Die Reportage ist eine Wiederholung der Sendung vom 29. März 2020.
Zukunft in Tschernobyl
29:31 Minuten
Rund 1,5 Millionen Menschen sind seit Kriegsausbruch aus der Ostukraine geflohen. Der Staat lässt sie im Stich. Deshalb bleibt einigen nur ein Neustart in einer Region, aus der die Menschen ebenfalls einst fliehen mussten: Tschernobyl.
Langsam ruckelt der Trecker über den sandigen Feldweg, biegt dann rechts auf einen Acker und hält an. Aus der Fahrerkabine springt ein breit gebauter Mann mit kantigem Gesicht aus der Fahrerkabine. Aleksej Kuschnarenko. Mitte 40, ein Anpacker, ein Optimist. Auf ihn warten schon zwei seiner Mitarbeiter. Gemeinsam hieven sie schwere weiße Säcke vom Anhänger.
Wenig später springt die große Saatmaschine an. Behäbig zieht sie ihre Bahnen, verteilt die Buchweizensamen in der schwarzen Erde. Jenem ukrainischen Boden, der eigentlich für seine Fruchtbarkeit bekannt ist. Eigentlich. Doch liegt Aleksejs Feld keine zwei Autostunden vom ehemaligen Atomkraftreaktor in Tschernobyl entfernt. Und über den Boden zog vor 34 Jahren eine radioaktive Wolke hinweg, die blühende Wiesen und Felder verseucht hat.
"Hier hat von einem auf den anderen Tag alles geschlossen und es gab keine Arbeit. Die Leute haben ihre Häuser aufgegeben und sind weggezogen, an verschiedene Orte. Die Region ist verfallen."
Ausgerechnet dort sät und erntet Aleksej Kuschnarenko Getreide. Und schafft damit Jobs. Endlich gebe es wieder Arbeit, berichten seine Mitarbeiter. Früher mussten sie dafür weit fahren.
Der Lebensmittelladen ist zu
Nach der Arbeit sitzt Aleksej im Schatten eines Baumes, blickt auf seine Felder. Es ist Juni und am frühen Nachmittag steht die ukrainische Sonne noch immer steil am Himmel. Auf Aleksejs moosgrünem T-Shirt hat sich hinten ein kreisrunder Schweißfleck gebildet.
Aleksejs Familie ist eine von 57, die heute wieder in Basar lebt – vor der Reaktorkatastrophe waren es viermal so viel. Noch immer steht ein Großteil der Häuser leer, viele sind verfallen. Im Dorf gibt es ein Gemeindehaus, eine kleine Schule, einen großen Friedhof. Der Lebensmittelladen ist geschlossen. Verlässt man Basar, sieht man erst einmal nichts außer Feldern und Wiesen.
Basar liegt in einer der Zonen, die 1991 vom ukrainischen Staat auf Grundlage damaliger Strahlenwerte eingeteilt wurde. Bis heute regeln sie die Verteilung der Kompensationen für die Opfer der Katastrophe. In der Sperrzone, Zone 1, haben heute nur Wissenschaftler und begleitete Touristen Zutritt. In Zone 2, in der auch Basar liegt, sind Leben und wirtschaftliche Produktion offiziell noch immer verboten – inoffiziell wird beides praktiziert. Und in Zone 3, in der Aleksejs Felder liegen, ist es zwar grundsätzlich erlaubt, Landwirtschaft zu betreiben – bis vor Kurzem hat sich aber niemand für die Felder interessiert.
Einer von 1,5 Millionen Binnenvertriebenen
Aleksej ist vor fünf Jahren zusammen mit seiner Familie hergezogen. Geflohen aus dem Krieg aus der Ostukraine, nachdem das Leben dort unmöglich geworden ist.
"Ich war dort Chef eines landwirtschaftlichen Betriebes, 4000 Hektar Land, 200 Mitarbeiter, 5000 Schweine. Ich hab meinen Leuten gesagt, dass was die Separatisten da machen, ist illegal. Es ist gegen die ukrainische Verfassung. Und deswegen kamen im Juli 2014 – es war halb sechs morgens und hat stark geregnet – die örtlichen Separatisten und eine Gruppe aus Russland vorbei und haben unsere Häuser beschossen. Meins und das von meinem Partner. Wir haben nur mit Glück überlebt. Sie haben durch die Fenster geschossen, auf die Autos und wir sind durch die Hintertür rausgesprungen, ich, mein Sohn und mein Gehilfe, und konnten mit Mühe und Not fliehen."
