Aimé Césaire: "Über den Kolonialismus"
Kommentiert und aus dem Französischen übersetzt von Heribert Becker
Alexander Verlag, Berlin 2017
120 Seiten, 12,90 Euro
Fanfare der Unabhängigkeitskämpfe
Aimé Césaire aus Martinique kämpfte als Schriftsteller und Politiker gegen koloniale Machtverhältnisse. Seine "Rede über den Kolonialismus" von 1950 wurde zur zentralen Kampfschrift. Die kommentierte Neuausgabe hat auch Bezüge zur Gegenwart - so thematisiert der Text auch die Folgen des Kolonialismus.
Aimé Césaires "Rede über den Kolonialismus" wurde niemals gehalten. Aber kaum war sie 1950 im Druck erschienen, verbreitete sie sich über die Welt, wurde unendlich oft zitiert und in viele Sprachen übersetzt: Sie wurde zur zentralen Kampfschrift gegen den Kolonialismus, zur Fanfare der Unabhängigkeitskämpfe. Frantz Fanon, ein Schüler Césaires, ließ sich davon zu seinem antikolonialen Aufruf "Verdammte dieser Erde" inspirieren.
Es gibt heute kaum noch Kolonien. Martinique, wo Aimé Césaire 1913 geboren wurde und 2008 starb, ist heute ein gleichberechtigtes französisches Übersee-Departement. Dass es so kam, hat die Insel weitgehend Césaire zu verdanken, der als ihr Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung saß.
Er kam im Jahr 1931 mit einem Stipendium nach Paris, wo er an der Eliteschmiede ENA studierte. Gemeinsam mit anderen Studenten, darunter Léopold Senghor, dem späteren Präsidenten des Senegal, begründete er die Bewegung der Négritude, die er als ein "Aufflammen von Selbstgefühl" definierte, als Wissen um das Anderssein der Schwarzen, der Sklaven-Nachfahren, der Kolonisierten. Als Teil einer durch den europäischen Imperialismus zerstörten Gesellschaft.
Nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigt
In seiner Rede bezeichnete er Kolonien schlechthin als "Brückenkopf einer Zivilisation der Barbarei", die Kolonisierung als eine "Verdinglichung von Macht", die sich im Kontakt zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten etabliert. Der von den Weißen behauptete Humanismus sei im Hinblick auf die Kolonien nur eine Herrschaftsattitüde. Der deutsche Nationalsozialismus, so Césaire, sei für die Europäer deshalb so schockierend gewesen, weil er sich gegen Weiße gerichtet habe. Was der europäische Humanismus dem Nazitum nicht verzeihe, sei "nicht das 'Verbrechen' an sich, das 'Verbrechen am Menschen' (...) nicht 'die Erniedrigung des Menschen an sich', sondern dass es das Verbrechen gegen den weißen Menschen ist, dass es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren".
Im französischen Kontext war das eine unerträgliche Aussage und sorgte prompt für lautes Wutgeheul in der Nationalversammlung. Doch er bedachte auch die Folgen des kolonialen Denkens und Handelns für die Zukunft; und da wird seine Rede für heutige Leser noch einmal interessant: Die Barbarei des Kolonialismus schlägt als eine neue, moderne Form der Barbarei auf Europa zurück. "Gewalt, Maßlosigkeit, Verschwendung, Profitgier, Bluff, Herdenmenschentum, Dummheit, Vulgarität, Unordnung" unter der Ägide der Weltmacht Amerika sagte er voraus. "Seht ihr nicht (...) die grandiose Fabrik, aber für Domestiken (...) die nagelneue Maschine, aber zum Zerquetschen, zum Zermalmen, zum Verdummen der Völker?"
Man könnte, und vielleicht sollte man, über den Zusammenhang zwischen den alten Strukturen weltumspannender Herrschaft und heutigen Strukturen namens Google, Apple und Facebook nachdenken.