Neu im Kino

Klaustrophobische Dynamiken

Alfredo Castro (l.) als Padre Vidal, Alejandro Goic als Padre Ortega und Jaime Vadell (r.) als Padre Silva in "El Club"
Alfredo Castro (l.) als Padre Vidal, Alejandro Goic als Padre Ortega und Jaime Vadell (r.) als Padre Silva in "El Club" © picture alliance / dpa / Piffl Medien
Von Christian Berndt |
In dem deutschen Thriller "Das Hotelzimmer" wird eine Autorin von einem traumatischen Ereignis eingeholt. Der Dokumentarfilm "Die Gewählten" erzählt von jungen Menschen im Berliner Politikbetrieb - und der chilenische Spielfilm "El Club" von den Folgen verdrängter Verbrechen der Kirche.
"Eins, zwo, eins, zwo. Okay, können Sie mal kurz was sagen, fürs Mikro?"
Die junge, erfolgreiche Autorin Agnes Lehner sitzt in ihrem Hotelzimmer für ein Interview. Ihr gegenüber ein Journalist, der höflich beginnt, dann aber immer merkwürdiger fragt:
"Das ist doch das Schöne am Schreiben, ich kann mich in ein Leben denken, eine Welt, die nichts mit mir zu tun hat."
"Das haben Sie schon immer gerne gemacht oder?"
"Was?"
"Eine andere Identität annehmen?"
"Wie meinen Sie das?"
"Sie haben Theater gespielt, leidenschaftlich, in der Schule."
"Woher haben Sie das?"
Klaustrophobisches Zwei-Personen-Kammerspiel
Sehr schnell entwickelt sich im deutschen Film "Das Hotelzimmer" eine irritierende Atmosphäre. Der Journalist weiß erstaunliche Details aus Agnes' Leben, schließlich behauptet er, ein Mitschüler von ihr gewesen zu sein:
"Ernsthaft, ich war hoffnungslos verliebt in Dich."
"Ehrlich gesagt, ich würde das jetzt gerne fertig machen, das Interview."
Agnes kann oder will sich nicht erinnern, aber der Journalist weiß präzise Details aus einem dunklen Kapitel ihrer Schulzeit. Rudi Gauls zweiter Spielfilm "Das Hotelzimmer" ist als klaustrophobisches Zwei-Personen-Kammerspiel angelegt. Es ist unklar, wer hier wem etwas vormacht, und für Agnes wird die Situation immer bedrohlicher - bis sich das Geschehen zum Psycho-Thriller steigert.
Gaul inszeniert dieses Spiel um Fragen nach der Konstruierbarkeit der eigenen Identität dicht konzentriert. Aber zu früh fällt der Film mit der Tür ins Haus und forciert derart zugespitzt eine krimihafte Dynamik, dass nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern auch die Spannung leidet. Weniger großes Drama wäre wohl mehr gewesen.

Das Hotelzimmer
Deutschland 2014
Regie: Rudi Gaul; Mit: Mina Tander, Godehard Giese; 92 Minuten

Unter Glaubwürdigkeitsproblemen leidet der deutsche Dokumentarfilm "Die Gewählten" nicht. Regisseurin Nancy Brandt hat fünf junge, frisch gewählte Bundestagsabgeordnete über vier Jahre begleitet. Zu Beginn erlebt man die Eingewöhnung in den komplizierten Hauptstadtbetrieb, zum Beispiel beim Umgang mit der Presse. Die schillernde Grüne Agnes Krumwiede etwa wurde nach dem etwas unbedachten Kontakt mit einer Boulevardzeitung zur "sexy Miss Bundestag" gekürt:
"Da hatte ich auch so das Gefühl, Boah, diese elenden, elenden Medien, die einen dann wirklich genau in dem Moment erwischen, wo man sich gerade vorbeugt und einem ins Dekolleté fotografieren und so, dass man ständig unter Beobachtung ist. Grässlich!"
Erhellendes Porträt über den eigenartig fremden Kosmos Politik
Die völlig unterschiedlichen Protagonisten sind gut ausgewählt: Die divenhafte Grüne, der streberhaft-dauergrinsende CDU-Abgeordnete oder der agile Linke mit Kapuzenpullover verraten viel über die Milieus der Parteien.
Obwohl "Die Gewählten" viel vom wenig aufregenden Gremiensitzungs-Alltag erzählt, ist es doch verblüffend spannend, die Abläufe und den Dauerdruck so hautnah mitzukriegen. Zumal Nancy Brandt in der ereignisreichen Legislaturperiode von Finanzkrise und Fukushima gedreht hat. Und faszinierend auch die persönlichen Entwicklungen, etwa bei Daniela Kolbe von der SPD, die einen fulminanten Wandel von der spröde-unscheinbaren Anfängerin zur selbstsicheren Vollblutpolitikerin durchmacht. Ein erhellendes Porträt über den eigenartig fremden Kosmos Politik.

Die Gewählten
Deutschland 2015
Regie: Nancy Brandt; 102 Minuten

Ein ganz eigener Kosmos ist auch die Welt des chilenischen Films "El Club". Vier ältere Männer wohnen abgeschieden in einem Haus am Meer, das der Kirche gehört. Es sind Priester, die zur Buße früherer Verbrechen hier leben müssen – unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs.
Die vier fristen betreut und unbehelligt ihr Dasein, bis eines Tages ein weiterer Priester einzieht. Kurz darauf taucht dessen ehemaliger Zögling Sandokan auf, stellt sich vor das Haus und brüllt alle Einzelheiten seiner erlittenen Vergewaltigungen heraus:
Aus Scham erschießt sich der Priester mit einer Pistole, die ihm ein Mitbewohner gegeben hat. Zur Untersuchung des Falls schickt die Kirche einen Priester, Padre Garcia. Pablo Larraín hat in "El Club" eine wahre Sinfonie der Niedertracht über das System kirchlicher Verdrängung geschaffen.
Für die Isolation dieser geschlossenen Welt hat der chilenische Regisseur, der mit alten sowjetischen Kameraobjektiven filmte, die auch Tarkowskij verwendet hat, grandiose trüb-verhangene Bilder gefunden und einen Ensemblefilm inszeniert, der die Dynamik innerhalb der Gruppe mit gnadenloser Intensität beschreibt.
Der idealistische Pater Garcia versucht, den trüben Sumpf zu lichten, aber weil das Ansehen der Kirche nicht leiden darf, verstrickt er sich selbst heillos. Larraín gibt in "El Club", der auf der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären bekam, den Mechanismen von Verdrängung und Schuld eine physische Präsenz, die man so schnell nicht vergisst.

El Club
Chile 2015
Regie: Pablo Larraín; Mit: Roberto Farías, Antonia Zegers, Alfredo Castro; 98 Minuten

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