Aleksej ist einer von etwa 1,5 Millionen Binnenvertriebenen, die seit Kriegsausbruch 2014 aus der Ostukraine in andere Teile des Landes geflohen sind. Aber warum ausgerechnet hierher?
"Ich liebe es, mit der Erde zu arbeiten, die Felder zu bestellen und daher habe ich angefangen, im Internet zu suchen, wo man Land mieten kann. Die guten Ländereien waren im Allgemeinen schon in Besitz, aber hier in dieser Zone – ich würde gar nicht sagen, wegen der Strahlung, aber weil die Erde sandig und weniger ertragreich ist – war sie daher noch nicht vergeben, man konnte sie frei mieten."
Keine Angst vor Strahlung
Günstiges Ackerland also hat Aleksej an diesen Ort geführt. Angst vor möglicher Strahlung hat er keine. Auch, weil er selbst ein Dosimeter besitzt und regelmäßig nachmisst.
"Eigentlich ist alles in Ordnung, wir trinken Wasser, sammeln Pilze, Beeren, geben die in ein Strahlenlabor und die sind alle sauber. Alles ist in Ordnung."
Fast eine Stunde lang geht es mit der U-Bahn in Kiew stadtauswärts Richtung Süden. In einem kleinen Vorort, hinter einer hohen Steinmauer, steht das Ukrainische Institut für landwirtschaftliche Radiologie. Schon kurz nach der Katastrophe haben Wissenschaftler hier begonnen, die Auswirkungen der Strahlung zu untersuchen. Seitdem haben sie zahlreiche Studien veröffentlicht.
Gerade bereitet sich die Gruppe wieder auf eine Forschungsexkursion vor. Noch heute soll es in die Sperrzone gehen. Hektisch werden letzte Ausrüstungsstücke verstaut.
"Wir fahren heute nach Tschernobyl, wir untersuchen den Stoffwechsel von Cäsium im Körper der Fische. Wir nehmen sauberen Fisch aus Kiew und stecken ihn in einen Käfig in einem verseuchten See in der Tschernobyl-Sperrzone."
Goldfische in der Sperrzone
Valery Kashparov ist ein ruhiger, geduldiger Mann. An der Wand seines Büros hängen Fotos, die ihn zusammen mit Experten auf Konferenzen zeigen oder zusammen mit seinen Kollegen in der Sperrzone, während er Proben sammelt. Durch einen langen, sterilen Flur führt er in sein Labor und bleibt vor zwei großen runden Behältern stehen. Darin hat er die Goldfische verstaut, die später in der Sperrzone in den See gesetzt werden sollen. Auf diese Weise will er herausfinden, ob die Strahlung über die Nahrung an die Fische weitergegeben wird und am Ende eine Gefahr für den Menschen darstellt.
Kollege Sviatoslav Levchuk übernimmt. Er will etwas zeigen und bleibt jetzt vor einer Wand stehen, an der eine große Karte hängt. Sie zeigt die Gegend rund um Tschernobyl in verschiedenen Rottönen eingefärbt. Je dunkler das Rot, desto höher die Belastung mit Strontium und Caesium. Basar, der Ort, an dem Aleksej Kuschnarenko lebt, ist in ein helles Rot getaucht.
"Das sind Fingerabdrücke der Kontamination, und wir können in verschiedenen Gebieten natürlich unterschiedliche Kontaminationen beobachten, wegen der Natur: anderes Wetter, andere Wechselwirkungen. Das hier ist ein recht niedriges Niveau. Natürlich höher als vor dem Unfall, aber nicht so hoch, dass es für das Leben gefährlich ist."
Heute gibt es noch etwa zehn Dörfer, in denen der Boden die Strahlung an die Nahrung weitergibt. Kartoffeln, Milch, Beeren und Pilze erhöhte Werte aufweisen. Für Selbstversorger ein echtes Problem, gilt kontaminierte Nahrung doch als ein Auslöser für Krebs.
