"Metallischer Geschmack verbrannten Plastiks im Mund"
"Welcome to Sodom" zeigt den Alltag einer Deponie in Ghana, wo der Elektroschrott Europas landet. Wir wollen das Publikum mit unbequemen Wahrheiten konfrontieren, sagen die österreichischen Dokumentarfilmer Christian Krönes und Florian Weigensamer.
Patrick Wellinski: In Ghana, genauer gesagt in der Hauptstadt Accra, befindet sich eine der größten Elektromülldeponien der Welt. Es ist einer der giftigsten Orte auf unserem Planeten und dennoch leben dort Hunderte Menschen und sie verdienen ihr Geld, indem sie unsere alten Fernseher und Handys verbrennen und so versuchen, an die kostbaren Kupferkabel zu kommen. Natürlich mit fatalen Folgen für ihre Gesundheit und die Umwelt.
Aus dem Film: "Man sagt, das Feuer sei ein Monster. Für mich ist es eine gute Sache. Es trennt die Metalle vom Plastik. Das Feuer schafft immer etwas Neues: frisches Kupfer. Und ich weiß, wie man es kontrolliert, wie man das Monster zähmt."
Porträt eines tödlichen Ortes
Patrick Wellinski: Wegen dieser toxischen Mischung wird der Ort von den Bewohnern auch "Sodom" genannt. Die österreichischen Dokumentarfilmer Florian Weigensamer und Christian Krönes haben ihren Dokumentarfilm über diesen Ort auch "Welcome to Sodom" genannt. Darin beobachten sie den Alltag der Elektroschrottdeponie. So entsteht ein Porträt eines tödlichen Ortes. Ich konnte mit den beiden Regisseuren vor der Sendung sprechen und wollte zunächst von ihnen wissen, wie sie überhaupt auf die Idee gekommen sind, einen langen Dokumentarfilm über diesen Ort zu drehen – schließlich ist der Ort doch auch regelmäßig in unseren Nachrichten präsent.
Christian Krönes Dass es bereits mediale Berichterstattung gab, war eines unserer großen Probleme in der Finanzierungsphase, wo es doch schon entsprechende Fernsehbeiträge gab. Und wir haben recht oft gehört: Warum ausgerechnet ein Kinofilm? Fernsehbeiträge spiegeln immer eine gewisse Aktualität, und wir wollten uns diesem Ort nähern über längere Zeit. Wir wollten eigentlich die ganze Dimension dieses Unortes selbst erleben, indem wir doch eine lange Zeit – über zwei Monate – dort gedreht haben, das Leben und Arbeiten an diesem gnadenlosen Ort doch für den Zuseher fühlbar zu machen.
Florian Weigensamer: Wir wollten eigentlich wissen, wie es ist, dort zu leben und zu arbeiten, und den Leuten auch näherzukommen. Das hat auch eigentlich zwei bis drei Wochen gedauert, bis die Leute dort Vertrauen gefasst haben, weil die haben sich halt gefragt: Warum kommen die wieder, was machen die da, was wollen die von uns? Wir waren über zwei Monate jeden Tag dort und konnten uns so auch ein nahes Verhältnis zu den Leuten dort aufbauen und da hat man natürlich viel mehr erfahren und viel tiefere Einblicke, als wenn man nur einen Nachmittag vorbeischaut. Das ist auch etwas, was uns die Leute dort berichtet haben, dass diese Journalisten, von denen fühlen sie sich so ein bisschen ausgenutzt oder betrogen fast, weil sie das Gefühl haben, die machen jetzt unglaublich viel Geld mit fünf Fotos von mir, und die sind ja auch vernetzt, die schauen ja im Internet und finden dann ihre Bilder, und das gefällt ihnen natürlich nicht so. Dieses Vertrauen aufzubauen hat eben wie gesagt sehr lange gedauert, dann hat das aber super funktioniert und die Leute haben sich uns dann auch ganz anders geöffnet.
Am untersten Ende der globalen Wertschöpfungskette
Krönes: Wir wollten den Menschen, die dort leben und am untersten Ende der globalen Wertschöpfungskette arbeiten, eben ein Gesicht und eine Stimme geben.
Weigensamer: Es war uns auch wichtig, nicht diese europäische Perspektive, die da immer in journalistischen Beiträgen oft erzählt wird. Sondern wir wollten Ganze umdrehen und nicht dieses Mitleidheischende. Da gibt es genauso Freude und Leid und Trauer und Ärger und wie bei uns auch. Also, dieses echte Leben, einfach.
