Ein Mann gegen das System
Regisseur Andrey Zvyagintsev erzählt in "Leviathan" nicht nur eine Gut-Böse-Geschichte, sondern bietet einen differenzierten Blick auf das Demokratiegebilde in Russland. Eine Ballade über hoffnungslose Moral in der russischen Gesellschaft.
"Leviathan", aus dem Hebräischen: "der sich Windende", ist der Name für ein See-Ungeheuer aus der jüdisch-christlichen Mythologie. Es enthält Züge eines Krokodils, eines Drachens, einer Schlange und eines Wals.
Thomas Hobbes, der englische Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph, wurde durch sein Hauptwerk "Leviathan" bekannt, in dem er eine Theorie des Absolutismus entwickelte: Aus der biblischen Kreatur wird die Allmacht des Staates gegenüber der hilflosen Kreatur, also des menschlichen Individuums. Ergibt: Der ewige Pakt des Menschen mit dem Teufel Staat.
Die Barentssee ist ein Randmeer des Arktischen Ozeans, gehört zum nördlichen Teil von Russland. Hier an der abgeschiedenen Küste der Barentssee herrscht ein Leviathan, ein machtbesessener korrupter Bürgermeister. In einem Jahr stehen Wiederwahlen an, da möchte er prächtig glänzen - im System, in der Öffentlichkeit, für sich. Das lukrative Grundstück mit Meeresblick, das er für sich begehrt, um als regionaler König auch äußerlich etwas vorzeigen zu können, gehört dem Mechaniker Kolia (Alexey Serebryakov), der hier mit seiner zweiten Frau Lilya und seinem Sohn aus erster Ehe, Roma, lebt.
Das korrupte Gericht spielt mit
Seit Generationen ist die Immobilie im Besitz seiner Familie. Als gute Worte mit einem (bescheidenen) Geld-Angebot nichts ausrichten, wird das politische Oberhaupt Vadim (faszinierend speckig widerlich: Roman Madyanov) deutlicher. Er setzt alle amtlichen wie inoffiziellen wie klerikalen Hebel in Bewegung, will die legale juristische Enteignung. Und bedient sich zunehmend auch direkter Gewalten-Hilfe. Von guten Kumpanen. Das korrupte Gericht macht und spielt mit. Doch Kolia hat noch ein Trumpf-As im Ärmel: Dmitri (Vladimir Vdovitchenkov), ein alter Freund aus Armee-Zeiten, der mittlerweile als erfolgreicher Anwalt in Moskau tätig ist - und mit einem Dossier aufwarten kann, das die kriminelle Vergangenheit des skrupellosen Lokal-Politikers belegt und dokumentiert. Die Fronten verhärten sich. Doch der örtliche Pate – mit einem Putin-Bild hinter sich an der Wand – kann auch mit der Unterstützung, der Absolution, in einer unheiligen Allianz mit orthodoxen Kirchenvertretern punkten, deren Leitfaden-Heuchelei die Unerträglichkeitsschmerzgrenzen erreicht. So nimmt das gott-gewollte Geschehen seinen bitteren, ekligen Verlauf.
Der kleine Mann aus dem Volk, ein Typ "Marke unbeherrschter Michael Kohlhaas", gegen das ganze verdammte korrupte System. Der am 6. Februar 1964 in Nowosibirsk geborene Drehbuch-Autor und Regisseur Andrey Zvyagintsev, der 2003 mit seinem Low Budget-Debütfilm "The Return – Die Rückkehr" beim Venedig-Festival den Hauptpreis, den "Goldenen Löwen", zugesprochen bekam und danach die international vielfach dekorierten Filme "Die Verbannung" (2007) sowie "Jelena" (Sonderpreis der Jury beim Cannes-Festival 2011) schuf, erzählt von keiner puren Gut-Böse-Geschichte, sondern bietet einen differenzierten Blick auf ein offensichtlich nur noch theoretisches Demokratiegebilde Russland, in dem sich die Menschen wie Marionetten bewegen und sich betäuben, es wird ständig extrem gesoffen, um die garstige Szenerie des Seins geduckt durchlaufen zu können. Während die Obrigkeit macht und säuisch schafft.
"Leviathan" ist eine voll an den entsetzten Kopf knallende, erschütternde Ballade über die heutige hoffnungslose Moral in der russischen Gesellschaft, wo ein arktischer Hiob (letztlich) lächerlich gegen Gier, Machtmissbrauch und Korruption aufbegehrt und damit seinen eigenen Untergang einläutet. Die grandiose Parabel über die gegenwärtige Moral innerhalb der russischen Gesellschaft ist begleitet von dieser einnehmenden landschaftlichen Schönheit hier, die über raffinierte Cinemascope-Bilder die innere Seelen-Zerrissenheit dokumentiert: eine prachtvolle, archaische Landschaft, in der Gerippe von verrotteten Fischerbooten und das gigantische Skelett eines gestrandeten Wals taumeln.
Preisgekrönt im Ausland, kritisiert in Russland
Einmal, sich tief eingrabend, werden Schießübungen veranstaltet - aus Geburtstagslust und Saufgelagelaune. Dabei wird auf Holzbilder vergangener Politiker gezielt: Breschnew, Nixon, Jelzin, auch Gorbatschow. Die ganze Spuk-Parade von gestern. Bald wird es weitere geben, ist zu vernehmen. Wenn genügend historische Distanz erreicht sei.
Der Film "Leviathan" hat etwa umgerechnet 3,4 Millionen Dollar gekostet. 35 Prozent davon kamen aus dem Etat des russischen Kulturministeriums. Von dort kommen jetzt Vorwürfe, er verunreinige die nationale Kultur. So etwas dürfe nicht mehr gefördert werden. Auf den Filmfestspielen von Cannes wurde "Leviathan" im letzten Frühjahr mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Beim 72. Golden Globe Award vor ein paar Wochen wurde er als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. Für den Oscar war er ebenfalls als bester Auslandsfilm nominiert. Diverse weitere Internationale Festival-Auszeichnungen (München, London, Indien) belegen, dass wir es hier mit einem prächtigen Ungeheuer von aktuellem Polit-Film zu tun haben, dessen nachhallende Denkwirkung spannend wie faszinierend ist. Gerade im aktuellen Blick auf das politische Weltgeschehen und Säbelrasseln. Für diese hitzige globale Diskussion um neue Welt-Regeln. Und Ordnungen.
"Die geistige Macht des Staates über den Einzelnen hat keine Grenzen", erklärt Andrey Zvyagintsev im Presseheft. Als ewiges Ausrufungszeichen. Mit viel gleichzeitiger Fragezeichen-Wut: dauerhafter Sklave oder irgendwann doch freier Mensch?