Entwarnung in vielen Dörfern
Entwarnung gibt es dagegen in vielen anderen Dörfern. Auch in dem, in dem Aleksej Kuschnarenko lebt. Die Strahlungsdosis, die die Menschen hier über die Luft oder über die Nahrung aufnehmen, hat abgenommen, liegt inzwischen unter dem zulässigen Höchstwert. Vor sechs Jahren ist aus diesem Grund bereits die Zone 4 aufgelöst worden. Nun sollen weitere folgen – zumindest, wenn es nach den Wissenschaftlern geht.
"Wir versuchen, die Zone zu verändern. Es ist möglich, die Zonen zu ändern, weil nach Tschernobyl die Verseuchung der Zone durch einen radioaktiven Zerfall abgenommen hat. Aufgrund der Alterung der Radionuklide nimmt der Übertragungsfaktor ab, sodass es selbst auf so verseuchtem Gebiet wie in Basar möglich sein wird, landwirtschaftliche Produkte herzustellen, die unter dem zulässigen Niveau liegen."
Große Nachfrage nach Ackerland
Die Zonen, meint der Wissenschaftler, würden längst nicht mehr die Funktion erfüllen, die sie einst hatten: die Menschen zu schützen. Stattdessen würden sie oft verhindern, dass sich die Dörfer wirtschaftlich erholen. Deshalb plädieren Kashparov und sein Team dafür, dass weite Teile der Zone 2 als Zone 3 deklariert werden sollen, damit dort auch wieder landwirtschaftliche Produktion möglich ist. Der Erholung sozial und wirtschaftlich abgehängter Dörfer würde dann nichts mehr im Wege stehen. Und die Nachfrage nach Ackerland in der Ukraine – die ist eh groß.
"Es bedeutet auch Geld für die lokalen Behörden. Der Eigentümer, der produziert, muss Steuern zahlen. Das Leben wird danach besser sein, weil sie Einkommen haben werden. Alle, die ich kenne, wollen, dass sich das ändert, und wir tun unser Bestes, um sie aus wissenschaftlicher Sicht dabei zu unterstützen."
Wodka aus der Sperrzone
Ist die Region um Tschernobyl also wirklich bereit für einen Neuanfang? Immerhin kann man seit Kurzem einen Wodka kaufen, der in der Sperrzone hergestellt wird. Und auch der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert, die Sperrzone vermehrt für Touristen und Wissenschaftler zu öffnen und so das Image Tschernobyls zu verbessern.
Über 30 Jahre lang stand Tschernobyl für Warnung und für Veränderung zugleich, hat die Reaktorkatastrophe doch auch dazu beigetragen, dass Atomenergie in Deutschland vermehrt infrage gestellt wurde. Angst davor, dass die Lockerung der Zonen womöglich ein falsches Zeichen setzt, hat Levchuk keine. Im Gegenteil: Es sei genau das richtige. Nur komme es viel zu spät.
"Dark Tourism" in Prypjat
Zwei Stunden dauert die Autofahrt von Kiew ins kleine Dorf Dytjatky. Auch in Dytjatky wurden damals Menschen evakuiert – heute fahren hier Reisebusse durch den Kontrollposten in die Sperrzone. Organisierte Touren durch die Geisterstadt Prypjat, die die Arbeiter des Atomkraftwerkes mit ihren Familien überstürzt verlassen mussten, boomen seit Jahren.
Direkt hinter dem Grenzzaun qualmt schwarzer Rauch in den blauen Sommerhimmel. In einem Radius von 30 Kilometern wilder Natur ist Wadym Minsjuk Metallfabrik das erste Lebenszeichen an einem sonst verlassenen Ort. Viele Häuser stehen leer, die Ruinen der Kolchosen aus der Sowjetzeit erinnern an bessere Zeiten.
Wadym Minsjuk ist ein freundlicher Mann. Wenn er lacht, blitzen seine goldenen Backenzähne hervor. In schwarzer Jogginghose und vollgerußtem T-Shirt läuft er durchs kniehohe Gras. Vorneweg sein weiß-brauner Neufundländer Sultan. Dann geht es plötzlich nicht mehr weiter. Zwischen Wadym und der Sperrzone ragt ein zwei Meter hoher Drahtzaun in den Himmel.
"Hier ist die Zone! Und seht ihr: Das ist der Durchgang für die Stalker. Seht ihr, der Pfad geht da durch. Hier gehen die lang."
