Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim
Neuausgabe mit Register und Glossar
Nachwort von Michael Brocke
Manesse Verlag, Zürich 2014
780 Seiten, 29,95 Euro
Auch für Agnostiker geeignet
Martin Buber setzte sich zeitlebens für die Verständigung von Christen und Juden ein und sammelte "Die Erzählungen der Chassidim" jahrzehntelang. 1949 erstmals erschienen gibt es nun eine Neuausgabe dieses Weisheitsbuchs der gläubigen Ostjuden.
Einem Zaddikim ist es gegeben, von einem Ende der Welt zum andern und in die Seelen zu schauen, und als er die Fülle des Übels erblickt, erschrickt er und bittet, dass man ihm diese Gabe nehme. Man beschränkt das Sehen auf vier Meilen in der Runde, und trotzdem hält der Zaddikim die Augen sieben Jahre lang geschlossen, wenn er nicht betet und lernt, wovon die Augen schwach und kurzsichtig werden. Ein anderer Zaddikim weiß: "Ein Mensch, dem nicht jedem Tag eine Stunde gehört, ist kein Mensch." Und ein dritter, der große Maggid, so erzählen sich seine Schüler nach seinem Tod, ging bei Sonnenaufgang zum Teich und verweilte dort, um das Lied der Frösche zu lernen, mit dem diese Gott preisen. Leicht, wissen die Schüler, sei das beileibe nicht.
Seltsame, schrullige, anrührende, manchmal unergründliche und auch einige banale Geschichten versammelt Martin Buber in "Die Erzählungen der Chassidim". Die Neuausgabe der 1949 erschienenen Sammlung bietet die Gelegenheit, das berühmte, aber wenig gelesene Weisheitsbuch der armen und gläubigen Ostjuden zu entdecken.
Der Chassidismus entstand 17. Jahrhundert als Reaktion auf den Zusammenbruch der messianischen Hoffnungen in Polen, Litauen und Galizien. Die Chassidim, die Frommen, Begeisterten, scharten sich nun um Zaddikim, um die Gerechten, Bewährten. Die Zaddikim vermittelten als ekstatische Beter sowie praktisch gesinnte Helfer der Gläubigen zwischen Himmel und Erde, Geist und Natur, Gott und Mensch. Sie trieben keine Askese, sondern wandten sich voller Freude und Begeisterung der von Gottes Licht erhellten Welt zu. Sie erhoben die Gläubigen durch Handlungen und Predigten, und sie unterrichteten Schüler, oft Söhne und Enkel, die ihrerseits Zaddikim wurden und so Dynastien bildeten.
Leben und Lehren der Gerechten
Diese dynastische Struktur zeichnet Buber nach: Er ordnet die "legendären Anekdoten", die von Leben und Lehren jeweils eines Gerechten erzählen, nach den gut 50 Zaddikim, die auf Baal-Schev-Tow, den Gründer des Chassidismus, folgten. Die Unterschiede im Glauben treten aus den Anekdoten, Lehrsprüchen, Gleichnissen, Gesprächen über Alltagsereignisse und Auslegungen von Bibelstellen kaum hervor. Sie lassen sich jedoch dem ausführlichem Vorwort Martin Bubers entnehmen, der sich zeitlebens für die Verständigung von Christen und Juden einsetzte und „Die Erzählungen der Chassidim“ mehrere Jahrzehnte sammelte und bearbeitete.
Manche theologische Spitzfindigkeit ist in den Erzählungen gut versteckt. Sie locken mit Kürze, einer oft durch Buber erzeugten elliptischen, auf eine Pointe zulaufenden Zuspitzung sowie beständigen Überraschungen. Der wahre Glaube verbindet das Naheliegende mit dem Fernen und taucht alles in ein neues Licht: Die Zaddikim sind große Umwerter. Das Volk Israel sei in großer Not? Nun, weiß der große Maggdi: "Im Himmel sehen wir: Alles, was euch ein Übel dünkt, ist ein Werk der Gnade."
Der heitere Grundton der Erzählungen rührt nicht nur von mancher Schrulligkeit der Zaddikim her, die im Christentum ohne Vergleich sind – das Leben der Heiligen ist strikt antiprofan. Sondern vor allem von einer alle Geschichten durchziehenden Zuversicht, dass Erlösung möglich sei. Und weil Buber die häufigen, stereotypen Nennungen des "Heiligen, Er sei gepriesen", und des "Namen, gesegnet sei Er", durch "Gott" ersetzt oder gleich ersatzlos gestrichen hat, sind "Die Erzählungen der Chassidim" auch für Anhänger anderer Glaubensrichtungen, sogar für lebensbejahende Agnostiker ein Quell der Freude.