Hebamme für Musik
Es gehört zu den "Big Five" der Orchester in den USA: das Boston Symphony Orchestra. Neuer Musikalischer Direktor wird nun der 35-jährige Lette Andris Nelsons. Er könnte sich für das Orchester als idealer Partner erweisen.
Es gibt vermutlich in Amerika keine bessere Bühne für einen Dirigenten, der mit großen Erwartungen im Gepäck angereist ist, als das Sommerfestival in Tanglewood. Von den tausenden von Konzertbesuchern sitzen die meisten mit Picknickutensilien gemütlich auf dem Rasen. Die Stimmung ist entspannt. Und das Wetter warm. So wie an diesem Freitag im Juli, als Andris Nelsons' erster großer Auftritt mit dem Boston Symphony Orchestra anstand.
Er hatte Antonin Dvořáks Violinkonzert ausgewählt. Und für den zweiten Teil des Programms dessen 8. Sinfonie. Und wirkte von Anfang an so animiert und engagiert, wie man ihn kennt. An seiner Seite: Anne-Sophie Mutter, die schon mehrfach mit dem 35-jährigen Letten zusammengearbeitet hat:
"Er hat eine unglaublich leidenschaftliche und direkte Art zu dirigieren, zuzuhören und zu begleiten. Es ist ein – noch – für einen Dirigenten junger Mann, der unglaublich wissbegierig ist. Ich glaube nicht nur, sondern ich bin fest davon überzeugt, dass er ein langes und bedeutendes Leben in der Musik vor sich hat."
Nelsons’ offizieller Amtsantritt als Musikalischer Direktor des Boston Symphony Orchestras ist erst für den September geplant, nach dem Ende der Sommersaison in Tanglewood. Aber die Weichen sind gestellt. Und die Voraussetzungen sind ideal, sagt Andris Nelsons:
"Die beste Konzerthalle in den USA, eine der besten auf der Welt. Ein großartiges Orchester mit einer großartigen Tradition."
Boston denkt anders
Groß sind aber auch die Ansprüche. Denn Nelsons übernimmt ein Orchester, das in den letzten Jahren ziemlich auf der Stelle getreten ist. Der entscheidende Grund: die lange Erkrankung seines Vorgängers James Levine. Mit dem Letten kommt das BSO aus diesem Stillstand heraus und kann wieder neue Projekte angehen. Auch solche, die vor allem aus Marketing-Überlegungen wichtig sind. Wie etwa die große Europa-Tournee, auf der man auch in Deutschland Station machen wird.
Die Aufbruchstimmung ist das eine. Das andere ist Nelsons Sinn für die Tradition des Orchesters. Dessen Geschichte ist geprägt von höchst unterschiedlichen Charakteren und sehr unterschiedlichen Einflüssen. Sei es vom Russen Sergei Kussewizki, dem Elsässer Charles Münch oder zuletzt über 20 Jahre lang vom Japaner Seiji Ozawa. Gefragt, welche Aufnahme aus diesem riesigen Archiv ihm am stärksten im Gedächtnis hängen geblieben ist, fällt Nelsons spontan dieses Werk von Maurice Ravel ein: Daphnis et Cloé von Charles Münch, Suite Nummer 2:
"Kopieren kann man das nicht. Wir bewundern alle Kleiber oder Karajan oder Jansons und wollen Musik auf ihrem Niveau verstehen. Und wir können uns die Aufnahmen des Boston Symphpony Orchestras anhören und versuchen das gleiche Gefühl zu erzeugen. Ich finde es wichtig, das zu versuchen. Aber man kann es nicht wiederholen."
Es ist eher unwahrscheinlich, dass andere Orchester in den USA – inklusive der anderen vier der sogenannten "Big Five" in New York, Chicago, Philadelphia und Cleveland – einen solchen Schritt gewagt hätten. Nicht in einer Zeit wachsenden wirtschaftlichen Drucks, in dem die Gehälter der Orchestermusiker massiv gekürzt werden. Boston denkt anders, sagt Mark Volpe, der geschäftsführende Direktor. Und das nicht nur, weil man die Verpflichtung von Nelsons gar nicht als Risiko betrachtet:
"Er ist ein wirklich großartiger Dirigent. Aber wenn es jemals einen Zeitpunkt gegeben hätte für einen jungen Dirigenten mit enormen Potenzial, dann jetzt."
Weder Diktator noch Kapitän
Das Boston Symphony Orchestra steht solide da, sagt Volpe. Es ist seiner Einschätzung nach das wohlhabendste Orchester der Welt - mit einem Stiftungskapital von 460 Millionen Dollar - und hat keine Not, das Jahresbudget von etwas mehr als 80 Millionen Dollar zu bestreiten. Aber auch ein solches Unternehmen kommt nicht darum herum, sich intensiv um Vermarktung und Präsenz im öffentlichen Bewusstsein zu kümmern. Insbesondere nachdem ein klassischer Kanal – der Tonträgerverkauf in Plattenläden – weggebrochen ist. Umso wichtiger ist die Tournee-Aktivität und sind neue Projekte in Verbindung mit den digitalen Möglichkeiten des Internets, mit denen man andere Schichten für die Arbeit des Orchesters und zwar weltweit interessieren kann.
Nelsons, der bereits in vielen Ländern in Europa gewirkt hat, darunter von 2006 bis 2009 als Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie in Herford, könnte sich in dieser Konstellation als idealer Partner erweisen. Wie er dabei seine Ideen in den Diskussionen mit den Musikern in Boston durchsetzen wird, wird sich zeigen. Er sei kein Diktator, sagte Nelsons im Gespräch. Nicht mal so etwas wie der Kapitän eines Schiffes. Wohl eher so etwas wie eine Hebamme.
"So wie in der Natur, wo eine Geburt ja sowieso passiert. Du erschaffst das nicht, aber du hilfst und störst nicht und sorgst für die Umstände, dass etwas losgelassen wird."
Wichtig sei nur, dass die Musik am Ende so klingt, sagt Nelsons, als ob sie erst gestern komponiert wurde.