Wadym zeigt auf ein Loch im Zaun. Groß genug, dass ein Mensch hindurchschlüpfen kann. Immer wieder würden sich junge Menschen illegal Zutritt in die Sperrzone verschaffen. Genau wie die Touristen suchen sie drinnen den besonderen Kick.
Wadym kam vor fünf Jahren
Leben im Schatten des Reaktors – für Wadym ist das inzwischen Alltag: Den Weg entlang der Sperrzone geht er jeden Tag. Als er diesen Ort vor fünf Jahren gefunden hat, hatte er schon fast aufgegeben. Zusammen mit seiner Familie lebte er in Horliwka, in der Region Donezk, wo er eine Fabrik für Autobatterien leitete. Doch als dort und in der Nachbarregion Luhansk 2014 prorussische Separatisten die Macht an sich rissen, änderte sich alles. Vor allem für diejenigen, die sich wie Wadym für die Ukraine aussprachen. Tötungen, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen bestimmten von jetzt an den Alltag der Menschen. Immer mehr entschieden sich zu gehen.
"Wir haben dreimal den Ort gewechselt. Zuerst waren wir in Kostjantyniwka, danach hier und da, wir sind überall hingefahren. Wir konnten keinen Ort finden, wir haben uns hin und her bewegt und ich dachte schon: Okay, dann werde ich wohl zurück nach Horliwka gehen. Ein Jahr sind wir so durch das Land gereist, sogar ins Ausland, nach Mexiko."
Am Ende war es sein Pate aus Kiew, der ihn hierher, nach Dytjatky gebracht hat.
"Er hat mich angesehen und gesagt: Du darfst nicht in die Ostukraine zurückkehren. Ich finde was für dich. Er ist so ein guter Mensch, er hat mich ins Auto gesetzt und irgendwann sind wir hier an der Zone vorbeigefahren. Er hat mich hierhergebracht und gesagt: Hier ist alles günstig."
Geld verdienen mit dem Müll der anderen
Ein paar Sonnenstrahlen brechen sich durch das Wellblechdach der Fabrikhalle und machen den aufgewühlten Staub sichtbar. In den Ecken der Fabrik türmen sich Autoreifen, Stapel mit Flaschen, Metallschrott. Wadym steht auf dem pechschwarzen Boden, neben ihm dampft es aus einem Kessel. Das Atmen fällt schwer. Mit einer Schaufel schmeißt Mitarbeiter Roma erst Soda, dann Glasflaschen in den glühend roten Kessel, weicht dann schnell wieder vor der Hitze zurück.
"Das ist der gefährlichste Teil unserer Arbeit. Das Glas brauchen wir, damit sich die Schlacken bilden. Wir haben uns eine Technologie ausgedacht, das Glas hilft uns dabei. Die ganzen Flaschen kommen da rein. Wir sammeln einen Sack davon auf der Müllhalde und dann kommt das da rein. Das liefert uns niemand an, wir sammeln das selber. Alles, was draußen so herumliegt, sammeln wir ein. Das ist primitiv, aber wir hatten keine andere Möglichkeit und mussten irgendwie anfangen."
Wadym verdient sein Geld mit dem, was andere wegwerfen: Aus Autoreifen macht er Gas, aus Schlacken Metall, aus Holzresten Kohlebriketts. Er hat keine Wahl.
"Ich hatte alles. Mein Betrieb, viertausend Quadratmeter groß, ungefähr vierzig Leute, vielleicht sogar fünfzig haben dort gearbeitet. Ich hatte ein großes Haus, zwei Wohnungen. Ich hatte alles. Und plötzlich stehst du ohne alles da. Du hattest einen bestimmten sozialen Status und plötzlich war da nichts mehr."
14 Euro im Monat vom Staat
Vom Staat bekommt er umgerechnet gerade einmal 14 Euro im Monat. Von dem Geld soll er sich eine Wohnung mieten. "Das reicht nicht mal für eine Hundehütte", schimpft er. Die heruntergekommene Fabrik hat er für umgerechnet 1140 Euro gekauft. Seine Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen.
