Ein Stück Nachkriegsgeschichte
Der Krieg ist vorbei, das Weiterleben verheerend. Von einem bislang weitgehend unbekannt gebliebenen Folge-Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt der Film "Wolfskinder", dessen Bewertung sich vor allem emotional, nämlich erschütternd, "ergibt".
Sommer 1946. Sie gehören zu den schlimmsten Verlierern: Tausende elternlose Kinder kämpfen in den Wäldern Ostpreußens um ihr Überleben. Wie der 14-jährige Hans (Levin Liam) und sein kleiner Bruder Fritzchen (Patrick Lorenczat), denen die sterbende Mutter die Anweisung gegeben hat, sich nach Litauen durchzuschlagen, wo es Bauern geben soll, die deutsche Kinder bei sich aufnehmen.
Hungrig, verängstigt und ratlos machen sich die Kinder auf den beschwerlichen Weg; gejagt durch störrische, unbarmherzige Einheimische sowie die sowjetische Besatzungsmacht. Unterwegs begegnen ihnen andere "Wolfskinder", mit denen sie sich zusammentun. Was folgt, ist eine unvorstellbare Odyssee durch das fremde Gebiet. Als ewiger Kampf gegen Hunger, Wetter und Krankheiten.
Und die Angst. Im Presseheft wird erklärt: Der Wolfskinder-Geschichtsverein definiert "Wolfskinder" als
"anhanglose deutsche Kinder und Jugendliche, die nach 1945 dem drohenden Hungertod im nördlichen Ostpreußen zu entgehen versuchten, dabei in außerdeutsche Zusammenhänge gerieten und ihre Herkunft durch die Annahme einer neuen Identität zeitweise oder gar dauerhaft verschleiern mussten".
"anhanglose deutsche Kinder und Jugendliche, die nach 1945 dem drohenden Hungertod im nördlichen Ostpreußen zu entgehen versuchten, dabei in außerdeutsche Zusammenhänge gerieten und ihre Herkunft durch die Annahme einer neuen Identität zeitweise oder gar dauerhaft verschleiern mussten".
Der Begriff "Wolfskinder" leitet sich von dem Ausdruck "Wolfsmenschen" ab, der bereits 1945 in Königsberg auftaucht, um Menschen zu bezeichnen, die aufgrund der widrigen Kriegsumstände nur auf die Nahrungsaufnahme reduziert und "vertiert" waren.
Enorm betroffen machende Plausibilität
Ein Film um Leid. Viel fürchterliches menschliches Leid. Entwickelt in dialogarmen Sequenzen und Motiv-Variationen zwischen Ruhe und Erbarmungslosigkeit. Die alleine für sich sprechen. Wenn die Kinder-Gesichter das Entsetzen, die Qualen einprägsam widerspiegeln. Auf dieser Flucht, auf der Dauer-Suche nach Nahrung, Wärme und Orientierung. Hier bietet das Kino keine Abenteuerstimmung, sondern blickt krass und sehr deutlich auf historisch belegte Fakten und schlimme Zustände. Deshalb ist es für mich auch Nebensache, wenn seine "Dramaturgie" mitunter hakt oder hölzern wirkt: Die Anteilnahme an diesem bisher unbekannten Stück deutscher Nachkriegsgeschichte sorgt für eine enorm betroffen machende Plausibilität. Die alles wegzuwischen vermag, was "filmisch" möglicherweise ungenügend ´rüberkommt.
Der zur Drehzeit 34-jährige Paderborner Drehbuch-Autor und Regisseur Rick Ostermann hat mit seinem Langfilm-Debüt einen starken Film geschaffen, dessen Parallelen zu heutigen Kriegswaisen auf der Welt unübersehbar wie unüberhörbar sind. Und die nächsten Nachrichten-Meldungen "anders" betrachten lassen, wenn es wieder heißt, dass irgendwo Kinder in kriegerischen Regionen alleine umherirren oder irgendwo alleine "bei uns" auftauchen. Ankommen. "Wolfskinder" existieren weiterhin. Zuhauf. Leider Gottes. Gibt der aufwühlende Film deutbar mit.
"Wolfskinder", der 2013 auf dem Venedig-Filmfestival seine Weltpremiere hatte und im Vorjahr mit dem "Friedenspreis des Deutschen Films - Die Brücke" in München ausgezeichnet wurde, gehört unbedingt zu den Filmen, die im Rahmen des Schulkinos angeboten werden sollten. Seine innere Wirkung ist immens.
"Wolfskinder" von Rick Ostermann (B + R; D 2012; K: Leah Striker; M: Christoph Kaiser, Julian Maas; 94 Minuten)