Der Kameramann ist der Star
Sebastian Schippers Film "Victoria" wurde ohne einen einzigen Schnitt gedreht. Er erzählt von den Ereignissen einer folgenschweren Disconacht in Berlin.
Es ist alles ganz einfach. Doch in der Einfachheit liegt im Kino meist die größte Gefahr. Ein paar Berliner Jungs reißen nach einem Discobesuch in der Mitte der Stadt eine junge Spanierin auf. Je länger der Abend und der Alkohol vor sich hin fließen, desto tiefer die Blicke, die sich Victoria (Laia Costa) und Sonne (Frederick Lau) zuwerfen. Aber das gegenseitige verliebte Abtasten wird je unterbrochen, als einer der Jungs "noch einen Auftrag" erfüllen muss.
Soweit, so gewöhnlich. Doch die Ereignisse dieser folgenschweren Nacht fasst Regisseur Sebastian Schipper in einer Einstellung. Ein Film wie ein Banküberfall soll "Victoria" sein: wild und hemmungslos, so wie es das deutsche Kino in seiner Ästhetik des Mittelmaßes nun mal nicht ist. Und Überraschung: In der ersten Stunde hat man das Gefühl, dass dieses Experiment aufgehen könnte, dass Schipper einen wilden Technotrip wie einst Tom Tykwer mit "Lola rennt" konzipiert hat.
Und natürlich sind die wahren Stars dieses Films nicht der Regisseur oder die Darsteller, sondern einzig und allein der dänische Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der drei Mal den ganzen Film drehen musste, der aus Autos raus- und wieder reinsprang, der seinen Figuren hinterher lief, immer das Auge am Sucher der Kamera, um die sie nicht aus dem Bild zu verlieren, um die Dramatik der Momente effizient zu reproduzieren - das ist in dieser Form in der Tat eine ganz große Leistung und kein billiger Taschenspielertrick.
Dieses Genre verlangt nach Schnitten
Das Problem des Films liegt dann eher daran, dass Sebastian Schipper dem Irrtum unterlegen ist, dass ein aus einem Guss perfekt gefertigtes Gefäß auch eine aus einem Guss überzeugende und perfekte Geschichte generiert. Doch leider wird "Victoria" das zwanghafte „Erzählenwollen" zum Verhängnis. In dem Moment, wo aus dem sommerlichen Disco-Flirt ein Thriller wird.
Dieses Genre verlangt nach Schnitten, die Ereignisse rhythmisieren, Suspense generieren und uns immer wieder neue Erlebniszustände suggerieren. Ja, auch das ist eine Erkenntnis dieses „Experiments": der Filmschnitt ist, wie es die Filmemacherin Danielle Huillet gesagt hat, das Ende einer Welt und damit natürlich auch der Beginn einer neuen. Dieser Übergang ist die Essenz des Kinos und bleibt aber in jedem noch so gut gemeinten und effizienten "One-Take"-Film am Ende auf der Strecke.
Deutschland 2015
Regie: Sebastian Schipper
Darsteller: Frederick Lau, Franz Rogowski, Laia Costa
140 Minuten
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