Neu im Kino

Geografische und persönliche Grenzerfahrungen

Tony (Emmanuelle Bercot) und Georgio (Vincent Cassel) in einer Szene von "Mein ein, mein alles" von Maiwenn
Tony (Emmanuelle Bercot) und Georgio (Vincent Cassel) in einer Szene von "Mein ein, mein alles" von Maiwenn © Studiocanal Filmverleih
Von Christian Berndt |
"Chamissos Schatten" zeigt Erstaunliches über ein Volk in der Arktis. In "Heart of a Dog" lernen wir den klavierspielenden Hund von Laurie Anderson kennen. "Mein ein, mein alles" erzählt von einer verhängnisvollen Beziehung. Christian Berndt über drei Kinostarts der kommenden Woche.
(Ureinwohnergesänge) "Sie sangen eine Zeitlang eine langsame Melodie. Dann opferte einer aus ihrer Reihe einen schwarzen Hund, den er emporhielt, mit einem Messerstich schlachtete und ins Meer warf."
So berichtet Adelbert von Chamisso 1816 die Begegnung mit Arktisbewohnern, die zu Ehren der fremden Besucher Opfer bringen. Der Dichter und Naturforscher war Teilnehmer einer Expedition an den Küsten Alaskas. Die Autorenfilmerin Ulrike Ottinger folgt in ihrem neuen Film den Reiserouten berühmter Forscher: "Chamissos Schatten" heißt der Kino-Dreiteiler, dessen erster Abschnitt über Alaska und die Aleuten nun ins Kino kommt. Wie immer bei Ottinger ist auch dieser Film eine literarisch-historische Reflexion. Man erlebt Alltag und Kultur der Aleuten und erfährt vom faszinierenden Ursprungsmythos dieses Arktis-Volkes, das entstanden sei, als sich die erste Menschenfrau in einen Wal verliebte:
"Als er an Land kam, verwandelte er sich in einen wunderschönen Jüngling. Sie gebar ihm viele Kinder, die ersten waren Wale, später brachte sie Menschenkinder zur Welt. Deshalb wurden in früher Zeit die Wale nicht gejagt, denn sie waren Ahnen, Brüder, Schwestern."
Auch Seeotter galten als frühere Menschen, weshalb sie nur mit allergrößtem Respekt gejagt werden durften. Das änderte sich, als Russen und Amerikaner die Inseln erschlossen und die Aleuten zwangen, für sie Tiere in Massen zu jagen. Die Aleuten verloren durch die Kolonialisierung viel von ihrer Kultur, gleichwohl aber ist der traditionelle Lebensstil des Fischervolkes erstaunlich erhalten geblieben. "Chamissos Schatten" ist ein großer Wurf geworden, die drei Stunden erfordern Ausdauer, belohnen aber mit dem sinnlich-umfassenden Blick auf eine abgeschiedene, höchst vitale Kultur.

Chamissos Schatten
Deutschland 2016 – Regie: Ulrike Ottinger, Darsteller: Burghart Klaußner, Hanns Zischler, Thomas Thieme – 177 Minuten

Von einer symbiotischen Mensch-Tierverbindung erzählt auch der amerikanische Filmessay "Heart of a Dog" von Laurie Anderson. Die Sängerin und Performancekünstlerin verarbeitet darin den Tod ihrer Mutter, ihres Ehemannes Lou Reed und ihres geliebten Hundes Lolabelle. Man erfährt, dass Anderson dem Terrier nach dessen Erblindung Klavierspielen beibrachte, sodass Lolabelle ein Wohltätigkeitskonzert für Heimtiere geben konnte:
Eine herrlich-verschrobene Szene, aber der Film ist alles andere als ein Witz. "Heart of a Dog" stellt vielmehr eine philosophische Betrachtung über Todeserfahrungen und die Konstruktion von Identität dar. Anderson erzählt szenisch, wie sie als Kind nach einem schweren Unfall in eine Kinderkrankenstation kam und dort die alltägliche Gegenwart des Todes erlebte – eine Erfahrung, die sie lebenslang prägte. Geschickt sind persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Ereignissen, etwa den Folgen von 9/11 verwoben. Die scheinbar willkürlichen Assoziationsketten ergeben in der Gesamtschau ein verblüffend kohärentes, philosophisches und politisches Porträt.

Heart of a Dog
USA, Frankreich 2015 – Regie: Laurie Anderson, Darsteller: Jason Berg, Bob Currie, Dustin Guy Defa – 75 Minuten

Auch in dem französischen Spielfilm "Mein ein, mein alles" werden die Folgen eines Unfalls zur prägenden Lebenserfahrung. Tony ist beim Skifahren gestürzt und befindet sich in der Reha. Während der erzwungenen Ruhe beginnt sie, die 10-jährige Beziehung zu ihrem Ex-Mann Georgio zu reflektieren, angefangen vom Kennenlernen in einem Club. Erstaunlicherweise entwickelte sich damals sehr schnell eine leidenschaftliche Affäre zwischen der spröden Anwältin und dem coolen Lebemann:
"Eins versteh ich nicht. Abgesehen von mir, also vor mir, da warst Du nur mit Models zusammen?" – "Hör zu, ich war noch ziemlich jung, ich war ein bisschen verrückt, ich hatte Lust, mich mit schönen Frauen zu umgeben, das hat mein Selbstvertrauen gestärkt. Das sind immer nur kurze Sachen gewesen. Ich mag lieber eine wie Dich." – "Ja, ja, ich weiß schon."
Georgio will sogar ein Kind von ihr. Und sie ist hin und weg von seinem lässigen Charme. Aber irgendwann kommen Georgios Schattenseiten zum Vorschein, er entzieht sich, führt eine Parallelexistenz aus Partys und Drogen:
"Ich kenn Dich überhaupt nicht richtig." – "Warum soll ich so sein, wie Du mich willst? Denn als Du mich haben wolltest, da wolltest Du mich genauso haben, wie ich bin."
Tony wird immer unglücklicher, aber sie kommt nicht von ihm los. Die französische Regisseurin Maiwenn erzählt "Mein ein, mein alles" als intensives Drama, das stimmig - und mit Emmanuelle Bercot und Vincent Cassel gut besetzt - das Szenario einer fatalen Beziehung rekonstruiert. Bercot wurde für die Rolle in Cannes als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Das Problem des Films liegt aber in der Figurenanlage. Von Anfang an ist klar, dass die Beziehung dieser so extrem gegensätzlichen Naturen auf Selbsttäuschung beruht. Überraschende Entwicklungen erlebt man bei den Charakteren eher nicht, stattdessen schaut man in quälender Länge dem absehbaren Desaster zu. Ausdauernd leidende Frauen scheinen gerade eine erstaunliche Konjunktur im Kino zu haben.

Mein ein, mein alles
Frankreich 2015 – Originaltitel: Mon Roi, Regie: Maiwenn, Darsteller: Vincent Cassel, Emmanuelle Bercot, Ludovic Berthillot, Louis Garrel – 126 Minuten, ab 12 Jahren

Mehr zum Thema