Henrik Wergeland: "Im wilden Paradies. Gedichte und Prosa"
Aus dem Norwegischen von Heinrich Detering
Wallstein Verlag, Göttingen 2019
217 Seiten, 22 Euro
Provokanter Wegbereiter der Moderne in Norwegen
06:56 Minuten
Mit seiner Poesie revolutionierte Henrik Wergeland die Dichtung. In Norwegen gilt der 1808 geborene Autor als Nationalheiliger. Die Neuausgabe des Bandes "Im wilden Paradies" zeigt, wie modern Wergelands Werk auch heute noch ist.
Er war ein munterer Zecher und Raufbold, Pfarrer ohne Gemeinde, Metaphysiker, Pantheist, radikaler Demokrat, Dichter und Journalist, ein provokanter Außenseiter, immer wieder auch Ziel von Spott und Gelächter: Henrik Wergeland, geboren 1808 in Christiania, das später Oslo heißen sollte, gestorben daselbst mit nur 37 Jahren. Erst während seines langen Todeskampfes ahnten die Menschen, wer hier von ihnen ging. Heute ist Wergeland eine Art Nationalheiliger. Für den zeitgenössischen Autor Erik Fosnes Hansen hat er den Grund für die selbstständige norwegische Sprache gelegt, für Knut Hamsun war er schlicht "der Riese".
Norwegen ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und im Vorfeld erscheint nun "Im wilden Paradies", ein Band mit Gedichten und Prosa von Henrik Wergeland. 1995 hatte erstmals der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering Gedichte von Wergeland ins Deutsche übertragen, dies ist nun eine, auch um Prosatexte erweiterte, kommentierte Neuausgabe des damaligen Bandes.
Ein selbstbewusster Provokateur
"Ich selbst" heißt das erste Gedicht. Es ist zugleich auch Wergelands erster ausschließlich in freien Versen geschriebener Text. Ein reimloses Langversgedicht, in dem der Autor sich und seine Poesie selbstbewusst positioniert, mit dem er inhaltlich und ästhetisch zum Provokateur wurde und der jungen norwegischen Dichtung den Weg in die Moderne wies, bevor es sie überhaupt gab.
"Ich schlechtgelaunt, ‚Morgenblad‘? Ich der ich nur einen Strahl der Sonne brauche, / um laut herauszulachen aus einer Freude, die ich mir nicht erklären kann?... / ich sollte mir auf eine schlechte Zeitung hin eine Sekunde mit Ärger verderben lassen? / Es wäre wie himmelblaue und rosenrote Schmetterlinge totzuschlagen."
Radikale Selbstbehauptung, Subjektivität, Aufbruch, und Freiheit gegenüber ästhetischen Konventionen – damit begründete Wergeland tatsächlich eine neue Form der Dichtung, die dann von Walt Whitman vorangetrieben und Jahre später mit Baudelaires Prosagedichten den Beginn der Moderne markiert.
Anklänge an Gottfried Benn
"Welch feingeformte Hirnschale, die fortgerollt ist unters Laub! / Sie muß einer jungen Schönheit gehört haben. Über ihr schloß / sich der liebliche Busch mit einem Laut wie von vielen Seufzern, / als wolle er sie von neuem begraben vor der Menschen und / Hunde Blick."
Da ahnt man den jungen Gottfried Benn, und es schimmert im Fortgang des Gedichtes Edgar Allen Poe auf. Wergeland verschmilzt romantische Traditionen mit der Projektion seelischer Zustände, bedient sich der Ode als Form, um sie immer wieder mit Alltagssprache zu brechen. Er kann selbstironisch sein und spöttisch, ist experimentierfreudig und empathisch. Alpträume, Erotik, Tod, Naturempfinden und gesellschaftliches Engagement kennzeichnen seine Lyrik ebenso wie der unbedingte Anspruch auf dichterische Autonomie.
"Im wilden Paradies" stellt einen Dichter vor, dessen literarisches Schaffen ungemein vielfältig war. Wergeland, der "entromantisierte Romantiker", war kein abgehobener Schreiberling, sondern wollte gesellschaftlich wirken. Er schrieb auch Kindergedichte, Lesebücher für Bauern, ein Gesangsbuch für Seefahrer. Er machte eine Zeitung für Arbeiter, setzte sich für die Rechte von Juden ein, beschrieb die Lebensbedingungen von Prostituierten.
Viele seiner Gedichte liest man mit Staunen: Wie, so frisch und bald 200 Jahre alt?