Wellinski: Sie zeigen ja unterschiedliche Protagonisten: Da ist das Mädchen, das Eisen sammelt, da gibt es die Menschen natürlich, die die Rechner verbrennen, um an die wertvollen Stoffe zu geraten. Wie haben Sie entschieden, welche Person Sie genauer in den Fokus nehmen in Ihrem Film? Es leben ja sehr viele Menschen dort unter diesen ganz schlimmen Umständen.
Weigensamer: Also, das war natürlich auch ein bisschen Zufall. Es kommt dann darauf an, wem man begegnet, wessen Geschichte jetzt etwas Besonderes ist auch. Wir waren zwei Jahre davor, vor den Dreharbeiten, schon auf Recherche und haben dort einige Leute kennengelernt. Einige von diesen Protagonisten sind dann sogar geblieben, obwohl das ein Ort ist, wo die Leute kommen und gehen, also da gibt es einen sehr großen Wechsel auch immer. Und einige neue sind dazugekommen durch Zufall, indem man sich dort aufhält, Leute kennenlernt und dann, wenn sie ihre Geschichte erzählen, wo mir zum Beispiel der jüdische Homosexuelle aus Gambia – das war ein Zufall, den kennenzulernen und dessen Geschichte. Und diese Geschichte, das ist dann ganz klar, dass man die erzählen will oder muss auch.
"Als Weißer ein exotisches Wesen"
Wellinski: Wie lange arbeitet man daran, diese Person zu öffnen, zum Reden zu bringen, mit ihnen mitzulaufen?
Krönes: Also, das war sicher eine ganz besondere Herausforderung als Weißer in diese schwarze Community einzutauchen. Man ist als Weißer dort ein unglaublich exotisches Wesen. Ich glaube, der wichtigste Aspekt ist, dass man mit großer Empathie auf die Menschen zugeht und bereit ist, ihre Geschichten zu hören, und nicht mit einem vorgefertigten Konzept zu kommen, in dem man eigentlich die Dimension der Geschichte bereits vorbereitet hat. Nein, man muss zuhören können und auch willens sein, diesen Ort durch die Augen der dort lebenden Menschen zu erleben. Für diese Menschen ist das ein Ort voller Perspektiven, voller Lebensfreude, von unglaublicher Kreativität. Und das, was wir als negativ empfinden, eben europäischen Müll in die dritte Welt zu exportieren, ist eigentlich die Existenzperspektive der dort arbeitenden Leute, die uns auch immer wieder aufgefordert haben, sendet doch mehr von diesem Zeug, um so besser würde unser Geschäft florieren.
Wellinski: Die beeindruckendsten Szenen in Ihrem Film sind auch die, wo Sie den Alltag zeigen. Die Menschen handeln ja nicht nur mit dem Schrott, sie suchen ihn nicht nur, sie verarbeiten ihn nicht nur. Sie zeigen auch Jungs, die Musik machen, die rappen, die tanzen. Wie wichtig war es Ihnen, auch diesen Alltag zu zeigen?
Weigensamer: Das war von Anfang an wichtig, jetzt nicht nur diese tragische Geschichte dieses Ortes und dieses Mitleiderheischende eben, sondern eben zu zeigen, dass die Leute dort ja ein ganz normales Leben führen. Im Grunde leben und handeln sie nicht anders als wir, haben dieselben Ziele, dieselben Hindernisse wie wir.
Wellinski: Wir sehen die Bilder, das ist sehr beeindruckend und irgendwie auch schockierend, und trotzdem würde ich Sie gerne bitten, noch mal zu beschreiben: Wie riecht dieser Ort? Wie fühlt sich das an, wenn man da über den Boden läuft? Man hat ja das Gefühl, das ist ein fremder Planet, man kann da schwer, wenn man jetzt in Europa sitzt und diese Bilder sieht, das mit irgendwas vergleichen, wie lebt es sich, wie arbeitet man letztendlich da?
Krönes Es ist eine dystopische Gesellschaft. Ein Setting, das eigentlich Endzeitstimmung vermittelt. Ja, man geht über schwabbelnden Boden, der sich jederzeit auftun könnte, und man dort versinken könnte. Man hat Tag und Nacht eigentlich den metallischen Geschmack verbrannten Plastiks im Mund. Ja, das ist der Preis, den man zahlen muss, um eine tiefere Erfahrung dieses Ortes zu machen.
Von der Verlockung der Bilder
Wellinski: Ich habe mir beim Betrachten Ihres Films, der große Kinobilder hat, zum Teil auch schön gefilmt ist, so eine bildpolitische Frage gestellt. Wie sind Sie damit umgegangen, dass man schöne Bilder vom großen Elend herstellt?
