Christa Wolf: "Kein Ort. Nirgends"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
110 Seiten, 17,95 Euro.
Das Scheitern einer drängenden Generation
Vor 85 Jahren wurde die Schriftstellerin Christa Wolf geboren. Zu Lebzeiten wurde sie nicht müde zu betonen, wie sehr sie die DDR geliebt habe. "Kein Ort. Nirgends" war 1979 ihre literarische Antwort auf eine extreme kulturpolitische Zäsur.
Schreiben bedeutete für Christa Wolf, intensiver in der Welt zu sein, in einer konzentrierten Form zu denken und zu sprechen. Ihre Prosa verstand sie als "authentische Sprache der Erinnerung" und sie prägte den Begriff der "subjektiven Authentizität", mit dem sie - als eine Art vierte Dimension - ihre Anwesenheit im Text signalisierte. Mit ihren Erzählungen, Romanen und Essays reagierte die Autorin auf die Diskurse der Zeit.
Die 1979 erschienene Erzählung "Kein Ort. Nirgends" ist ihre literarische Antwort auf eine extreme kulturpolitische Zäsur. Als 1976 dem Schriftsteller Wolf Biermann während eines Aufenthalts in Westdeutschland die Staatsbürgerschaft entzogen wird, gehört Christa Wolf zu den Erstunterzeichnern einer Petition, in der gegen seine Ausbürgerung protestiert wird. Der erste Satz dieser Petition liest sich wie ein Brückenschlag zur eigenen Schreibsituation: "Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein".
Literarischer Gesprächsraum
Angesichts der aktuellen kulturpolitischen Misere entsteht ein literarischer Gesprächsraum, den Christa Wolf in die Zeit der Romantik verlegt. Anhand einer "kleinen progressiven Gruppe" von Intellektuellen diskutiert sie in Form von Prosa und Essays das Scheitern einer auf Veränderung drängenden Generation.
"Kein Ort. Nirgends" führt in das Jahr 1804. Der Ort des Geschehens ist Winkel am Rhein. Es ist die Zeit der literarischen Salons, in denen Schriftsteller, Wissenschaftler, Staatsbeamte um eine Kultur des Gesprächs bemüht sind. Wie im Traum bewegen sie sich durch eine Landschaft, die windstill erscheint. Es ist die Zeit nach der Französischen Revolution und damit der zerschlagenen Utopien. Unter den Anwesenden befinden sich die Brentanos, der Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny, der Naturphilosoph Christian Nees von Esenbeck, der Arzt Georg von Wedekind.
"Erwünschte Legende"
An der Peripherie des Geschehens wandeln die eigentlichen Akteure, zwei literarische Vorläufer der Autorin: der Dichter Heinrich von Kleist (1777-1811) und Karoline von Günderrode (1780-1806), die unter dem Pseudonym "Tian" Gedichte, Prosa und philosophische Abhandlungen veröffentlicht. Im Gespräch kommen sie sich nah und erkennen im anderen sich selbst. Beide sprechen aus einem gesellschaftlichen Abseits heraus. Während die Welt von Philistern mit kalter Notwendigkeit vermessen wird, sehnen sie sich danach, die ihnen gesetzten Grenzen zu überwinden.
Das Treffen der beiden Dichter bezeichnet Christa Wolf als "erwünschte Legende". Sie basiert auf einer Fiktion, um – in Analogie zur eigenen Situation – zu zeigen, wie sehr sich Kleist und Günderrode als "Fremdlinge" im eigenen Land fühlen.
Mit dem Satz: "Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt", gesellt sich die Autorin zu ihnen und geht zugleich über deren selbstgewähltes Schicksal hinaus.