostüm. Tim Burton besetzte Michael Keaton dann zweimal für seine "Batman2-Versionen: "Batman" (1989) und "Batman Returns2 (1992). Danach hatten Tim Burton und Michael Keaton keine Lust mehr an weiteren Batman-Movies. Keaton verlor man mehr oder weniger aus den Augen und irgendwie aus dem Sinn.
Keatons sensationelles Comeback
Nun taucht Michael Keaton wieder auf: "Birdman" ist sein Triumph, sein sensationelles Comeback. Das führt hoffentlich dazu, dass er nach der Golden-Globe-Auszeichnung demnächst auch die verdiente Oscar-Trophäe bekommen wird. Immerhin erhielt "Birdman" neun Oscar-Nominierungen!
Er heißt Riggan Thomson. Riggan war eine filmische Berühmtheit im hollywoodschen Blockbuster-Betrieb. Spielte einst dreimal den Superhelden "Birdman". Danach tauchte er ab. Sackte ab. Immer wieder wird er darauf angesprochen. Ob er denn noch einmal diese Erfolgsrolle übernehmen will. Die Fans würden sehnlichst darauf warten – auch die Geldgeber. Doch Riggan (Michael Keaton) hat sich anders entschieden. Möchte sich endlich als Künstler beweisen, und zwar am Broadway als ernstzunehmender Schauspieler und Regisseur. Mit dem kreativen Wagnis, die Raymond Carver-Kurzgeschichte "What We Talk About When We Talk About Love" von 1981 ("Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden") in einer Selbstbearbeitung auf die Bühne zu bringen. Für ihn bedeuten die neuen Aktivitäten eine Art Selbst-Therapie in Sachen Geliebt- und Bewundertwerden.
Von ständigen Zweifeln geplagter Held
In zwei Wochen ist Premiere. Riggan ist ständig von Zweifeln geplagt. Kann es sein, dass er sich übernimmt? Dass er diese andere künstlerische wie intellektuelle Herausforderung gar nicht in der Lage ist zu stemmen? Zynisch reagiert sein zweites Ich darauf. Jener Birdman in ihm. Der ihn immer wieder beschimpft. Was für ein Loser er doch sei. Dass sein Stammplatz ein für alle Mal mit Birdman verbunden ist ...
Doch Riggan lässt sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Als der zweite Hauptdarsteller nach einem Unfall ausfällt, sind gewünschte Stars wie Woody Harrelson, Robert Downey Junior oder Michael Fassbender nicht zu kriegen. Also muss Riggan widerwillig Mike Shiner (Edward Norton) akzeptieren: exzentrisch, aufbrausend, mit eigenen Gedanken zum Stück und dessen Interpretation.
Riggan ist genervt. Hat viel mit sich und noch mehr mit dem "Volk" aus seinem Dunstkreis zu tun. Als da wären: Ein bei diesem irren Theater-Spielen kühlen Kopf bewahrender Produzent und Freund (Zach Galifianakis - der "Irre" aus den "Hangover"-Filmen); seine frisch aus der Entzugsklinik kommende Tochter und Assistentin Sam (Emma Stone); Ex-Frau Sylvia (Amy Ryan), seine jetzige Freundin und Bühnen-Kollegin Laura (Andrea Riseborough) und Hauptdarstellerin Lesley (Naomi Watts).
Mainstream mit Cine-Poesie
"Birdman" schaut und vor allem hört sich an wie ein Blockbuster-Kammerspiel. In dieser außergewöhnlichen Mixtur. Wie Mainstream mit Cine-Poesie. Bunt, beweglich, rotierend, dabei voller sensibler Hysterie, mit fantastischen visuellen Ideen.
Dabei foppt die magische (Hand-)Kamera: Gibt vor, wie beim Hitchcock-Klassiker "Cocktail für eine Leiche", viele lange Szenen ohne sichtbare Schnitte in einer einzigen Einstellung gedreht zu haben. Im Vorjahr bekam Kameramann Emmanuel Lubezki für "Gravity" den Oscar, in diesem Jahr darf er für seine "Birdman"-Bilder wieder mit der Auszeichnung rechnen.
Und Michael Keaton hat sich in die Champions League der weltbesten Schauspieler versetzt. Seine scharfzüngigen Konfrontationen mit dem ebenfalls grandiosen Edward Norton sind von allerfeinster Raffinesse.
Er hat "Birdman" geschaffen: Der 50-jährige mexikanische Co-Drehbuch-Autor, Produzent und Regisseur Alejandro G. Inárritu. Einer der gegenwärtig spannendsten Cineasten. Seit Werken wie "Amores Perros" (2000), "21 Gramm" (2003), "Babel" (2006) und "Biutiful" (2010) weltweit geschätzt. Hier ist ihm ein eindrucksvoll-kluger Film gelungen. Phänomenal, furios, fesselnd. "Birdman" ist einer der wirkungsvollsten und zugleich anspruchsvollsten US-Filme der letzten Jahre. Übrigens mit einem geradezu lachhaften (Hollywood-)Budget von 18 Millionen Dollar entstanden!