Weigensamer: Das ist sehr schwer. Also, das ist sehr schwer, weil das natürlich sehr verlockend ist und diese Bilder eine komische Art Schönheit ja haben. Wir haben versucht, das bewusst ein bisschen zu reduzieren, weil man da sehr schnell in die Falle tappt, nur solche Bilder hintereinanderzureihen. Dieses Feuer, dieser Rauch, das hat alles eine unglaubliche Dramatik in sich und eben Schönheit auch. Wir haben uns deshalb auch entschieden, möglichst viele lange Totale zu verwenden, wo der Zuseher selbst entdecken muss. Wir wollten nicht den Zuseher bei der Hand nehmen, so wie das heute üblicherweise im Fernsehen gemacht wird - und jetzt schau her, jetzt zeige ich dir das Nahe und jetzt zeige ich es dir noch mal von der Seite und jetzt zeige ich dir das Gesicht von dem -, sondern das ein bisschen offen zu lassen für den Zuseher, selber in den Bildern Details zu entdecken. Ich glaube, da gibt es genug drinnen.
Krönes: Wir wollten in keinster Weise ästhetisieren. Es ging uns darum, nichts zu inszenieren, sondern den Menschen den Raum zu geben, ihr Leben zu leben, und mit unserer Kamera ihr Sein sensibel zu beobachten und zu dokumentieren.
Wellinski: Das ist vielleicht eine der beeindruckendsten Szenen, wenn man zwei Jungs sieht, die ein kaputtes Handy finden und durch dieses Handy scrollen. Da gibt es noch Fotos vom Besitzer, der wahrscheinlich ein weißer Mann ist, der auch rumreist. Sie wissen schon von einem anderen Leben, sie sind aber dessen bewusst, dass sie in Sodom letztendlich gestrandet sind. Sind das denn Menschen, die auch bewusst sind, dass sie hier gestrandet sind?
Krönes: Sie fühlen sich sicher nicht als gestrandet, sondern es ist der Ort der Perspektive. Es ist ein Ort, der viele Menschen aus dem ärmeren Norden Ghanas anzieht, die hoffen, in Accra und auf der Deponie eine Zukunft zu finden. Und es ist sogar ein Ort, zu dem Menschen der Nachbarländer hinkommen. Und ich hoffe, dass neben der Elektromüllproblematik, die wir thematisieren, auch die eine oder andere Überlegung beim Zuseher auszulösen, nachdem wir ja gerade in der Flüchtlingsthematik einen Höhepunkt erleben, das sind die Menschen, denen wir den Zugang nach Europa verwehren. Das sind die Menschen, die auf für uns billigste Art und Weise unsere Elektromüllprobleme entsorgen.
Weigensamer: Man muss sagen, diese Leute, wenn man die sieht, die haben jedes Recht, dort wegzuwollen und zu uns nach Europa zu wollen. Das kann ihnen niemand versagen.
Wellinski: Man bleibt ja so ein bisschen sprachlos zurück nach dem Film, weil man zum einen mit dem gesunden Menschenverstand natürlich sagen müsste, diese Deponie muss weg. Aber, wie Sie gerade geschildert haben, für viele Menschen ist das einfach auch ein Ort, der ihre Existenz irgendwie sichert oder zumindest einen Plan vorgibt, was man macht. Was bleibt jetzt?
Weigensamer: Die Deponie zuzusperren ist ja nicht die Lösung. Das ist ja ein Problem, das durch die Globalisierung entstanden ist und deswegen kann es auch nur eine globale Lösung dafür geben. Ich glaube, es würde schon reichen, wenn man beginnt, diese Länder oder diese Völker, diese Leute ernst zu nehmen und nicht auszubeuten, das wäre, glaube ich, schon der erste Schritt. Und sie ernst zu nehmen auch auf wirtschaftlicher Ebene. Da gibt es bei uns natürlich kein Interesse dran.
Krönes: Auch bei uns hat dann ein gewisses Umdenken eingesetzt. Natürlich sind wir auch mit unserer europäischen Haltung und unserem europäischen Bild in diese Produktion gegangen, die dann irgendwie ein wenig unser Denken verändert hat. Ich denke, ja, es ist unsere Aufgabe als Filmemacher, das Publikum mit auch unbequemen Wahrheiten zu konfrontieren, für die es sicher keine einfachen Lösungen gibt.
Wellinski: Florian Weigensamer und Christian Krönes über ihren Dokumentarfilm "Welcome to Sodom", der nächsten Donnerstag in unsere Kinos kommt.
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