Vom Hof der Fabrik führt ein kleiner Trampelpfad durch hohes Gras zu einem weiß gestrichene Ziegelhaus. Hier liegt das, was Wadym seine Zukunft nennt. Der Grund, wieso er die gefährliche Arbeit in der Fabrik und die Einsamkeit, die ihn manchmal überkommt, auf sich nimmt. Gerade einmal 180 Euro hat er für die alte Schule bezahlt, die nach 1986 leer stand. Alles, was er mit der Fabrik verdient, steckt er hier rein: in neue Böden, neue Türen, ein neues Dach. Schon bald sollen Touristen hier übernachten. Ein Hostel im ehemaligen Katastrophengebiet. Doch noch gibt es viel zu tun.
"Ein Zimmer haben wir schon vorbereitet, da kann man im Sommer einziehen. Danach beginnen wir direkt mit dem zweiten, dritten. Allgemein planen meine Frau und ich, ein Zimmer zu beziehen und die anderen für Gäste zu haben. Wir wollen, dass Gäste zu uns kommen, aus der ganzen Welt."
Der Traum vom Hostel
Der Krieg hat Wadym verändert. Er wisse nun viel mehr zu schätzen, was er habe: seine Kinder, die Beziehung zu seiner Frau. Mit Hilfe des Hostels hofft er, viele neue Menschen aus dem Ausland kennenzulernen und sich so auch selbst zu öffnen.
Er überlegt nun sogar, sich für das Amt des Dorfvorstehers zu bewerben, um zu helfen, es wieder aufzubauen. Denn bisher schrumpft Dytjatky: Die Jungen sind weg, die Älteren sterben weg. 570 Menschen leben heute hier, in den vergangenen Jahren haben sich einige landwirtschaftliche Betriebe angesiedelt. Neben Wadyms Metallfabrik gibt es noch ein Sägewerk, ein Lebensmittelgeschäft, im Frühjahr eröffnet ein Hotel für die Katastrophentouristen.
Damals, als die Betriebe schließen mussten, erklärt Wadym, konnten die Menschen plötzlich nicht mehr ihrer geregelten Arbeit nachgehen. Von heute auf morgen hätten sie sich wertlos gefühlt. Viele hätten damals mit dem Trinken angefangen.
Wadym will in Dytjatky etwas bewegen. Und es damit auch denjenigen beweisen, die nicht an ihn geglaubt haben. All denen, die darauf warten, dass er aufgibt und wieder zurückkommt nach Horliwka.
Es hat fast schon etwas Ironisches, dass die Geschichte nun beide Gruppen zusammengeführt hat: die Gebliebenen, die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe, und die Zugezogenen, die sich nach ihrer Flucht hier ein neues Leben aufbauen wollen. Beide zählen sie zu den Schwächsten im Land. Und trotzdem: Ihre Geschichten sind keineswegs identisch. Das meint zumindest Wadym.
"1986, als hier die Katastrophe war und die Leute umgesiedelt wurden, gab es staatliche Programme, die Menschen haben Häuser bekommen, sie haben Geld bekommen. Wie Roma sind wir losgezogen und haben ein besseres Leben gesucht. Daher unterscheidet sich die Situation von damals, 1986, mit der von heute extrem. Die Leute haben keinerlei Hilfe."
Eine NGO hilft den Vertriebenen
Zurück in Kiew. Im Erdgeschosses einer Stadtwohnung hat die Nichtregierungsorganisation SOS Vostock ihr Büro. Seit Ausbruch des Krieges im Osten des Landes unterstützt sie die Menschen, die aus den Kriegsgebieten in andere Teile des Landes geflohen sind. Zu Beginn des Konfliktes war die Hilfsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung groß.
"Wir haben ein Netzwerk organisiert und einfach gefragt, ob es jemanden gibt, der seine Wohnung, sein Apartment für eine gewisse Zeit den Menschen aus Donezk, Luhansk und der Krim geben kann, und es gab viele Leute, die ihre Wohnung für eine Weile geteilt haben. Aber das kann kein Dauerzustand sein. Nun ist es Aufgabe des Staats, etwas für die Menschen zu tun."
Olga ist selbst Vertriebene – allerdings ist sie damals nicht aus der Ostukraine, sondern von der Krim vor den Russen geflohen. Trotzdem weiß sie nur zu gut, dass es den Geflüchteten nach über sechs Jahren Krieg längst nicht mehr darum geht, vorübergehend unterzukommen. Sie möchten endlich ankommen, ein neues Leben aufbauen und die Schrecken des Krieges hinter sich lassen.
