Neu im Kino: "Das Märchen der Märchen"

Entfesselte Augenweide

Stacey Martin liegt in roten Stoff eingehüllt auf einer Moosfläche in einem Wald.
Stacey Martin als die junge Dora in dem Film "Das Märchen der Märchen" von Matteo Garrone © Concorde Filmverleih
Von Anke Leweke |
Matteo Garrone hat in "Das Märchen der Märchen" drei Geschichten zu einer verwoben. Der Film hat durchaus eindrückliche Szenen - aber auch gravierende Schwächen. So ist die Verbindung zwischen den Erzählsträngen nicht zu erkennen. Und die Protagonisten bleiben mit ihren Gefühlen alleine.
Zunächst einmal ist dieser Film eine Wohltat, eine Augenweide. Es ist der Versuch, die fantastischen Momente eines Märchens mit Realismus aufzuladen. Wenn John C. Reilly zu Beginn von "Das Märchen der Märchen" in schwerer Montur nebst kupferfarbenem Taucherhelm mit Gitterfenstern ins Wasser steigt, sieht man nichts als trübes Wasser. Das Königshafte an Reillys Figur ist reduziert auf eine schemenhafte Kontur, die sich mit Lanze und schweren Schrittes auf ein Seeungeheuer zu bewegt.
Auch die Ausmaße dieses auf den Meeresboden liegenden Fabelwesens erahnen wir eher, als dass wir es in aller Deutlichkeit sehen, umso bedrohlicher, monströser erscheint es. Es sind solche nüchtern inszenierten und dennoch seltsam überhöhten, magischen Momente, die Matteo Garreones "Das Märchen der Märchen" von den derzeitigen hollywoodschen Interpretationen uralter Stoffe und Legenden unterscheidet, die nur die Extreme Horror oder Herzschmerz kennen.
Nun liegt es in der Natur des Märchen, das bekannte Stoffe in immer neuen Varianten weiter gegeben wurden und werden, angepasst an Zeit und Ort, an politische und soziale Begebenheiten. Was also hat Matteo Garreone, bekannt geworden durch seine düstere, fast dokumentarisch wirkende Mafiastudie "Gomorrha", an der Märchensammlung "Das Pentameron" von Giambattista Basile aus dem 17.Jahrhundert gereizt? Drei Geschichten, die in drei verschiedenen Königreichen spielen, verwoben er zu einer Erzählung.
Kein Gut und Böse
Und hier stellt sich schon die erste Frage, was verbindet das Schicksal der kinderlosen Königin mit dem der alten Schwestern, die sich nach ewiger Schönheit sehnen? Was hat der narzisstische Herrscher (Vincent Cassel) als Strongcliff mit dem naiven König (Toby Jones) von Highhills gemeinsam? Welchen Mehrwert hat die Verknüpfung dreier Stoffe, wenn der Zuschauer keine Verbindung, keine Seelenverwandtschaft zwischen den Figuren festmachen kann? Auch scheint es weit hergeholt, die Themen aktuell aufzuladen.
Man könnte von einem entfesselten Märchen sprechen, weil es bei Garreone kein Gut und Böse gibt. Vielleicht lässt sich dadurch die Gewalt schwerer einordnen, vielleicht wird deshalb der Kinobesuch nicht zur moralischen Lektion. Gleichzeitig lässt der Film aber auch seine Helden und Heldinnen mit ihren Wünschen, Sehnsüchten und auch Wunden allein.
Jedes Märchen hat seine Referenzen. Und es sind diese Bezugssysteme, die dem "Märchen der Märchen" fehlen. Was bleibt sind dennoch einige eindrücklichen Szene: Das überdimensionale klopfende Herz eines Seeungeheuers auf einem Küchentisch, die traurige Behausung eines Riesen, ein gigantischer Floh, der mit Steaks gefüttert wird.

"Das Märchen der Märchen"
Italien/Frankreich/England 2015
Regie: Matteo Garrone
Darsteller: Salma Hayek, Vincent Cassel, Toby Jones
124 Minuten; ab 12 Jahren

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