Aus Schlampen werden Frauen
Die Professorin für Alte Geschichte Emily Wilson hat Homers "Odyssee" ganz neu übersetzt. Sie entlarvt, wie die früher meist männlichen Übersetzer sexistische Sprache in die Schrift mogelten. In welcher Tradition Wilson damit steht, ordnet die Journalistin Mirjam Kid ein.
Shanli Anwar: Die Odyssee ist das Werk der antiken Literaturgeschichte. Popkulturell viel rezipiert. Jetzt wurde es das erste Mal überhaupt von einer Frau ins Englische übersetzt. Mirjam, Homer und MeeToo, was war da los, bei den alten Griechen?
Mirjam Kid: Es geht interessanterweise nicht um das, was Homer – oder die Autoren unter dem Pseudonym Homer – selbst geschrieben haben, sondern um das, was ihm im Laufe der Jahrhunderte von seinen Übersetzern – alle Männer – da scheinbar immer wieder in den Mund gelegt worden ist.
Die Professorin für Alte Geschichte Emily Wilson ist jetzt die erste Frau die den Monumental-Text ins Englische übersetzt hat und sie war nach eigenen Aussagen geschockt darüber, wie viele frauenfeindliche Formulierungen, die so gar nicht im griechischen Original stehen, von den früheren Übersetzern in den Text hineingeschrieben worden sind.
Das hat sie diese Woche in einem Interview mit dem britischen Nachrichtensender Channel 4 öffentlich gemacht, mit konkreten Beispielen:
"Etliche Übersetzer benutzen das Wort 'Schlampe' in der Übersetzung, obwohl im griechischen Original einfach nur von weiblichen Menschen gesprochen wird, die mit den Verehrern schlafen. Es gibt dort gar kein solches Nomen und auch keine geringschätzige Wortwahl."
Konnotation von weiblicher sexueller Zerstörung hineinübersetzt
Sie führt dann noch zahlreiche Beispiele an: Etwa die Übersetzung von Robert Fagles, der Helena von sich selbst als "shameless whore", also als schamlose Hure, sprechen lässt, obwohl das Wort Hure oder Schlampe im Original-Text gar nicht vorkommt. An der Stelle steht im griechischen lediglich, dass diejenigen, die nach Troja in den Krieg ziehen, Helenas Antlitz hinterherjagen oder von Helenas Gesicht verfolgt werden. Und das habe im Original eben zum einen nichts despektierliches und zum anderen auch nicht diese Konnotation von weiblicher sexueller Zerstörung, die dem Ganzen in der Übersetzung dann hinzugefügt worden ist.
Man muss aber einschränkend dazu sagen, dass sie sich bei diesen Stellen ausschließlich auf englischsprachige Werke bezieht – in deutschen Übersetzungen findet sich der Begriff Schlampe oder ähnliches an diesen Stellen nicht. Übersetzungsveränderungen gab es aber auch hier im Laufe der Jahre. Das erklärt der Professor für Alte Geschichte an der Universität Köln, Karl-Joachim Hölkeskamp:
"Zum Beispiel würde man heute nicht mehr die Übersetzung gebrauchen, die es in den älteren deutschen immer noch gibt: Man redet nicht mehr von dienenden Weibern. Weil 'Weiber' ist im modernen Deutsch einfach pejorativ konnotiert. Aber sehr viele Passagen dieser Art kenne ich nicht." Da gibt es vielleicht auch nochmal deutliche Unterschiede zwischen deutschen und englischen Übersetzungen.
Anwar: Das heißt aber trotzdem, das Übersetzer damals immer wieder vom Originaltext abgewichen sind…
Kid: Genau. Was auch total normal ist. Eine 100%ig mit dem Originaltext identische Übersetzung gibt es nicht, kann es gar nicht geben. In der Geschichtswissenschaft sind das ja auch immer wieder interessante Momente, die methodisch verwertet werden: der Blick auf die Stellen die vom Originaltext abweichen und der Blick darauf in welcher Weise sie das tun. Das gibt dann wiederum Aufschluss über die Zeit in der eine Übersetzung entstanden ist.
Emily Wilsons Kritik zielt insofern auch nicht auf die Tatsache ab, dass es in Übersetzungen nötigerweise immer wieder Abweichungen geben muss, sondern auf die Verschleierung dieser Abweichungen:
"Wogegen ich mich wende, ist die Idee, dass man bei Übersetzungen keine Wahl hat: Nach dem Motto: ‚Da hat doch niemand eine Entscheidung getroffen, die haben einfach aufgeschrieben was da im Griechischen schon stand‘. Nein, jeder trifft Entscheidungen und in hundert Jahren werden sie dann auch wieder Entscheidungen treffen. Was in historischen Texten zu lesen ist, wird immer von der Zeit beeinflusst sein, in der sie übersetzt worden sind."