Eine Familie zwischen den Fronten
"Im Allgemeinen haben Binnenvertriebene, die gerade erst an einen neuen Wohnort gezogen sind, ein geringeres Einkommen als an ihrem früheren Wohnort. In dieser Situation sollte ihnen eine gewisse staatliche Unterstützung gewährt werden, aber das reicht natürlich nicht aus. Der Staat zahlt einige Zulagen, es sind etwa 15 Euro pro Monat. Und etwa 30 Euro für ein Kind oder einen Rentner, das reicht nicht aus. Die Vertriebenen waren also im Grunde genommen auf sich allein gestellt, um in einer neuen Region ein neues Leben zu beginnen."
Ob sie das, was sie verloren haben, was zerstört wurde, in Zukunft je wiederbekommen – zum Beispiel in Form von Kompensationen – wird sich erst zeigen, wenn der Krieg einmal vorüber ist.
Auch Aleksej Kuschnarenko, den Anpacker und Optimisten, hat die Not nach Basar getrieben, einen Ort, den die meisten aus Angst um ihre Gesundheit meiden würden. Als Aleksej am Abend nach Hause kommt, spielen seine Kinder im Garten. Seine Frau Ewgenija ist gerade dabei, den Tisch zu decken. Zwischen Haus und Garten laufen ein paar Hühner und Gänse herum. Für Aleksej ist das hier ein Paradies – er ist angekommen, die Menschen im Dorf, sie schätzen ihn.
"Mir sagen die Einheimischen: ‚Aleksej, danke, dass Sie da sind! Jetzt können wir im Winter Getreide kaufen. Unsere Leute haben Arbeit.‘ Ich habe Maschinen – im Winter fällt hier sehr viel Schnee, wir helfen die Straßen zu räumen."
Seine Frau Ewgenija dagegen zweifelt. Ihre Schwester lebt in Moskau und traut sich nicht, sie zu besuchen. Weil in den russischen Medien ein Bild gezeichnet wird, das ihr Angst macht. Und so ist die Familie zwischen die Fronten geraten. Anders als Aleksej ist Ewgenija auch nach fast fünf Jahren noch nicht wirklich in Basar angekommen. Sie hat Heimweh, vermisst ihr altes Zuhause.
"Ich weiß nicht, früher habe ich keine Bosheiten von irgendwelchen Leuten gehört, und hier, naja, irgendwie ist es hier nicht so. Vielleicht weil es einfach nicht Zuhause ist. Zu Hause ist es immer besser."
Trost finden im Glauben
Nicht weit von Aleksejs Haus steht eine über 200 Jahre alte, in den Nationalfarben blau und gelb gestrichene Holzkirche. Einen Gottesdienst gibt es längst nicht mehr. Seit Aleksej hier lebt, besucht er die Kirche regelmäßig. Das mit dem Glauben, sagt er, habe bei ihm erst mit dem Krieg begonnen.
"Mittlerweile bin ich wieder ruhig, mir geht’s gut, ich kann mit einem Lächeln einen Witz erzählen, aber als wir hierher gekommen sind, hat mein ältester Sohn noch angefangen zu zittern, wenn ein Löffel runtergefallen ist. Die Hauptsache ist, dass wir überlebt haben, versteht ihr?"
Der Holzboden der Kirche ist mit alten Teppichen ausgelegt, die Fenstern sind mit dichten Stoffgardinen verhangen, sodass kaum Tageslicht hineinfällt. An den Wänden alte Ikonenbemalungen. Sonst ist alles ganz schlicht gehalten. Behutsam schreitet Aleksej zum Altar, bekreuzigt sich. Dann zündet er mit dem Feuerzeug eine Kerze an.
"Das ist irgendwie ein spirituelles Gefühl. Der Mensch gesteht sich nicht immer alles ein, irgendwelche guten Sachen, irgendwelche schlechten Sachen. Wenn ich mit Gott spreche, wenn du alles mal aussprichst, dann verschwindet das Negative und du bekommst sogar einen Rat. Warum ist es hier ruhig? Hier wirst du eine Einheit mit dir selbst, mit deinen Gedanken, mit deinem Kopf und du überdenkst das Leben."
Ein Leben an einem Ort, aus dem die Menschen einst fliehen mussten. Der aber für Aleksej und Wadym vor allem eines bedeutet: Zukunft.