So die Odyssee-Übersetzerin und Professorin für Alte Geschichte im Interview bei Channel 4.
Das wurde schon seit Jahrtausenden so gesagt, warum sollten wir es heute ändern, ist ja ein beliebtes Argument von #MeToo-Kritikerinnen und Kritikern. Als wäre Sprache in Stein gemeißelt.
Klare Worte für Machtverhältnisse
Wer sich wissenschaftlich mit diesen Themen auseinandersetzt, weiß aber, dass vieles eben mitnichten schon seit Jahrtausenden so war, sondern im Gegenteil Gegenstand eines fortlaufenden Veränderungsprozesses ist. Und manchmal ist es eben auch nur der Blick aus der relativen Gegenwart, der die Vergangenheit so darstellt, wie es ihr aktuell am besten ins eigene Bild passt.
Anwar: Wie unterscheidet sich Emily Wilsons Übersetzung denn noch von den vorherigen?
Kid: Sie verwendet zum Beispiel klarere Worte, wenn es um Machtverhältnisse und Ungleichheit geht. In der Vergangenheit wurde etwa geschönt von Kinder-Ammen, Zofen oder dienenden Frauen gesprochen, wenn damit eigentlich Sklavinnen gemeint waren. Das ändert sie nun in ihrer Übersetzung. Dem entgegen stehen aber wiederum unglaublich mächtige Frauen-Charaktere, die Göttinnen Athene und Circe oder die Titanen-Tochter Kalypso.
Das Thema Macht wird also im Text nicht nur entlang der Kategorie Geschlecht verhandelt, sondern ist deutlich intersektionaler, deutlich vielschichtiger und schließt auch Aspekte wie Herkunft und ökonomische Voraussetzungen mit ein - wie ja auch in unserer heutigen Gesellschaft. Und darauf bemüht sie sich auch in ihrer Wortwahl hinzuweisen.
Und neben der ganzen Theorie wird sie vom Guardian, der New York Times und anderen übrigens auch noch für ihren Schreibstil gelobt: klar, modern, belebend – das sind da so die Schlagwörter.
Anwar: Würdest Du denn sagen, dass ist ein klassischer #metoo-Effekt, dass historische Werke neu aufgearbeitet und die Quellen und Originale neu unter die Lupe genommen werden?
Kid: Eigentlich nicht. Diese Art der Aufarbeitung, der Text- und Quellenkritik gibt es in den Geschichtswissenschaften eigentlich schon seit Jahrzehnten, Stichwort "gender bias". Das ist der verzerrte oder lückenhafte Blick auf Quellen, der unter anderem davon beeinflusst ist, dass die meisten Forscher in der Vergangenheit Männer waren oder dass falsche Analysekategorien verwendet worden sind, das ist schon länger Thema. Diese Bias zu hinterfragen und Quellen neu zu lesen, auch neu zu analysieren, das gehört zum gängigen quellenkritischen Instrumentarium.
"Öffentliche Debatte gelegentlich etwas krude"
Die öffentliche Debatte, die Debatte zum Thema Gender, Gleichstellung oder Sprache, die da durch die Zeitungen, das Radio, die Feuilletons tourt, ist da eher deutlich abgekoppelt von dem, was an Universitäten und in der Wissenschaftlichen schon lange Usus ist, wie auch Althistoriker Karl-Joachim Hölkeskamp bestätigt:
"Ich finde ehrlich gesagt, wenn Sie mir erlauben, das so auszudrücken, ich finde die öffentliche Debatte gelegentlich etwas krude. Das merkt man auch bei den Reaktionen, auch Twitter-Reaktionen, das fand ich zum Teil hanebüchen , wie simpel, wie intellektuell simpel gestrickt die zum Teil sind. Das entspricht überhaupt nicht dem mittlerweile sehr differenzierten Umgang mit der gesamten Problematik in den Wissenschaften, übrigens nicht nur der Geschichtswissenschaft."
Ein entscheidender Wendepunkt waren sicherlich im 20. Jahrhundert die Arbeiten von Michel Foucault und anderen Ikonen der Postmoderne, wie auch Judith Butler. Zeithistorische Bedingtheit von Aussagen von Wahrheiten, auch von Analysekategorien standen spätestens seit dann im Fokus; ebenso wie die kulturelle Konstruiertheit von Realitäten.
Wenn man so will, kann man als einflussreiche Person auch noch den Philosophen und Dekonstruktivisten Jacques Derrida mit dazu nehmen, oder wenn man noch weiter zurückgehen möchte, den Semiotiker und Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, der da eine wichtige Vorarbeit geleistet hat, schon im 19. Jahrhundert; aber der Kernwendepunkt lag schon eher im 20. Jahrhundert mit dem "Cultural Turn" und bei Foucault und den ihm folgenden. Die Neu-Aufarbeitung von historischen Texten also zwar kein neues, aber in der Wissenschaft natürlich auch kein abgeschlossenes Thema.